100-Seiten-Bücher – Teil 76
Wilhelm Genazino: »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« (1996)

Berlin, 12. August 2013, 10:43 | von Cetrois

Eigentlich hätte ich gerne mit der Rezension von Paul Watzlawicks »Anleitung zum Unglücklichsein« begonnen, hätte ich doch mit der Anekdote aufwarten können, dass uns die Verfilmung dieses Werks vor unserer damals noch kölnischen Haustür einmal einen autofreien Sonntag beschert hat, dazu die gelangweilte, ponchotragende Johanna Wokalek und einen schlappohrigen Filmhund, der stundenlang an der Aufgabe scheiterte, einen Zebrastreifen zu überqueren.

Allerdings wurde Watzlawicks Ratgeber im 100-Seiten-Projekt schon die gebührende Aufmerksamkeit zuteil und außerdem habe ich weder das Buch gelesen noch den Film gesehen. Gesehen habe ich am Wochenende nach Jahren mal wieder Christopher Nolans »Memento«. Anders als Hauptdarsteller Guy Pearce tätowiert sich W. in W. Genazinos Briefroman »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« die Erinnerungen nicht mit Kugelschreibertinte auf die Brust, sondern schreibt sie, vermutlich mit Füllfederhaltertinte, an seine Freunde, die mit ihm alt geworden sind.

Genazino sind einige Inkonsistenzen anzukreiden: Zum Beispiel schildert W., wie der Kellner eines italienischen Cafés jedes Mal zusammenzuckt, wenn seine Gäste »Fleischwurst mit Cappuccino und Rippchen mit Kakao« bestellen (S. 36) – selbst dieses Mindestmaß an kulinarischem Feingefühl darf man jedoch vom Kellner eines italienischen Cafés, das allen Ernstes Fleischwurst und Rippchen führt, plausiblerweise gar nicht erst erwarten.

Davon abgesehen sind Genazino aber eine Vielzahl genauer und oft anrührender Beobachtungen gelungen: Vom Wind etwa, der unter das Leichentuch eines Eisenbahnselbstmörders fährt, der wie so viele den Tod auf der Strecke von Bonn nach Köln gefunden hat, auf der ich damals, erinnere ich mich jetzt, pendelnd zum ersten Mal »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« las.

Länge des Buches: ca. 132.000 Zeichen. – Ausgaben:

Wilhelm Genazino: Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996. S. 5–126 (= 122 Textseiten).

Wilhelm Genazino: Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2000.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

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