100-Seiten-Bücher – Teil 70
Fleur Jaeggy: »Die seligen Jahre der Züchtigung« (1989)

Berlin, 29. Mai 2013, 17:55 | von Josik

Direkt aufs Cover der Taschenbuchausgabe hat der Verlag folgenden Blurb von Joseph Brodsky gedruckt: »Dauer der Lektüre: etwa vier Stunden. Dauer der Erinnerung: der Rest des Lebens.« Was ersteres angeht, wollte ich mich einfach mal mit Brodsky messen, stellte also die Stoppuhr und fing ganz gemächlich an zu lesen, ohne Hast und ohne Eile. Natürlich traf mich fast der Schlag, als ich in dem »Momentum« (Ro­ger Willemsen), in dem ich das Buch zuklappte, sah, dass meine Lektüre bloß eine Stunde, dreiundfünfzig Minuten und vierunddreißig Sekunden gedauert hatte!

Brodsky scheint demnach ein sehr langsamer Leser gewesen zu sein. Doch wer weiß, womöglich las er, der ja bekanntlich unter Frühstücks­amnesie litt, diese wunderbare Schweizer Internatsgeschichte auch in ganz normalem Tempo, delektierte sich aber noch stundenlang an Formulierungen wie: »beim Frühstück nahm ich mir zwei oder drei Scheiben Brot mit Butter und Marmelade« (S. 24) und »das Frühstück war immer köstlich« (S. 16). Gegen Ende des Buches wird es dann eher nihilistisch, ein paar Jahre nach Schulabschluss besucht die Ich-Erzählerin ihre ehemalige Mitinternatsschülerin Frédérique in deren neuer Behausung und stellt fest: »Dieses Zimmer ist ein Konzept. Man weiß nicht wovon.« (S. 107)

Ein anderer schöner Schauplatz in dieser Novelle ist »die Konditorei von Teufen« (S. 27 und 28), wobei die Konditorei als solche hier erheblich besser wegkommt als z. B. in Rosa Luxemburgs Hundertseiter »Die Krise der Sozialdemokratie«, wo es gleich auf der ersten Seite heißt: »Vorbei ist […] das wogende Menschengedränge in den Konditoreien, wo ohrenbetäubende Musik und patriotische Gesänge die höchsten Wellen schlugen.« Die Fassung eines Satzes aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch der Schweiz, wie die Ich-Erzählerin in den »Seligen Jahren der Züchtigung« ihn zitiert, klingt hingegen ebenfalls makellos marxistisch: »›Der Besitzer einer Sache ist derjenige, der die tatsächliche Herrschaft über sie ausübt.‹« (S. 50)

Länge des Buches: ca. 136.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung. Novelle. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Schaden. Berlin: Berlin Verlag, 3. Auflage 1996. S. 3–120 (= 118 Textseiten).

Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung. Novelle. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Schaden. Berlin: Berlin Verlag Taschenbuch 2004.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

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