100-Seiten-Bücher – Teil 63
Stefan Zweig: »Schachnovelle« (1942)

Solingen, 30. April 2013, 19:23 | von Bonaventura

Besonders unter jenen, die den Springer gewöhnlich Pferd nennen, hält sich anscheinend hartnäckig das Gerücht, es handele sich bei Stefan Zweigs »Die Schachnovelle« um eine überzeugende literarische Gestaltung des leidenschaftlichen Schachspielers und seiner Psychologie. Geadelt wird dieses vorgebliche psychologische Kabinettstückchen durch die politische Kulisse, vor der es vorgeführt wird und dessen Opfer nicht nur jener geheimnisvolle Dr. B., sondern auch der Autor selbst war, der über der Veröffentlichung des Stücks im Exil verstorben ist.

Schaut man sich diese Kulisse auch nur für einen Moment kritisch an, so wird man sich kaum dem Urteil entziehen können, dass es sich bei diesem Hundertseiter um eine der am schlechtesten erfundenen Fabeln der sogenannten Weltliteratur handelt. Statt Dr. B. in einen Kerker zu werfen, ihn physischer Folter auszusetzen und ihn schließlich in einem KZ verkommen zu lassen, quartieren ihn die Nazis in einem Hotelzimmer ein, erlauben ihm den Diebstahl und die Lektüre einer Sammlung von Schachpartien, um ihn schließlich als Zeugen ihrer grausamen Praktiken ins Ausland reisen zu lassen.

Viel schlimmer aber ist die Küchenpsychologie des Schachspielers: Nicht nur beweist Stefan Zweig bei der Darstellung Dr. B.s, dass er keinen Schimmer hat, welche Leistung tatsächlich hinter dem Konkurrieren mit der schachlichen Weltspitze steckt, sondern er schreibt dem angeblichen Weltmeister Czentovic auch noch eine Schwäche der Vorstellungskraft zu, die es ihm faktisch unmöglich machen würde, auch nur eine einzige Variante zu berechnen, geschweige denn eine ganze Partie zu spielen.

Aber der ganze Rest ist sicherlich großartig!

(Langfassung dieses Textes hier.)

Länge des Buches: ca. 122.000 Zeichen. – Ausgaben:

Stefan Zweig: Schachnovelle. [Frankfurt/M.:] S. Fischer 1961. S. 5–95 (= 91 Textseiten).

Stefan Zweig: Schachnovelle. [Originalfassung Buenos Aires 1942 in der Reihe »Bibliothek der Erstausgaben«.] München: dtv 2013.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

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