100-Seiten-Bücher – Teil 52
Joseph Brodsky: »Ufer der Verlorenen« (1989)

Leipzig, 31. März 2013, 16:05 | von Paco

Brodsky war seit 1972 jeden Winter für ein paar Tage oder Wochen in Venedig und hat deshalb 17 Jahre später dieses schöne kleine Pamphlet darüber veröffentlicht. Es erschien 1989 zunächst in italienischer Übersetzung unter dem ursprünglichen Titel »Fondamenta degli incurabili«, das englische Original dann in erweiterter Form als »Watermark«. Es liegt nun die Vermutung nahe, dass Brodsky dieses Buch geschrieben hat, um weitere Touristen davon abzuhalten, in seine Winterresidenzstadt zu reisen. Immerhin war er damals schon Nobelpreisträger, seinen Worten wird also einiges Gewicht beigemessen worden sein.

Brodsky selbst ist jedenfalls der beste aller Touris, was er auch unumwunden zugibt. Angewidert ereifert er sich über andere und vor allem deutsche Pauschalreisende und macht seine Leser ebenfalls zu Touristen, die sich wiederum über Brodsky aufregen sollen. Denn er mag zum Beispiel Wagner und Tschaikowski nicht, was provozierend unoriginell ist, und außerdem rechnet er auf wohlfeile Weise mit Ezra Pound ab. Zusammen mit Susan Sontag besucht er dessen Witwe, die ihnen den Gefallen tut, die Machenschaften ihres verstorbenen Mannes unaufgefordert mit einer elend langen Rechtfertigungsrede zu verteidigen. Brodskys Bericht von diesem Besuch wirkt so unangenehm gerecht wie damals Michael Moores Visite beim armen NRA-Maskottchen Charlton Heston, aber wie gesagt, das ist sicher genau so auch beabsichtigt.

Insgesamt hat der Venedigveteran für den Band 48 Kurztexte versammelt, lose verbundene Impressionen mit poetischem Mehrwert, wobei das jetzt unbedingt positiv gemeint ist. Denn wer literarische Beschreibungen des Geruchs von gefrorenem Seetang liebt, muss dieses Buch unbedingt lesen.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. München; Wien: Hanser 1991.

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. Mit Photographien von Peter-Andreas Hassiepen. München; Wien: Hanser 2001.

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002. S. 5–94 (= 90 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

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