100-Seiten-Bücher – Teil 29
Johann Gottfried Herder: »Journal meiner Reise im Jahr 1769« (1846)

Berlin, 18. Juli 2012, 16:40 | von Josik

Laut Arno Schmidt und einigen anderen steht das Original auf »72 enggeschriebenen Quartseiten«. Gedruckt sind das rund hundert Seiten, die als ›Reisejournal‹ allerdings ziemlich irreführend gelabelt sind: Über die Reise selbst, die Herder von Riga nach Paris und von dort wiederum ins sogenannte Weimar des Nordens, nach Eutin, führte, erfährt man hier fast gar nichts, vielmehr hat man bei der Lektüre über weite Strecken den Eindruck, die Notate eines über­eifrigen jungen bayerischen Kultusministeriumsbeamten vor sich zu haben, der auch im Urlaub noch die bestmöglichen Schullehrpläne auszuarbeiten versucht.

Wie sehr sich der sturmunddrängende Mittzwanziger vor lauter Begeisterung über seine Ideen – hier für die zweite Klasse – über­schlägt, sieht man an den inflationär gebrauchten Ausrufezeichen: »Welch Gymnasium! Welche schöne Morgenröte in einer antiken Welt! Welch ein römischer Jüngling wird das werden! Hier also kommt antike Historiographie, Epistolographie, Rhetorik, Grammatik! Man sieht, wie übel, daß man […] überhaupt Grammatik einer antiken Sprache nicht von der modernen unterscheidet! Hier wird alles unterschieden, lebendig gekostet, nachgeeifert! In dieser Klasse muß sich der lateinische Stil bilden!« (S. 55)

Na ja, und so geht’s halt weiter. Immerhin, ursprünglich war das Journal gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Was Herder an den Franzosen schließlich überhaupt nicht fassen kann, ist folgendes: »Alles spricht hier Französisch, sogar Piloten und Kinder!« (S. 77) Kurz darauf notiert er noch einmal für sich als Gedächtnisstütze: »Ja, aber daß ich nirgends die Frage vergesse: in Frankreich reden auch die Kinder französisch?« (S. 80; vgl. YouTube)

Länge des Buches: ca. 182.000 Zeichen. – Ausgaben:

Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag 1999. S. 3–113. (111 Textseiten)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Eine Reaktion zu “100-Seiten-Bücher – Teil 29
Johann Gottfried Herder: »Journal meiner Reise im Jahr 1769« (1846)”

  1. Bonaventura

    Das »Journal« war meine Einstiegsdroge zu Herder, von dessen zentraler Stellung im 18. Jahrhundert und weitreichendem Einfluss auf das 19. Jahrhundert ich damals überhaupt keine Ahnung hatte. Wo er in der Darstellung oben leicht vertrottelt vorkommt, ist er tatsächlich witzig. Außerdem stammt eines meiner Lieblingszitate aus dem »Journal«:

    Ist die Lateinische Sprache Hauptwerk der Schule? Nein! Die wenigsten haben sie nötig: die meisten lernen sie, um sie zu vergessen.

    Ach, ich müsste mehr Zeit für Herder haben! Da ist ein ganzer Kontinent zu entdecken!

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