Das Handy in der Gegenwartsliteratur

Konstanz, 22. Januar 2008, 07:55 | von Marcuccio

Auf der Literaturseite der S-Zeitung vom letzten Freitag sprach sich Florian Kessler für eine »akute Gegenwartsliteratur« im Deutschunterricht aus. Wegen des akut anstehenden Migrationshintergrunds des Nokia-Handys wird in den deutschen Lehrerzimmern nun heftig um die geeigneteren Arbeitstexte für den Unterricht gerungen: Auf der einen Seite wartet der Reclam-Klassensatz »Migrantenliteratur«, auf der anderen, nämlich dieser hier, präsentiert der Umblätterer seine kleine Kompilation Mobilfunkliteratur:

[ Keiner hat Handy | Einer hat Handy | Alle haben Handy ]

Keiner hat Handy

Als Relikt aus einer mobilfunklosen Zeit bietet sich dieses Buch von Alexa Hennig von Lange wie kein zweites an: »Relax«. Das holt die Schüler von heute erst mal synonymisch bei ihren 100, 200 oder 400 Inklusivminuten von T-Mobile ab und führt ihnen dann vor Augen, was das Leben ohne Handy gestern war.

»Jungs, bin gleich wieder da!«
»Wohin gehstn du?«
»Weg!«
»Gehste pissen?«
»Nein telefonieren!«
»Was?«
»Ich muß ma kurz telefonieren!«
»Hier gibt’s aber kein Telefon!«
»Dann such ich eins!«
»Warum mußte denn jetzt telefonieren?«
»Ich muß meine Kleine anrufen!«
»Relax, Chris!«

– Tatsächlich bestimmt das hier noch nicht vorhandene Mobiltelefon den weiteren Verlauf der Handlung fatal. Denn nur weil er kein Handy in der Tasche hat und keiner seiner Kumpels auch nicht, geht Chris überhaupt wie ein Blöder los und sucht (ein Telefon!), steigt auf Bäume, stürzt herunter, und stirbt zuletzt auf einem Parkplatz. (Okay, ein bisschen too much auf dem Trip ist er dabei natürlich auch ;-).

Umgekehrt sitzt die Kleine, nur weil sie ihren Chris nie mal ansimsen kann, das ganze Buch über wie blöde vor ihrem Festnetzapparat und wartet auf Anrufe von Chris. Am Ende reißt sie sich endlich von zu Hause los, um ihren Chris im Nachtleben zu suchen und – ohne Handy natürlich viel zu spät – zu finden:

»Chris, hier is deine Kleine!«
»…!«
»Chris, hörst du mich?«
»…!«
»Chris! Das is nich lustig!«
»…!«
»Chris? Ich liebe dich!«
»…!«
»Chris?«
»…!«

Mit anderen Worten: Es wurde wirklich mal Zeit für ein Mobiltelefon in der deutschen Literatur.

[ Keiner hat Handy | Einer hat Handy | Alle haben Handy ]

Einer hat Handy

Das erste Mobilfunktelefon in der deutschen Literatur gibt’s bei Christian Kracht: In »Faserland« kommt das Handy noch richtig schön schnöselig daher, nämlich als rauschechtes C-Netz für S-Klasse-Fahrer auf Sylt.

»Kurz vor Kampen biegt Karin plötzlich rechts ab, auf den Parkplatz von Buhne 16, dem Nacktbadestrand, und ich denke, Moment mal, was kommt denn jetzt?«

Und weil ein 1995er Kracht auf Sylt kein 1998er Houellebecq am Cap d’Agde ist, folgt an dieser Stelle wirklich nur diese Mobilfunkorgie: Irgendein Sergio hat mit dem Mobiltelefon extra vom Strand aus im Mercedes angerufen (Sachen gibt’s, hehe). Und dann dieser faserlandtypische Satz:

»Wir steigen aus und ich denke daran, daß das Mobiltelefon sicher ziemlich versaut wird, dort am Strand, wegen dem Sand und dem Salzwasser.«

Also, richtig relaxed klingt das mit dem Mobiltelefon noch nicht. Oder verschwendet heute noch ernstlich jemand Gedanken an Salz und Sand, wenn er Strand-MMSen versendet oder empfängt? Krachts defätistische Handy-Affirmation zeigt deshalb schön, wie leicht die Spezies Mobilfunkteilnehmer Mitte der 1990er noch verunsichert und fertig gemacht werden konnte.

[ Keiner hat Handy | Einer hat Handy | Alle haben Handy ]

Alle haben Handy

Kollektiver Frieden mit dem Mobilfunk war dann wohl so spätestens um 2000, als wir von Florian Illies in unser aller Generation Golf zu lesen bekamen, »daß es nichts mehr bedeutet, ein Handy zu haben. Daß es aber auch nichts mehr bedeutet, in einem Café zu telefonieren.«

»Ortsgespräch«, Illies‘ GG-Aufguss von 2006, war, so gesehen, natürlich schon wieder eine Retro-Mode. Kein Anschluss unter dieser Nummer herrscht hingegen bei Ingo Schulze. Weitere Texte zum Thema Telekommunikation wären vielleicht noch Else Buschheuers »Ruf! Mich! An!« oder die »Wahlverwandtschaften«.

Und last but not least Johanna Adorjáns Tante, die immer noch ihren Festnetzapparat im Flur favorisiert. Das war definitiv mal einer der Silvester-Knaller, mit denen ein Deutschlehrer seine Schüler 2008 fürs Feuilleton begeistern könnte (neues Jahr, neues Glück?).

[ Keiner hat Handy | Einer hat Handy | Alle haben Handy ]

3 Reaktionen zu “Das Handy in der Gegenwartsliteratur”

  1. Dique

    Bei Joachim Lottmann gibt es mobiles Retro, literarisch und scheinbar auch im richtigen Leben. Lottmann (oder der deutsche Rainald Goetz, hehe) kokettiert nicht nur gern damit, einen Wartburg Tourist 353S zu fahren, sondern auch damit, ein elend altes Handy mit Auszugsantenne zu besitzen. Das sagt er zumindest in seinem 2004 erschienen Buch „Die Jugend von heute“.

    „Ja Mann, was hast du da für ein seltsames schwules Handy bei dir? Was soll das? Willst du damit Nägel einschlagen oder was?“

    Er hatte recht. Mein Handy war von 1997 und wog fast ein Kilo. Allein der Akku wog mehr als eine Schöller-Eiskrem-Familien-Tiefkühlpackung. Um damit zu telefonieren, musste man eine lange Teleskopantenne herausziehen.

    Man kann sich das Modell, einige Jahre sind inzwischen verstrichen, beim erst kürzlich gegebenen Interview bei Willkommen Österreich ansehen. Hier erfährt man dann auch noch, dass Joachim Lottmann seine Telefonakkus im Kühlschrank aufbewahrt, damit sie nicht so schnell austrocknen.

  2. Marcuccio

    Wahnsinn! Und elend alte Handys sind natürlich überhaupt ein Topos. Ich bekenne mich ja mittlerweile auch wieder zu meinem Ersthandy von 1997, dem knalltürkisen Motorola Surf von E-Plus.

    Und dann dieses alte Logo von E-Plus. Erinnert sich unter den Leipzigern noch jemand an die Werbung mit den drei weißen, nachts blinkenden E-Plus-Tauben auf dem Hochhaus am Brühl? In den ausgehenden Neunzigern schienen die wirklich so was wie Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen mit dem Mobilfunk zu versprechen. Und außerdem ging von Tauben auf dem Dach auch definitiv noch keine Terrorgefahr für die FAS-Lektüre aus, hehe.

  3. nadi

    Haha, klasse Artikel! Die Entwicklung des Handymarktes lässt sich also auch in der Literatur prima nachverfolgen! Das wäre doch wirklich mal eine spannende Themenreihe für den Deutschunterricht!
    In Zeiten von „Relax“ noch völlig normal, ist abendliches Ausgehen ohne Handy heutzutage unvorstellbar! Während die Kleine noch vergeblich versucht, ihren Chris im Nachtleben zu finden, empfiehlt die heutige TV-Werbung eifersüchtigen Teens & Twens sowie besorgten Eltern die Personenortung per GPS-Chip im Handy. Auch ohne solch drastische Maßnahmen ist ständige Überwachung angesagt: Erscheint man mal zwei Minuten zu spät am Treffpunkt, so klingelt – während man doch gerade eben um die Ecke biegt – das eigene Handy, und man wird mit einem „ja, wo bleibsch auch du?“ begrüßt.
    Ich kann mich auch noch an die Zeiten erinnern, als mein Bruder mit seinem türkisen E-Plus als Möchtegern-Snob belächelt wurde…tja, damals war das eben nur in gewissen, elitären Faserland-Kreisen auf Sylt verbreitet :-)))
    Vielleicht solltest du darüber nachdenken, den türkisen Hundeknochen zu reaktivieren und damit nicht nur als einer der ersten auf die Retro-Welle aufzuspringen, sondern auch dein moralisches Gewissen zu erleichtern…du weißt ja, NOKIA ist pfui, auf den Müll damit!

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