Die Umblätterin

Hamburg, 7. Juli 2007, 11:46 | von San Andreas

Marcuccio erinnerte mich daran, den lange vorgemerkten Film »Das Mädchen, das die Seiten umblättert« anzusehen. Entweder hat die Kommission diesmal outgesourct (das macht sie offenbar manchmal) oder sie hat bei dem Titel versehentlich gute Arbeit geleistet; er geriet sogar noch geheimnisvoller als die vergleichsweise schlichten, aber edlen französischen (« La Tourneuse de pages ») und englischen (»The Page Turner«) Pendants.

Nichts weist plump auf die Handlung hin, das erforderte sicherlich ein Höchstmaß an Selbstaufgabe bei den Verantwortlichen der Kommission. (Die öffentliche Widerrede gegen diese Entscheidung ist natürlich Wasser auf deren Mühlen und wird beim nächsten Film als Argument dafür dienen, den Filminhalt wie gewohnt mit einem Hau-drauf-Titel zu zersetzen.)

Von der Syntax her erinnert der Titel auch an »The Hand That Rocks the Cradle«, diese »Nanny from Hell«-Geschichte aus den frühen Neunzigern. Und in der Tat: Auch hier haben wir es mit einem verschlagenen Weibsstück zu tun, welches für ihre Gastfamilie allerhand Unbill im Gepäck hat. Doch kommt solch Stoff in der Hand der Franzosen freilich ungleich subtiler daher.

Die Geschichte selbst mag simpel sein; ihre Umsetzung ist es nicht, verdichtet fein beobachtete Details zu atemloser Spannung. Und das mit einer Eleganz, die man im Kino nicht mehr oft sieht. Kühle, saubere Bilder, dazu feinste Pianomusik, alles getragen von zwei hervorragenden Hauptdarstellerinnen, die nicht viel sprechen müssen, um etwas zu sagen.

Auf der einen Seite die Star-Pianistin, ehrfurchtgebietend, aber fragil, auf der anderen das Azubi-Kindermädchen, bei dem man nie weiß, ob es nur schüchtern ist oder die Heimtücke in Person. Kraft cineastischer Vorbildung vermutet man Letzteres, aber vorhersehbar wird der Film dadurch noch lange nicht.

Ebenso wenig vorhersehbar ist « Ne le dis à personne », ein anderer französischer Thriller, der wohl noch eines deutschen Ausstrahlungstermins harrt und anderswo (z. B. in London, wo ich nach einem Kaffeehausbesuch auf ihn aufmerksam wurde) unter dem Titel »Tell No One« lief.

Er fängt ähnlich leise an, wird mysteriös, variiert Hitchcock-Motive (den unschuldig Verfolgten, die wiederkehrende Tote), legt in der zweiten Hälfte an Komplexität zu, hat heftige Spitzen und zieht immer größere Kreise, sogar Regierungskreise.

Aber den geneigten Zuschauer verliert »Tell No One« trotz solcher allzu literarischen Strukturen zu keinem Zeitpunkt, pflegt die Dramaturgie doch dessen emotionale Bindung zum Helden in mustergültiger Manier. Zum Schluss zerbirst das Ganze in erstaunlichen Enthüllungen, schlägt selbst dabei noch wilde Haken und entlässt einen mit einer tatsächlich bewegenden Szene. What a ride.

Man vergesse nicht, die Franzosen haben eine große Thriller-Tradition: Melville, Clouzot, Truffaut, Miller, Chabrol, Verneuil. Die gute Nachricht: sie können’s noch. Tell everyone.

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