Das Kinojahr 2009

Kinojahr 2009 Logo

 
(Vorwort und Kommentare zu dieser Übersicht hier.)

 
5 Sterne »Frost/Nixon« (Ron Howard) Die Nixon-Affäre hatte bereits »All the President’s Men« mit Stoff versorgt. »Frost/Nixon« verheiratet in ähnlicher Weise Zeitgeschichte und Kino, erforscht das Spannungsfeld von Medien und Politik mit einer cineastischen Eloquenz, die vergessen lässt, dass die Grundlage des Drehbuchs ein Theaterstück ist. Die Interviews und die Umstände ihres Zustandekommens berühren zeitlose Fragen von Verantwortung und Macht, von Missbrauch und Redlichkeit. Eine Geschichtsstunde und ein elektrisierendes Drama fallen nebenbei mit ab, getragen von perfekt nuanciertem Schauspiel und makelloser Regie. Reichhaltiger und besser kann Kino kaum sein. Best Bit: Frost: »Are you really saying the President can do something illegal?« Nixon: »I’m saying that when the President does it, it’s not illegal.« Frost: »… I’m sorry?«

5 Sterne »Milk« (Gus Van Sant) Manche Filme schaffen es, Epochen greifbarer zu machen als es jede noch so richtige Abhandlung vermag. Das San Francisco der Siebziger Jahre gewinnt in Gus Van Sants inspirierendem Dokudrama eine überwältigende Plastizität. Der Film fühlt sich furchtlos ein in die aktivistische Subkultur um Harvey Milk, wechselt behende zwischen intimen Momenten und dramatischen Massenszenen. Aus dem Umstand, dass die Geschichte auch die Chronik eines angekündigten Todes ist, zieht die Dramaturgie keinen Profit – Harvey Milk wird nicht als Märtyrer glorifiziert, sondern dargestellt als Sprecher einer Bewegung für Menschenrechte und Gleichberechtigung, die sich durchsetzen wird, mit oder ohne Milk. Der pulsierende Zeitgeist des Castro-Viertels überträgt sich reibungslos; Regie, Drehbuch und Schauspiel klicken glatt ineinander. Gus Van Sant zehrt von seinem illustren Œuvre, verschmilzt die wahrhaftige Ästhetik seiner Independent-Perlen mit dem eleganten Pathos seiner mainstreamigeren Werke. Dustin Lance Blacks vielschichtiges Skript verliert zu keinem Zeitpunkt die Tuchfühlung mit seinen Charakteren. Sean Penns überragende Performance wurde bereits hinreichend und zu Recht gelobt – sie lebt vom Wechselspiel mit den nicht minder exzellenten Leistungen von Brolin, Franco und Hirsch. »Milk« ist ehrliches, großes Kino. Best Bit: Milk und sein Konkurrent Dan White im Dialog: »Society can’t exist without the family.« – »We’re not against that.« – »Can two men reproduce?« – »No, but God knows we keep trying.«

5 Sterne »Gran Torino« (Clint Eastwood) Gleich zwei Eastwoods gab es letztes Jahr, »Changeling« der andere, eine opulente, ausladende Geschichte, die von Psychothriller über Gerichtsfilm, Sozialdrama, Historienschinken bis Serienmörderkrimi alles abdeckte. »Gran Torino« ist übersichtlicher, unkomplizierter – und doch ist es der größere Film. Mit sicherer Hand stemmt Eastwood Regie und Hauptrolle zugleich, spielt lässig mit seinem ikonischen Image, lässt dem Motiv des einsamen Rächers seines Frühwerks die menschliche Wärme seiner späteren Filme angedeihen. Und obschon es um Alter, Rassismus und Tod geht, bleibt »Gran Torino« gut verdaulich. Zwischen den Zeilen schwingt trockener, politisch wunderbar unkorrekter Humor. Ein zynischer Grantler ist Korea-Veteran Walt Kowalski – alt, aber nicht zu alt, die Dämonen seines verknöcherten Weltbildes noch einmal zu konfrontieren. Er findet Freundschaft, wo er sie am wenigsten erwartet hatte, ortet Ideale, für die es sich zu kämpfen lohnt. Das ist keine mirakulöse Transformation – denn es handelt sich um seine eigenen Ideale. Und wenn der Film einer düsteren Konsequenz entgegendriftet, erscheint diese auch als Sühne für die imperialen Fehltritte seines Landes. Ausgeträumt ist der amerikanische Traum indes noch nicht: Walt gibt den Staffelstab weiter an das Flickenteppich-Amerika der Immigranten. Und was versinnbildlicht die Freiheit und die Wertbeständigkeit der Staaten besser als dieser herrliche, funkelnde Gran Torino. Best Bit: Walt stellt eine Gang krimineller Halbstarker in flagranti: »Ever notice how you come across somebody once in a while you shouldn’t have fucked with? That’s me.«

5 Sterne »Up« (Pete Docter) Ein neuer Pixar, ein neuer Klassiker. Die Zutaten sind unwahrscheinlich genug: ein 78 Jahre alter Mann, ein kleiner Pfadfinder, ein fliegendes Haus. Pete Docter und seine Leute spinnen daraus ein wunderbares, zeitloses Garn, das menschlich wahrhaftiger rüberkommt als manch ein Live-Action-Film. Des alten Mannes Gefühl von Verlust, Verbitterung und verpasster Chancen ist echt; der Film schöpft aus dieser emotionalen Tiefe und schafft ein erbauliches Abenteuer, das eigene kreative Pfade einschlägt und – natürlich – eine echte Augenweide ist. Best Bit: »Squirrel!«

5 Sterne »The Curious Case of Benjamin Button« (David Fin­cher) So einer kommt nicht alle Tage. Ein großer Film über die Zeit und die Liebe, so episch wie poetisch. Schon in »Zodiac« hat Fincher die Zeit manipuliert, hat sie gedehnt bis zum Eindruck von Echtzeit; diesmal rafft er sie, kehrt sie um, entfacht einen Sog, der einen hineinzieht in seinen bis dato wohl menschlichsten und sanftmütigsten Film. Bisweilen weiß der Film vor Warmherzigkeit nicht wohin mit sich, kriegt aber vor den Kitschklippen gerade noch die Kurve. Denn bei aller Liebe meint er es ernst. Das flüchtige Vergnügen, das wir Leben nennen, die Unausweichlichkeit seines Endes: Selten hat sich ein Film schönere Gedanken darum gemacht. Best Bit: Die Geschichte des blinden Uhrmachers. Eine hypnotische Sequenz, die die fantastische Prämisse des Films – ein Mann altert rückwärts – in der Realität des Krieges, des Verlusts und der Trauer verankert.

5 Sterne (bläulich) »Avatar« (James Cameron) Im Vorfeld weidlich verspottet, so dass sich 20th Century Fox nicht mal traute, in Hollywood Außenwerbung zu schalten, bewies Camerons SciFi-Opus doch den längeren Atem. Wer wissen will, wie es um das Kino im 21. Jahrhundert bestellt ist, kommt an »Avatar« nicht vorbei. Die technologischen und kreativen Ambitionen des Films sind ohne Beispiel; er schafft eine komplette Welt, die zuvor weder als Literatur noch als irgendeine andere Repräsentation existierte. Millionen von Menschen wissen wieder, wie es ist, im Kino zu staunen. Fast paradox ist dabei, dass der entscheidende Aspekt, der uns Cameron sein Mammutwerk abkaufen lässt, gar nicht mal die mit gigantischem Aufwand gerenderten Landschaften und Kreaturen Pandoras sind, auch nicht die kolossalen Schlachtengemälde. Es sind die Augen der Na’vi, die uns überzeugen: Zum ersten Mal wirken CGI-Figuren tatsächlich lebendig. Natürlich kommt die ökologische Botschaft des Films nicht eben subtil daher, natürlich ist die Story von Stereotypen bevölkert, natürlich bewegt sich der Plot in simplistischen Mustern. Aber das weiß der Film. So funktionieren die utopischen Klassiker der 40er und 50er Jahre, an deren Tradition »Avatar« anknüpft. Der Kosmos des Films – seine Biologie, seine Geografie, seine Mythologie – ist indes komplett die Vision Camerons, und das macht »Avatar« zum monumentalsten Autorenfilm der Geschichte. Best Bit: Gerade erst in seinem Avatar aufgewacht, büxt Jake Sully aus, um seine neuen blauen Beine auszuprobieren.

5 Sterne »The Wrestler« (Darren Aronofsky) Wohl niemand hätte das Innenleben eines gewesenen Helden glaubhafter vermitteln können als Schicksalsgenosse Mickey Rourke. Seine Vorstellung ist nackt und verletzlich, ist nicht länger Schauspiel, ist totale Identifikation. Das dichte, disziplinierte Skript verfolgt Randy als Gehilfe und Opfer einer Kultur, die in Ritualen erstarrt ist und das Individuum mit Füßen tritt. Schon in »Requiem for a Dream« hatte Darren Aronofsky in menschliche und soziale Abgründe geblickt, diesmal geschieht das rauer, wahrhaftiger, aber mit ungleich größerer emotionaler Tiefe. Die zarteren Momente des Films haben sich ihre Sentimentalität verdient, fühlen sich so ehrlich an wie die ruppigen Kampfszenen in der Arena – dem Ort, von dem die erstarkenden Bande in die ›Welt da draußen‹ den Wrestler doch nicht retten können. Hier wurde Randy the Ram geboren, hier wird Randy the Ram sterben. Best Bit: Die Kamerafahrt hinter Randy her, in Richtung Ring, durch die Gänge, rechts, links, die Treppe herunter, der Applaus brandet auf – und erstirbt, denn da ist kein Ring, da ist nur der Supermarkt, Randy verkauft Zervelatwurst und Nudelsalat.

5 Sterne »Hunger« (Steve McQueen) Gute Filme über den Irland-Konflikt gibt es bereits: »Bloody Sunday« von Greengrass, »In the Name of the Father« von Sheridan oder »The Wind That Shakes the Barley« von Loach. Politische Filme sind das, Filme mit Botschaft und dokumentarischem Anspruch. Das Erstaunliche an »Hunger« ist, dass er das alles nicht ist. »Hunger« ist zu allererst Kunst. Um ein extremes Verhalten wie das von Bobby Sands zu fassen, der mit anderen IRA-Mitgliedern in einem Belfaster Gefängnis in einen Hungerstreik tritt, genügt keine biografische Aufarbeitung. Das Werk stößt in Grenzbereiche der Gesellschaft vor, deren schiere Unmenschlichkeit normalerweise schwer in Film zu fassen ist, ohne moralinsauer, obszön oder pathetisch zu werden. McQueen findet jedoch eine Art brachiale Poesie, eine rohe, intensive, dennoch vollständig kontrollierte Ästhetik, die uns weg von den politischen Fakten, nahe an die Personen heranführt. Der Film sieht genau hin, zwinkert nicht, bleibt aber sensibel genug, sich dem Unerklärlichen nähern zu können – nämlich was einen Menschen dazu treibt, die eigene Existenz für eine Sache aufzugeben. Große Teile des Films, besonders der dritte Akt, entwickeln dabei eine beklemmende Körperlichkeit, die praktisch ohne Worte auskommt und einem den Glauben an die schiere Kraft des Kinos wiedergibt. Fassbender definiert mit seiner verzehrenden tour de force den Begriff des ›method acting‹ neu. Und McQueen ist mit diesem filmischen Schlag in die Magengrube schlicht das sensationellste Debüt der letzten Jahre gelungen. Best Bit: Bobby Sands‘ Konversation mit Father Moran, eine einzige, sechzehnminütige Einstellung.

5 Sterne »Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte«
(Michael Haneke)
Der patriarchalische Mikrokosmos eines deutschen Dorfes am Vorabend des Ersten Weltkrieges ist das Thema von Hanekes bislang wohl bedeutendstem Werk. In exquisitem Schwarz-Weiß gehalten, zeigt es einige seiner Markenzeichen – den unverblümten Klartext der Dialoge, den gemessenen, nüchternen Ton, den unaufgeregten, sauberen Schnitt – doch entwickelt der Film seine Kraft ohne Hanekes gewohnte (und gefürchtete) provokative Aggressivität. Er attackiert den Zuschauer nicht, sondern gedenkt ihm die Rolle des neutralen Beobachters zu, lässt ihn über die Erzählung des Lehrers die rätselhaften Ereignisse im Dorf nachvollziehen – unerklärliche Unfälle, ein Attentat auf den Doktor, Misshandlungen, Brandstiftung. Die Dramaturgie arbeitet nicht auf eine überraschende Auflösung hin – bereits der Untertitel des Films verrät die Delinquenten – sondern legt das Augenmerk auf die rigiden Strukturen des protestantischen Lebens, auf die selbstauferlegten sozialen Zwänge, das Obrigkeitsdenken in der Dorfpolitik, auf die Demütigung und Unterdrückung, die mit der sittenstrengen Erziehung der Kinder einhergeht. Eben diese Kinder, so die einhellige Erkenntnis der Rezensenten, würden 20 Jahre später im Nationalsozialismus aufgehen, mürbe und empfänglich für diesen gemacht. Der Film weist aber über die speziell deutsche Befindlichkeit hinaus und wächst sich zu einer tiefgründigen Parabel über die latente Schwäche des Menschen aus, die Kontrolle über seine Werte zu verlieren. Best Bit: Anna und Rudi am Tisch, Suppe essend und über den Tod redend.

5 Sterne »Doubt« (John Patrick Shanley) Dieses klerikale Drama mag weniger Plot haben als andere Neunzigminüter, aber die phänomenalen Vorstellungen von Hoffman, Streep und Adams müssen manchen Schauspielstudenten das Handtuch haben werfen lassen. Der Film verleugnet seine Theater-Herkunft nicht, zumal der Autor selbst Regie führt, doch die parabelhaften Denkanstöße überleben auch in der Kinoversion. Wie zerstörerisch Überzeugungen sein können, die auf nichts als einer eingebildeten moralischen Überlegenheit gründen, stellt Religion insgesamt in ein zweifelhaftes Licht. Best Bit: Father Flynns doppelsinnige Predigt zum Thema ›Gossip‹.

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4 Sterne »Revolutionary Road« (Sam Mendes) Wie bedauerlich kann es sein, wenn Pläne im Sand verlaufen, ja wie herzzerreißend tragisch, wenn es ganze Lebenspläne sind. Mendes‘ Antithese des American Dream glänzt in allen Aspekten, von der Regie über die Ausstattung, den hypnotischen Score und die göttliche Kameraarbeit (courtesy Roger Deakins) bis zu den furchtlos spielenden Darstellern (neben Winslet und DiCaprio beeindruckt Michael Shannon als mental derangierter Rohling). Subtil und kraftvoll zugleich, schraubt sich der Film Szene für Szene in die Verzweiflung: großes Drama, großes Kino. Best Bit: Als die doppelzüngige Maklerin am Schluss über die Wheelers herzieht, bedenkt ihr Mann sie mit diesem tiefgründigen, sinnierenden Blick und dreht langsam sein Hörgerät aus: Klick. Film zu Ende, Kloß im Hals.

4 Sterne »Slumdog Millionaire« (Danny Boyle) Der Film mag von den brutalen Bedingungen in den Slums von Mumbai erzählen, von Armut, Waisenkindern und Kriminalität – aber da ist auch dieser lebensbejahende Optimismus, der den Film erfüllt und alle Unbill relativiert. Jamal, unser unkaputtbarer Held, hat das Herz am rechten Fleck, und obwohl er in der indischen Ausgabe von »Wer wird Millionär?« einen unfasslichen Durchmarsch hinlegt, bleibt er einer von uns. Sein Erfolg speist sich nämlich nicht aus enzyklopädischem Wissen, sondern aus Lebenserfahrung, und die blättert einem der Film als energiegeladenes, farbenfrohes Mosaik vor. Ein wunderbares Konzept, und Boyle hält die Inspiration bis ins Ziel. Best Bit: Die wilde Bollywood-Tanznummer auf dem Bahnsteig bildet den wohl erhebendsten Abspann eines Films ever.

4 Sterne »Zombieland« (Ruben Fleischer) Siehe da, das Zombie-Genre ist immer noch nicht tot. Nahezu ein Wiedergänger von »Shaun of the Dead«, rollt Fleischers drollige Zom-Com durch eine eindrucksvoll entvölkerte Welt und bringt genau die richtige Mischung aus Spannung, Spaß und Splatter mit, die einen bei den Knöcheln packt und nicht locker lässt. Best Bit: Zweifelsohne DAS Cameo des Jahres: Bill Murray als Bill Murray.

4 Sterne »Män som hatar kvinnor« (Niels Arden Oplev, bei uns »Verblendung«) Ein Stieg-Larsson-Enthusiast muss man gar nicht sein, um diesem Film etwas abgewinnen zu können. Man sitzt davor und weiß: Das ist ein guter Film. Seine düstere Intensität, seine verstörenden Momente, seine dräuende Atmosphäre wecken Erinnerungen an »The Silence of the Lambs«, und Lisbeth Salander mag tatsächlich die stärkste weibliche Thrillerfigur seit Clarice Starling sein. Was unwahrscheinlich genug ist; als tätowierte, widerspenstige Hackerin drängt sie sich nicht gerade als Identifikationsfigur auf, ebenso wenig tut das der wegen Verleumdung verknackte Journalist Blomkvist (im Buch ein Frauenschwarm), der an den Fall gerät wie die Jungfrau zum Kinde. In finsterer Effizienz windet sich die Geschichte durch die dunklen, dreckigen Hinterzimmer der skandinavischen Gesellschaft, versteht sich wohl auch als Kommentar über deren misogyne Tendenzen (der Originaltitel bedeutet »Männer, die Frauen hassen«). Zu keinem Zeitpunkt wirkt der Film verkürzt oder vereinfacht, er arbeitet sich kraftvoll und unerbittlich über abgründigstes Gelände, versichert sich aber der Anteilnahme des Zuschauers, indem er seine Szenen mit Motiven unterfüttert, die den Charakteren und der Story entspringen, nicht den Konventionen eines Krimi-Baukastens. Die entstehende Spannung ist brutal; und schier kathartisch erscheint dann der Schlussakt des Films, der nach zweieinhalb Stunden regennasser Tristesse überraschenderweise auch in die Sonne des australischen Outbacks führt. Obwohl der Film dieser Tage in den USA gestartet ist, bekommen die untertitelfaulen Amerikaner natürlich in Bälde ein Remake serviert – Europa rollt mit den Augen, aber der Name David Fincher lässt dann doch aufhorchen. Best Bit: Noomi Rapace.

4 Sterne »Inglourious Basterds« (Quentin Tarantino) Was kommt raus, wenn Tarantino in den Krieg zieht? Ein Tarantino-Film freilich. Sorglos eklektizistisch, moralisch indifferent, unverblümt selbstverliebt. Aber eben auch gut. Tarantino tobt sich aus auf seiner Stilspielwiese, zieht alle Zitateregister für dieses überbordende Stück Filmkunst, das zwar nicht an allen Ecken gleich gut funktioniert, aber einiges an Unterhaltungswert bietet und gelegentlich zu richtig großem Kino kondensiert. Best Bit: Der Prolog im französischen Bauernhaus. Das Sujet verleiht Tarantinos Dialogen ungeahnte Tiefe; dazu ist die Szene ein phänomenaler Showcase für die Trumpfkarte des Films: Christoph Waltz.
Umblätterers ausführliche Kritik …

4 Sterne »The Cove« (Louie Psihoyos) Die Küste vor Taiji ist eine Wal-Heimat. In dem japanischen Städtchen gibt es ein Wal-Museum und ein Wal-Festival, sogar einen speziellen Wal-Tanz. Was die Touristen nicht wissen (sollen): In der Bucht um die Ecke werden alljährlich Tausende Delfine mit Speeren und Messern abgeschlachtet, nachdem SeaWorld-Trainer für viel Geld die schönsten Exemplare für ein Leben unter Breitbandantibiotika und Chlor ausgesucht haben. Das Geschehen in der von den Fischern hermetisch abgeschirmten Bucht zu dokumentieren, erforderte eine logistisch hochaufwendige Undercover-Operation; der Film zerrt an den Nerven wie ein Horrorthriller. Doch der Horror ist echt, und wenn die See sich am Ende rot färbt, windet man sich (die grausamsten Szenen bleiben dankenswerterweise ungezeigt). Ein paar Kritiker warfen dem Film Einseitigkeit vor, und ihr egalitäres Argument »Wir essen Kühe, die essen Delfine.« leuchtet zunächst ein. Aber abgesehen davon, dass es Unterschiede zwischen Kühen und Delfinen gibt (Selbstbewusstsein, hallo!?), rechtfertigt kein Speiseplan solch brutale Barbarei. Zudem ist bekannt, dass die wenigen Japaner, die tatsächlich Delfin essen – dank Umetikettierungen zum Teil unwissentlich –, es nicht tun sollten: Das Fleisch enthält zu viel Quecksilber. Im Juni soll »The Cove« in Japan landesweit starten. Best Bit: Einen besonders tückischen, schön bespitznamsten Fischer traf die Wirkung des Films bereits, wie die Credits verraten: »Private Space has been removed from his position at the cove.«

4 Sterne »Taking Woodstock« (Ang Lee) Diesen Film haben die meisten verpasst. Vielleicht sind die Kritiker schuld, die es nicht verknusen konnten, dass Ang Lee ihnen a) einen eher leichten Stoff anzubieten die Stirn hatte und b) auch noch die heilige Kuh Woodstock zum Statisten degradierte. Das ist nämlich kein nostalgischer Festival-Pastiche mit Joplin und Hendrix, sondern eine Betrachtung der Begleitumstände, konsequent backstage und durch die Augen von Elliot Teichberg, dem grundsympathischen Everyman, der das Event in sein Dorf holt. Deswegen ist das kein kleiner Film; da sind chaotische Zuschauermassen, grasverrauchte Campinghalden, zertrampelte Schlammwüsten. Das trippige-hippige Happening-Gefühl jener Tage erfüllt jede Einstellung, und dass es nicht die Musik ist, die das bewerkstelligt, sondern die liebevoll charakterisierten Menschen, die der Film beobachtet, sollte ihm zugute gehalten werden. Best Bit: Elliots bärbeißige Eltern bekommen von Transvestit Vilma ein paar Hasch-Brownies zugesteckt. Vier Stück jeder.

4 Sterne »The Hurt Locker« (Kathryn Bigelow) Krieg wäre eine Droge, meint ein Zitat zu Beginn des Films, und die rauschhafte Qualität, die »The Hurt Locker« entfaltet, bestätigt die Aussage eindrucksvoll. Sie maskiert auch die Abwesenheit einer echten narrativen Linie: Wir werden Zeuge einer Folge von nervenzerrenden Bombenentschärfungen, brenzligen Zusammenstößen mit Terroristen und schweißtreibenden Scharfschützenduellen. Das ist fast zu dramatisch, zu spannend, zu unterhaltsam. Aber Bigelow, deren früheres Œuvre man bestenfalls als durchwachsen bezeichnen könnte, erkundet auch die blankliegende Psyche der Soldaten, die, den Tod im Nacken, sich im Kompetenzgerangel zerfleischen oder in quasi-autistische Märtyrerattitüden flüchten. Seine körnige, authentische Ästhetik macht den Film zum Fenster in eine absurde Welt, die beängstigenderweise tatsächlich existiert. Staff Sergeant James gleicht in seinem mächtigen Schutzanzug einem Astronauten in der feindlichen Umwelt eines fremden Planeten – aber es ist der eigene Planet, und schützen muss er sich vor Angehörigen der eigenen Spezies. Best Bit: James wieder zuhause, im Supermarkt. Vor der Auswahl an Cereals kapituliert er; ohne Adrenalin im Blut werden Entscheidungen zur Qual.

4 Sterne »District 9« (Neill Blomkamp) Ridley Scott hat mal gemeint, Science Fiction wäre zu Ende erzählt. Und ja, die Elemente dieses erstaunlichen Films kennen wir auch von früher: »RoboCop«, »The Fly« und »Alien Nation« lassen grüßen. Aber noch niemand hat daraus einen so spektakulär originellen Cocktail gemixt. Teilweise im Mockumentary-Stil gedreht, erzählt Blomkamps Debüt von einer Population auf der Erde gestrandeter Aliens, deren Reservat in Johannesburg zu einer kaum noch zu kontrollierenden Slum-Kolonie degeneriert, bis die latente Intoleranz gegenüber den Fremden Wellen schlägt. Die Apartheid-Allegorie ist nicht schwer zu orten, den Film durchziehen Culture-Clash-Kommentare, es geht um Ausbeutung, Kriminalisierung und Unterdrückung. Dabei belässt der Film es aber nicht; sein dicht gepacktes Skript spielt auch Action-, Comedy- und Horror-Trümpfe aus. Mit visuellen Effekten wird dabei nicht geprahlt, sie sind einfach da, und sie sind kolossal. Wenn unser wunderbar unheroischer Held (wo war der Mann bitteschön vorher: Sharlto Copley) in seinem biomechanischen Megaroboter-Outfit ordentlich Zunder gibt, kann ein Feindeskörper im Ganzen schon mal etwas nachgeben. Ein richtiges Happy End gibt es trotzdem nicht, das macht die schablonigen bad guys und die unmotivierten Voodoo-Einsprengsel wieder wett. Best Bit: Der Doktor öffnet den Gipsverband: Surprise!

4 Sterne »Man on Wire« (James Marsh) Im Jahre 1974 marschiert ein verrückter Franzose namens Phillipe Petit über ein Drahtseil zwischen den Türmen des World Trade Centers. Dies ist eine Dokumentation der Aktion, aber sie ist so schweißperlend spannend wie der beste Heist-Movie. Rational betrachtet ist Petits Stunt zwischen den Twin Towers schlichtweg wahnsinnig, aber die Tatsache, das 30 Jahre später eine andere Art Wahnsinn die Türme selbst ausradieren würde, verleiht seinem Husarenstück eine rührende, unschuldige, lebensbejahende Note. Es sind Leidenschaft, Tatendurst und Willensstärke, die da oben auf dem Seil stehen; laut Petit bestand die größte Gefahr für sein Leben erst dann, als er, die Hände in Handschellen, den engen Treppenschacht des Gebäudes hinuntergestoßen wurde. Best Bit: Der große Moment: »And I had to make a decision of shifting my weight from one foot anchored to the building to the foot anchored on the wire.« Keine Filmaufnahmen an der Stelle, nur Standbilder und Satie.

4 Sterne »Coraline« (Henry Selick) Als Kinderfilm verkleidet kommt diese sinistre Parabel daher, aber für die ganz Kleinen mögen die alptraumhaften Sequenzen zu verstörend, die Handlung etwas zu komplex sein. Die wunderbar plastischen Welten des Films (Watch it in 3D!) kreiert Selick in meisterhaftem, ausgefeilten Stop-Motion-Handwerk, und seine Detailverliebtheit geht gottlob nicht zu Lasten der Story (vgl. »9« – skurril, aber hohl). Diese ist fein erzählt, birgt wertvolle Denkanstöße und trägt in der emotionalen Abteilung angenehm dünn auf. In Ecken und Winkeln ist der Film charmant und amüsant, aber sonst konsequent unfröhlich und unheimlich. »Coraline« ist der beste David-Lynch-Film, den Tim Burton nie gedreht hat. Best Bit: Coralines surreale Hatz durch die zum Feindesland gewordene *other*-Welt.

4 Sterne »Entre les Murs« (Laurent Cantet) Ein junger Lehrer, eine Klasse schwieriger Schüler. Man ahnt, was kommt – aber liegt falsch. Schulfilmklischees gibt es nicht in Cantets Werk, sein völlig parteiloser, dokumentarischer Stil verfrachtet uns direkt ins Klassenzimmer, nahe heran an die Probleme und Konflikte einer multikulturellen Schülerschaft, die letztlich das ganze Bildungssystem, ja die Zukunft Frankreichs betreffen. Selbst als sich so etwas wie ein Plot herausschält, verlieren wir nicht den Eindruck, echten Menschen zuzuschauen. Um so wirklicher das Gefühl der Ohnmacht, das sich überträgt: das Bemühen einer in ihrer Sozialkompetenz überforderten Lehrerschaft, über eine sich verbreiternde Kluft hinweg Disziplin und Respekt zu wahren und gleichzeitig Lehrstoff zu vermitteln, erscheint als nahezu aussichtsloses Unterfangen. Best Bit: In der letzten Stunde werden die Schüler gefragt, was sie aus dem zurückliegenden Schuljahr mitnehmen. Die Auskunft könnte ernüchternder nicht sein.

4 Sterne »Okuribito« (Yōjirō Takita, bei uns »Nokan – Die Kunst des Ausklangs«) Wie es die Japaner nur manchmal machen. Ein reicher, runder, großer Film, der scheinbar mühelos durch den schwierigen Grenzbereich zwischen Leben und Tod laviert und dabei so manche Weisheit aufschnappt. Wie ein arbeitsloser Cellospieler an einen Job als Bestatter gerät, nach anfänglichen Peinlichkeiten Stolz für seine Tätigkeit entwickelt und darüber schlussendlich zu seinem ihm fremd gebliebenen Vater findet, klingt auf dem Papier nach einer vorhersehbaren, gefühlsduseligen Story. Aber die Inszenierung beweist Fingerspitzengefühl, vermeidet ein Zuviel an Pathos, zieht Ruhe aus den Ritualen und scheut sich nicht vor feinem Slapstick. Best Bit: Zwischen den Jobs wird gegessen, herzhaft schmatzend: getrocknete Dattelpflaumen, gebratenes Hühnchen, heikler Fugu-Kugelfisch.

4 Sterne »Revanche« (Götz Spielmann) Die Prämisse kennt man: Ein Banküberfall geht schief. Mit den Konsequenzen aber spielt der Film auf seine eigene Art. Er schleicht sich heran an den verzweifelten Delinquenten, beobachtet sein Hadern. Das Delikt war als Befreiungsschlag gedacht, nun sind alle Pläne passé. Wer ist schuld? Ohne Rückgriff auf altbekannte, manipulative Formeln hält Spielmann selbst in der Abgeschiedenheit eines Bauernhofes die Spannung am Köcheln: Wird sich die Wut Bahn brechen und dem Versprechen des Titels Taten folgen lassen? Ein Thriller Wiener Art. Best Bit: Das Gespräch zwischen Alex und Robert am Waldsee. Ob Robert nicht Angst hätte, dass der Bankräuber sich an ihm rächen wollen würde. Robert: »Soll er ruhig.«

4 Sterne »The Boat That Rocked« (Richard Curtis) Ein ausgelassenes Potpourri in peinlichen Klamotten, aber mit menschlichem Kern, das man mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht verlässt. Muss auch mal sein. Die Kritik allerdings hatte einen schlechten Tag, als sie den Film sah. Er sei zu lang, zu unstrukturiert, habe keine Liebesgeschichte und keine Charakterentwicklung, sei zu salopp im Ton und zu ungenau in der Aussage. Gegenfrage: What’s not to like? Dieser Film weiß, wie man Spaß hat, sein formidabel besetztes Ensemble zeigt sich in Topform (Philip Seymour Hoffman mal wieder ganz anders), und der groovige Sixties-Soundtrack tut sein Übriges. Das bedrängte Leben an Bord entwickelt eine wunderliche Eigendynamik, beschwört Situationen herauf, in denen die Macken und Neurosen der ohnehin farbigen Charaktere schön zum Tragen kommen und der Humor schon mal in schlüpfrige Gefilde abtaucht. Dann wieder gibt es anarchische, politische Untertöne, die an den historischen Zusammenhang erinnern – aber allzu grüblerisch wird es nicht. Best Bit: Das Duell der DJs hoch auf den Rahen des Schiffes. Mal wieder eine Szene, bei der man sich (beinahe) fragt: Wie haben Sie das wohl gemacht?

4 Sterne »Paranormal Activity« (Oren Peli) »Blair Witch«, »Cloverfield«, und jetzt das: eine Homevideo-Dokumentation paranormaler Vorgänge im Haus eine jungen Paares als perfides, haarsträubendes Kopfkino. Auch nachts wird gefilmt, die Kamera auf einem Stativ im Schlafzimmer. Der Zuschauer wird diese immer wieder gezeigte Einstellung im fahlblauen Nachtlicht nicht vergessen. Lange passiert nichts. Totenstille. Dann da – die Tür! Hat sie sich bewegt? Für schwache Nerven ist das nix, mancherorts litten Leute unter Panik-Attacken, selbst hartgesottene Zeitgenossen werden eine Zeitlang aufmerksamer in ihre Wohnung hineinhorchen. Für 15.000 Dollar im Haus des Regisseurs innerhalb von einer Woche abgedreht, spielte der Film 193 Millionen ein. Kein schlechter Schnitt. Best Bit: Der händeringend herbeigerufene Parapsychologe macht auf dem Absatz wieder kehrt: »It certainly doesn’t like that I’m here, and I cannot help you.« Na prima.

4 Sterne »The Reader« (Stephen Daldry) Kate Winslet hatte 2005 in »Extras« gewitzelt, eine Rolle in einem Holocaust-Film wäre der Garant für einen Oscar. Prompt bekam sie den Preis für ihre Darstellung der Hanna Schmitz – die Academy war in die Falle getappt. Einige Kritiker sprachen tatsächlich von abgekartetem, auf Hochglanz poliertem Betroffenheitskino. Dabei ist der Film weder ausnehmend gefühlig noch bewegt er sich auf sonderlich ausgetretenen Pfaden. Er erzählt die Geschichte einer Täterfigur, ohne den Krieg und die Opfer zu zeigen, verhandelt ihre Schuld vor dem Hintergrund einer Liebe, die keine ist. Einfache Antworten bleiben aus, Gräuel finden sich in sozialen und persönlichen Zwängen begründet. Wird das Böse banalisiert? Keineswegs; es wird entdämonisiert. Die Konzepte von Schuld und Verantwortung bekommen unscharfe Ränder. Best Bit: Hanna soll vor Gericht eine Handschriftprobe anfertigen; als sie zögert, begreift Michael alles, findet sich unversehens in einer moralischen Zwickmühle.

4 Sterne »Religulous« (Larry Charles) Bill Maher, Polittalker und Comedian, tat sich mit Larry Charles, »Seinfeld«-Autor und »Borat«-Regisseur, zusammen, um den Weltreligionen auf den Zahn zu fühlen. Wenige Fragen jeweils genügen, um Christen, Mormonen, Muslime und Juden gleichermaßen in Erklärungsnöte zu bringen. Als Satiriker sucht er sich natürlich die bizarrsten Blüten aus, die die Religionen so treiben, und Charles‘ pointierte Montagen kitzeln die heiligen Kühe aufs Vergnüglichste. Best Bit: »You’re a Senator. You are one of the very few people who are really running this country. It worries me that people are running my country who believe in a talking snake.« – »You don’t have to pass an IQ test to be in the Senate.«

4 Sterne »Watchmen« (Zack Snyder) Als Comicverfilmung mag »Watchmen« den einen oder anderen auf dem falschen Fuß erwischen. Keine X-Men-Superhelden-Action, keine Spider-Man-Küchentischphilosophie, keine Superman-Theatralik. »Watchmen« ist komplex. Und wie die epochale Vorlage von Alan Moore funktioniert der Film als aufschlussreiche Alternate History, als Analyse des Superhelden-Motivs in unserer Kultur, als Studie sozialer Misere und Selbstjustiz, als Parabel über Macht und ihren Missbrauch, und nicht zuletzt als spannendes Drama, dessen abenteuerliche Ausmaße man zu Beginn kaum erahnt. Zack Snyder trifft den Ton, überspannt den Gewalt-Bogen zwar einige Male, biedert sich aber dem Zeitgeist nicht an und stemmt einen reifen, reichen Koloss von Film. Best Bit: Die Titelsequenz. Die Serie lebender Schnappschüsse in Super-SloMo führt ein in die »Watchmen« -Welt und bringt Anekdoten unter, die es nicht in den Film geschafft haben. Schön gemacht.
Umblätterers ausführliche Kritik …

4 Sterne »Rachel Getting Married« (Jonathan Demme) Anfang der 90er-Jahre hat Jonathan Demme einmal »Silence of the Lambs« gemacht. Gegen den ist »Rachel Getting Married« ein Home Movie, im besten Sinne, und mithin der wohl unhollywoodischste Hollywoodfilm des Jahres. Die Geschichte von Kym, einer rekonvaleszenten Drogenabhängigen, die die Hochzeit ihrer Schwester besucht, kommt spröde und ungeschönt daher; das oft bemühte Thema einer dysfunktionalen Familie gewinnt eine Wahrhaftigkeit, an die man sich erst gewöhnen muss. Kyms Anwesenheit ist nicht allen recht, Charaktere reiben sich aneinander, und bald blubbern verdrängte Tragödien an die Oberfläche. Die Kamera streift durchs Geschehen, der Film scheint den Plot gar nicht zu bemerken, keine Dramaturgie hilft der Geschichte, keine Flashbacks, keine Montagen. Ein Film so unstilisiert, er ist näher am Leben als am Kino. Best Bit: Als die Mutter der Braut frühzeitig abreist, drängt Rachel sie und Kym zu einer Umarmung – das Ritual wird zur Qual.

4 Sterne »In the Shadow of the Moon« (David Sington) Jetzt, nachdem Obama das Constellation-Programm gestrichen hat, kommt diese filmgewordene Erinnerung, dass die Menschheit vor 40 Jahren noch auf anderen Welten wandelte, gerade recht. Eine intelligente, bewegende Dokumentation der Space-Race-Ära, ohne Erzähler mit Märchenstimme, nur berückende Bilder und die Worte jener 24 Männer, die seinerzeit allen Gefahren trotzten und gesagt haben: »Yes, we can.« Best Bit: Gerade als es rausgeht, muss Buzz Aldrin nochmal für Königstiger.

4 Sterne »The Boy in the Striped Pyjamas« (Mark Herman) Den Holocaust haben uns schon zahlreiche Filme näher gebracht als es Geschichtsstunden schaffen, manchmal näher als uns eigentlich lieb war. Und obschon es hier ein kleines Kind ist, dessen Schicksal wir verfolgen, schreckt Mark Hermans Film, wie auch die vormals als unverfilmbar geltende Vorlage von John Boyne, nicht davor zurück, die Nazi-Maschinerie bis zu ihrer schlimmstmöglichen Konsequenz arbeiten zu lassen. Das ist mutig und kompromisslos; am wertvollsten aber bleibt der Eindruck, dass nichts die Absurdität diskriminierender Ideologien entlarvt wie die kindliche Perspektive. Best Bit: Bruno sieht heimlich einen Auschwitz-Propagandafilm; später im Lager fragt er seinen Freund Shmuel: »Can we go to the café or something?«

4 Sterne »Soul Kitchen« (Fatih Akin) Fatih Akin versucht sich in der Königsdisziplin des Kinos, der Komödie. Und womit? Mit Erfolg. Schon seit 2003 in Planung, reifte das Projekt zu einer groovigen, launigen, unprätenziösen Geschichte über die Nicht-mehr-ganz-Jugend, über musikalische wie kulinarische Träume und die Widrigkeiten des Lebens. Wahre Momente und Situationskomik wiegen eine Handvoll Reißbrett-Versatzstücke (das Aphrodisiakum im Dessert, die Versteigerung) locker auf, und der heimliche Star des Films ist eh das angeranzte Hamburg, die alten Lagerhallen und die Schmuddel-Clubs und das graue Wetter. Hauptdarsteller Zinos Kazantsakis hat was von einem übernächtigten Eric Bana, Birol Ünel gibt einen herrlichen Samurai-Koch, und Akin-Veteran Bleibtreu hat extra auf »Inglourious Basterds« verzichtet. Hut ab. Best Bit: Der Schnösel mit der roten Brille bestellt eine heiße Gazpacho.

4 Sterne »State of Play« (Kevin Macdonald) Der Film entfaltet nicht die politische Tiefe, die aus Watergate-Aufarbeitungen wie »All the President’s Men« oder »Frost/Nixon« so große Filme machte, aber »State of Play« bewegt sich doch ähnlich souverän auf dem Terrain des ›muckraking journalism‹. Basierend auf einer BBC-Miniserie gleichen Namens, presst er seine fintenreiche Geschichte gar nicht erst ins Korsett eines Thrillers klassischer Bauart; das präzise, intelligente Skript entwickelt dennoch einen Sog, dem man sich ebenso wenig zu entziehen vermag wie Russell Crowes borstigem Charme. Best Bit: Jason Bateman in der Rolle eines flamboyanten PR-Fuzzis, der eben noch den Aufschneider gibt und wenig später heulend zusammenbricht.

4 Sterne »Drag Me to Hell« (Sam Raimi) Back to the roots! dachte sich Sam Raimi wohl, unterbrach seine Serie megalomaner Blockbuster und drehte diesen perfekten kleinen Old-School-Horrorfilm, dem man zu jeder Sekunde anmerkt, wie viel Spaß der Regisseur dabei hatte. Liebevoll würde man die Ausstattung nennen, lebendig die Dramaturgie – wenn man bei verfaulten Zähnen, Blutfontänen, Exorzismen und Leichenschändungen von liebevoll und lebendig reden kann. Raimi balanciert mühelos zwischen Schrecken und Scherz, zwischen Glibber und Grusel, und erteilt der Torture-Porn-Kultur seiner Kollegen im Vorbeigehen eine Abfuhr. Best Bit: Der haarsträubende Girlfight in der Tiefgarage.

4 Sterne »Adventureland« (Greg Mottola) Coming-of-age-Geschichten kommen nie aus der Mode, und diese hat dankenswerterweise, obwohl aus dem Apatow-Dunstkreis stammend, nicht die Teenie-Zoten im Gepäck, die man erwarten hätte können. Angesiedelt im Umfeld eines angeschmuddelten Vergnügungsparks in den späten Achtzigern, erzählt der Film ruhig und mit leiser Melancholie die Geschichte von James (Jesse Eisenberg, dieses Jahr auf Filme abonniert, die auf »–land« enden) und Em (Kristen Stewart, deren natürliches Charisma derzeit von den »Twilight«-Filmen überformt wird). Stereotypen haben keinen Zutritt im »Adventureland«, Klischees müssen draußen bleiben; der Film verfolgt das Geschehen mit klarem Blick, bleibt durchweg charmant und amüsant, sensibel und subtil, und vor allem erholsam normal. Best Bit: »No one ever wins a giant ass panda.«

4 Sterne »The Hangover« (Todd Phillips) Wer hat es nicht schon erlebt. Man wacht auf in Las Vegas, der Kumpel ist fort, ein Zahn fehlt, dafür hockt ein Baby im Schrank und ein Tiger im Bad. Dass ein Film den schieren Aberwitz dieser Prämisse über die Distanz zu halten imstande ist, hält man kaum für möglich, aber das ist genau das, was passiert. Das Drehbuch macht keine Gefangenen, es karriolt völlig unvorhersehbar von einem guten Gag zum nächsten, und zwischen den Gags sind noch mehr Gags. Arthouse ist das nicht, aber wenn es Arthouse wäre, wäre es verdammt gutes Arthouse. Best Bit: Phil, Stu und Alan nehmen an der Vorführung einer Elektroschockpistole teil.

4 Sterne »Star Trek« (J.J. Abrams) Star-Trek-Filme setzten in ihrem Publikum normalerweise ein gutes Stück Loyalität und Wohlwollen voraus; sie zu beurteilen war allein Sache der Trekker. J.J. Abrams‘ Relaunch, sieben Jahre nach dem letzten Abenteuer der U.S.S. Enterprise, roch ein wenig nach dem abermaligen Abschöpfen einer latent populären Marke, entpuppte sich jedoch als absoluter Glücksfall für das Kino. Das Beste: Diesmal können alle mit an Bord. Trek-Respekt wird wohl gezollt (Spock! Spock! Spock!), aber sonst bietet der Film Eskapismus pur für jedermann. Aus allen Rohren wird gefeuert, die Bilder sind groß, die Pointen sitzen, der Plot prescht voran. Kein ungelenker Idealismus, keine nerdiges Technikgedöns, keine unechten Kulissen. Der Films ist so enthusiastisch, frisch und fesselnd, dass einem darüber leicht das Bier schal wird und das Popcorn pappig. Was Franchise-Prequels angeht, steckt »Star Trek« sowas Halbgares wie »X-Men Origins: Wolverine« mühelos in die Tasche. Best Bit: Die Sache mit Uhuras Vornamen (der in der Serie und den Filmen nicht einmal fällt). Kirk: »So her first name’s Nyota?« Spock: »I have no comment on the matter.«

4 Sterne »Sunshine Cleaning« (Christine Jeffs) ›Sunshine‹ hat schon einmal funktioniert, dachten sich die Produzenten von »Little Miss Sunshine« wohl, engagierten sogar wieder Alan Arkin als kauzigen Großvater für diese feine kleine Dramödie, in der überdrüssige Kritiker gerne einen allzu kalkulierten Sundance-Indie-Hit sehen. Aber: Sie funktioniert, und das ist zu guten Teilen den Damen Adams und Blunt zu verdanken, die als ungleiches Geschwisterpaar eine großartige Chemie entwickeln. Auf der Suche nach einem besseren Leben putzen sie dem Tod hinterher, igitt, aber irgendjemand muss es ja machen. Und es ist eine »growth industry«, wie Rose sich mantramäßig ermutigt. »Sunshine Cleaning« versucht gar nicht erst, der beste Film aller Zeiten zu sein, bleibt schön low-key und ungezwungen, lässt Nebenplots auch einfach mal baumeln. Best Bit: Der erste Cleanup-Job. Und der zweite.

4 Sterne »Away We Go« (Sam Mendes) Der andere Mendes des letzten Jahres ging ziemlich unter. Nicht so ausgefeilt, profund und kunstvoll, nicht so teuer und üppig wie »Revolutionary Road«, ist dies ein Film aus dem Bauch heraus, eine kleine Geschichte über eine angehende Familie auf der Suche nach dem Leben, das sie führen will. Manch Kritiker bemäkelte, Verona und Burt – gewitzt, gesund, gebildet – hielten sich für was Besseres, indem sie angesichts des Lebenswandels anderer die Nase rümpften. Und wenn schon, vielleicht sind sie’s. Zu viel Toleranz ist gar nicht gesund. Best Bit: Der Besuch bei den alternativen College-Freunden, die davon überzeugt sind, uneinholbar glücklich zu sein. Mitbringsel: ein Kinderwagen. Oh-oh.

4 Sterne »Where the Wild Things Are« (Spike Jonze) Der Gutenachtgeschichten-Klassiker von Maurice Sendak gerät in den Händen von Spike Jonze zu bittersüßem Stimmungskino, das keinem Plot folgt und ohne Action, ohne Abenteuer im konventionellen Sinne auskommt. Fast kammerspielartig beschränkt sich der Film auf die schroffe, wetterlaunige Welt, in der die monströsen, aber drolligen Riesenkuscheltiere zuhause sind, die der Fantasie des familiengestressten Max entspringen. Sie alle repräsentieren Facetten seines Charakters, der an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht, aber den Absprung scheut. Der Film zelebriert das Geraufe und Getolle, die aufgeschürften Knie und die dreckigen Fingernägel einer sorglosen Kindheit, und lamentiert gleichzeitig deren unvermeidliches Ende. Best Bit: Das wortlose Ende: Max wieder zu Hause, bei Schokoladenkuchen und Milch, die Mutter beobachtet ihn nur. Schläft ein. Max schaut sie an, lächelt. Abblende.

4 Sterne »Looking for Eric« (Ken Loach) Loach, unser Mann für die gebeutelte Arbeiterklasse, entdeckt mit »Looking for Eric« Herz und Humor, ohne jedoch seinen Sinn für sozialen Realismus zu verlieren. Er lässt im trostlosen Leben von Postmann Eric (groß: Steve Evets), der einer unerfüllten Liebe nachhängt und an seinen missratenen Stiefsöhnen verzweifelt, einen Funken Hoffnung aufblitzen, und zwar in Form der einzigen Person, die ihn zu inspirieren vermag: Eric Cantona. Der Fußballgott flüstert ihm radebrechend Weisheiten ein, wenn es mal wieder gar nicht geht, und langsam kommt Linie ins Spiel. Ein erhebender, wahrhaftiger Film mit surrealen Ecken, der weder den Fußball noch das Leben zu erklären versucht, aber mithilfe von Ersterem das Beste aus Letzterem herauskitzelt. Best Bit: Das kuriose Finale: ›Operation Cantona‹.

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1 Stern »Antichrist« (Lars von Trier) Hape Kerkelings »Hurz!« hatte eindrucksvoll gezeigt, wie in Kunst verpackter Nonsens ruckzuck hoffähig werden kann. Dies ist der Film dazu; die Rolle von Lamm und Habicht übernehmen Fuchs und Rabe, der Rest ist eine selbstgefällige, hohle Mogelpackung von Film. Lars von Trier vertraut darauf, dass sein Nimbus als wahnsinniges Genie den völligen Übertritt ins Reich des Wahnsinns verschleiere, aber er verlangt zu viel. Schamlos missbraucht er die Bereitschaft des Publikums, sich ihm 90 Minuten lang auszuliefern, und drängt ihm eine üble Melange aus Ekelporno und Folterhorror auf, überzogen mit einem fadenscheinigen Firnis aus Anspruch. Über das Trauma, das der Tod eines Kindes auslösen kann, weiß der Film nichts Sinnvolles zu sagen (wie es Nicolas Roegs ähnlich gelagerter Arthouse-Horror »Don’t Look Now« noch konnte), zu beschäftigt ist er, Gliedmaßen zu durchbohren, Blut zu ejakulieren und Genitalien zu verstümmeln. Sehen möchte das niemand; von Triers Sadismus ist richtiggehend kriminell, mindestens verantwortungslos. Es ist bekannt, dass der Mann während der Arbeit zu diesem Film selbst mit Depressionen zu kämpfen hatte und sich in Behandlung befand. Daher also das krampfige Therapiethema, das pseudopsychologische Geschwätz und der frei assoziierte Unfug im Film, der außer merkwürdig gar nichts ist. Im Interview nach dem sprechenden Fuchs befragt, entschuldigt sich von Trier: »I was not really thinking.« Alles klar.

1 Stern »The Limits of Control« (Jim Jarmusch) Ein Film, den man durchaus lieben kann – aber nur, wenn man ganz doll will. Ansonsten ist das eine filmgewordene Geduldsprobe, eine prätentiöse Un-Geschichte, die vorgibt, sich zu bewegen, und doch auf der Stelle tritt. Jarmusch degeneriert das narrative Kino offenbar anhand eines Weniger-ist-Mehr-Rezepts, geht aber einen Schritt zu weit: Nichts-bleibt-Nichts. Christopher Doyle ist der größere Künstler hier; seine famosen Spanien-Bilder sind leider verschenkt, genauso wie die Zeit von Murray, Swinton, Hurt und García Bernal, mit denen sich der Film zu schmücken versucht.

1 Stern »The Informant!« (Steven Soderbergh) Bei Soderbergh weiß man nie, was man kriegt. Meisterwerk oder Fingerübung. Hier Letzteres. Soderbergh griff sich ein Buch über industrielle Mauscheleien und bebilderte es sorgfältig, vergaß aber leider, einen Film daraus zu machen; die Tonspur ginge glatt als Hörbuch durch. Soderberghs Ansatz ist zwar unverkennbar ironisch, bleibt aber zu undefiniert, um dem drögen Drehbuch satirische Schlagkraft zu verleihen, von einer dramatischen oder inhaltlichen ganz zu schweigen. Der Weltmarktpreis von Weizen-Extrakten ist halt nur bis zu einem gewissen Grade faszinierend (vgl. dazu: »The Insider«). So versucht sich der Film auch auf Matt Damons (durchaus tolle) Performance zu stützen, aber es ist eine Frage der Zeit, bis man sich an seinen zehn Über-Kilos, seiner Fönfrisur und dem unmöglichen Schnurrbart satt gesehen hat. Was er erzählt, dem könnte man folgen, aber ist es die Anstrengung wert? Die Geschichte zerfasert irgendwo in der Mitte, und Soderbergh macht sich gar nicht die Mühe nachzuschauen, ob der Zuschauer noch bei der Sache ist. Lässt seine Figuren weiter über Ungezeigtes reden und verbietet ihnen ansonsten jeden Kontakt zum Publikum. Die resultierende Langeweile bewegt sich auf hohem Niveau, aber sie bleibt: Langeweile.

1 Stern »2012« (Roland Emmerich) Warum fallen wir immer wieder auf solche Filme herein? Wir wissen doch längst: Wenn Emmerich draufsteht, geht zwei Stunden lang alles kaputt, und mehr ist nicht. Die erste Actionsequenz ist ja auf ihre Weise ziemlich grandios, eine lustige Arcade-Hatz durch das Inferno einer kollabierenden Stadt, aber sie raubt dem Film, der bis dahin auf bierernst macht, mit einem Schlag jede Glaubwürdigkeit. Ab sofort ist man genötigt, den aufklaffenden Erdspalten und einstürzenden Wolkenkratzern, die Millionen Leute in den Tod reißen, Unterhaltungswert abzutrotzen, und zwischendurch Mitgefühl für Einzelschicksale zu entwickeln, die die psychologische Tiefe von Strichmännchen besitzen. Formelkino gut und schön, aber muss es denn andauernd die gleiche Formel sein? Immer, wenn es um die Wurst geht und irgendwer brüllt »Wir haben keine Zeit!«, fühlt sich der jeweilige Held bemüßigt, innezuhalten und dem Nächstbesten inbrünstig seine Werte darzulegen oder noch mal klarzustellen, wer wen warum liebt. Dem aufmerksamen Zuschauer gelingt es immerhin sporadisch, inmitten des völlig haltlosen Armageddons ein wenig Erzählsubstanz zu erhaschen, aber er bereut das dann auch sofort. Natürlich ist das Problem interessant, welche Menschen wohl auf die Arche dürfen und welche nicht, aber Emmerich verwechselt Ethik mit Pathos und zeigt so viel Fingerspitzengefühl wie ein Pianist mit Boxhandschuhen. Vielleicht ist das auch nicht gefragt bei einem Blockbuster, und Katastrophenfilme brauchen am Ende lächerliche Dialoge, Melodrama und eine simple Moral, aber es schmerzt, echte Schauspieler wie Cusack, Ejiofor und Platt im Zentrum diesen Unfugs um ihre Würde kämpfen zu sehen, so dass man gar nicht so herzhaft lachen kann, wie man im Grunde möchte. Und wo ist eigentlich der Präsident? Der ist beten. Gute Leute muss man eben haben.

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[ veröffentlicht am 4. 5. 2010 ]

(Filmstreifen im Logo © Fabian Kerbusch/DIGITAL-CONNECTOR)