Best of Feuilleton 2021

Der Goldene Maulwurf

Der Goldene Maulwurf 2021
Die 10 besten Texte bzw. Paarläufe aus den
Feuilletons des vergangenen Jahres
*13. Jahrgang*

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(Vorwort und Kommentare hier.)

Inhalt: Pferde, Corona, Germany/Deutschland, Brettsegeln, Geburt, Nobelpreis­träger*innen, Gegenwartsästhetik, Gutes Deutsch, Habeck/Noske, BER

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1. Clemens Setz

Ulklären. In: Süddeutsche Zeitung, 8. 11. 2021, S. 12.

Sternstunde der Menschheit: Clemens Setz’ Büchnerpreisrede, die die »Süddeutsche Zeitung«, im traurigen Monat November war’s, netterweise abdruckte, ist einerseits der beste Feuilletontext des Jahres, andererseits die beste Büchnerpreisrede sämtlicher Büchnerpreisreden. Aber eigentlich ist auch das nur annähernd richtig (also falsch) ausgedrückt. Denn diese Rede ist, in einem Wort, zeitlos. Setz beschreibt extensiv, wie der Tierpsychologe Karl Krall Anfang des 20. Jahrhunderts sogenannten Zählpferden durch Klopfzeichen das Alphabet beibrachte (oder beizubringen glaubte). Durch »Klopfzeichen«, die die Pferde geben, kann Krall sich mit ihnen unterhalten (oder er glaubt, sich mit ihnen unterhalten zu können). Doch dann müssen die Pferde zusammen mit den Soldaten in den Weltkrieg ausrücken, und Setz imaginiert die Szene, wie Krall den Pferden erklärt, was Krieg ist. Gar keine Frage, dieser Text ist – für diesen Zweck leicht gekürzt – die beste Ausnutzung einer Zeitungsseite im Jahr 2021 gewesen.

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2. Marlene Streeruwitz/Benedict Neff

Werden wir politisch! In: Der Standard, 2. 1. 2021. / Zeit für die Glocke: Anmerkungen zu den konservativen Rebellen in Schwyz. In: Neue Zürcher Zeitung, 26. 11. 2021.

Zwei historische Dokumente! Marlene Streeruwitz’ »Anregungen für 2021«, erschienen ganz am Anfang des Jahres, und Benedict Neffs ethnologische Reportage, erschienen am Ende des Jahres, fassen das Corona-Jahr 2021 perfekt zusammen. Streeruwitz schreibt zu Beginn ihres Essays, dass sie nicht zum Corona-Test gehen wollte, und führt gleich schwerste Geschütze gegen die mittlerweile gewesene Regierung Kurz auf: Verlust der Grundrechte, Nürnberger Rassengesetze, Entzug der Bürgerrechte. Hierauf folgt aber sogleich die ebenso hyperbolische wie kunstvolle Peripetie. Beim schriftstellerisch genau erfassten Besuch eines Corona-Testzentrums überkommt sie ein ungekanntes Gemeinschaftsgefühl, »und seither möchte ich jeden Tag testen gehen«. Streeruwitz’ These kann man fast wörtlich so wiedergeben: Die Regierung ist deppert, aber die Leut’ sind vernünftig. Nun gibt es einen Haufen Typen, die behaupten, dass diese These im Laufe des Jahres falsifiziert worden sei und dass es sich mittlerweile genau umgekehrt verhalte: Die Regierungen sind vernünftig, aber die Leut’ sind deppert. Hier kommt Benedict Neff ins Spiel. Er balanciert in wunderbarster Eleganz zwischen den Extremen. Denn so sehr er die prototypischen konservativen Corona-Rebellen aus Schwyz zwischen den Zeilen als irrational darstellt, so sehr werden sie einem von Absatz zu Absatz zumindest nicht noch unsympathischer. Dazu tragen nicht nur Neffs geschickt eingestreute Helvetismen wie »treicheln«, »Träsch«, »Geislechlepfä«, »Meinifüdle«, »Sühudi« usw. bei, sondern auch viele fantastische Sätze über die Schwyzer Bevölkerung. Um nur einen einzigen herauszugreifen: »Ihr Verhältnis zu Wilhelm Tell ist noch nicht ironisch geworden.«

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3. Fabian Wolff/Maxim Biller

Only In Germany. In: The Time Online, May 2, 2021. / Der gute Deutsche. In: Die Zeit 16/2021 (15. 4. 2021), S. 48.

Fabian Wolffs Artikel handelt vom Nichtverstehen, und wer glaubt, ihn nach der Lektüre verstanden zu haben, hat ihn nicht verstanden. Der Text, der ausgedruckt genau 42,195 Kilometer lang ist, erschien sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch, aber da Fabian Wolff eingangs explizit schreibt: »I don’t enjoy writing this in German«, zeichnen wir den Autor explizit nur für die englische Version aus. Es handelt sich bei diesem epochalen Artikel um eine zeitgemäße Neuauflage von Gershom Scholems epochemachendem Aufsatz »Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch«, und wie gut Wolffs Text ist, erkennt man auch daran, dass er auf breiteste, z. T. wütende Resonanz gestoßen ist. So schrieb etwa die »taz«: »90 Prozent aller Juden:Jüdinnen in Deutschland […] heißen Fabian«, und das soll natürlich ironisch gemeint sein, aber im Grunde bedeutet es eben doch nur, dass die »taz«-Autoren nicht in der Lage sind, Fabian Wolff argumentativ das Wasser zu reichen. Bei allem gebotenen Ernst kalauert Wolff freilich auch selbst mit Namen herum, so wenn er eine vom »Welt«-Redakteur Frederik Schindler erstellte Reihung als »Schindler’s list« tituliert, oder wenn er insinuiert, dass ein »FDP politician named Lorenz Deutsch« typisch deutsch gehandelt habe (klugerweise wirft Wolff solches dem von ihm ebenfalls namentlich erwähnten Isaac Deutscher nicht vor). – Mit Fabian Wolff gelesen, versteht man dann plötzlich auch, dass Maxim Billers kurz zuvor erschienenes Porträt von Durs Grünbein der krassestmögliche Diss ist. Eigentlich war der wirkmächtigste Text Billers in 2021 ja seine fiese Abrechnung mit Max Czollek, doch im Gegensatz zu diesem Pamphlet ist, was er über Durs Grünbein schrieb, spot-on. Am Ende von Billers Text denkt man wirklich, dass Durs »Götterliebling« Grünbein den ganzen Tag dasitzt und an Auschwitz denkt – Billers Parodie auf »den guten Deutschen«, bei der nur der gute Deutsche denkt, dass er dabei gut wegkommt.

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4. Jérôme Buske

Real existierendes Brettsegeln. In: Jungle World 18/2021.

Dieser Text erschien bereits im Mai 2021, aber noch Wochen und Monate später wurde in den Kaffeehäusern Teams-Meetings zwischen Greiz und Schleiz, zwischen Annaberg und Buchholz, zwischen Leinefelde und Worbis darüber diskutiert. Diese kulturhistorische Betrachtung handelt von der friedlichsten Sportart der Welt, dem Windsurfen, das in der DDR aus antianglizistischen Gründen als Brettsegeln bezeichnet wurde. Dort wurde dann natürlich auch nicht an die große Glocke gehängt, dass sich ein Bootsbauer aus Königs Wusterhausen für die ersten Brettsegel von einer Bauanleitung aus »Micky Maus« inspirieren ließ. Es geht in dem Artikel im Weiteren dann noch um die sicherheitspolitische Bedeutung des Brettsegelns, um einen selbst in der etablierten DDR-Geschichtsschreibung weitgehend unbekannten Eklat, zu dem es kam, weil 1978 einige Brettsegler Hawaiihemden trugen, sowie um das »widerständige Potential des Brettsegelns«. All das liest sich vor den bekannten sogenannten Spannungen zwischen Ost und West natürlich brennend aktuell, und vielleicht wäre das ja überhaupt die Lösung: Segelt mehr Brett.

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5. Mareike Nieberding

Der Anfang vom Anfang. In: SZ-Magazin 51/2021, S. 8–18.

Hinter dem besten Cover des Jahres und den fantastischsten Fotos des Jahres verbirgt sich die aufregendste Rekonstruktion des Jahres: Was bei einer Geburt genau geschieht, wie wenig die Forschung über den Geburtsvorgang eigentlich überhaupt weiß, was getan werden könnte und müsste, um den Hebammenberuf attraktiver zu machen, all das beschreibt Mareike Nieberding hier ebenso sachlich wie minutiös, ebenso tabulos wie berührend, und frau und man fühlen sich auch deswegen sofort direkt in diesen Text hineingezogen, weil sie die ganze Zeit hindurch geduzt werden. Dieser Text ist wahrlich augenöffnend, und wenn du ihn zu Ende gelesen hast, fühlst du dich wie neugeboren.

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6. Elfriede Jelinek/Peter Handke

Das heiße Messer in der Butter. In: junge Welt, 10. 7. 2021. / Seelenheimat Sprache. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 5. 2021, S. 9.

Jelinek taucht in unserem Best-of natürlich nicht aus dem Grund auf, dass es nach nunmehr achtzehn Jahren einfach mal wieder Zeit für sie würde, einen bedeutenden Preis zu erhalten, sondern aus dem Grund, dass ihr ausgezeichneter Text, den die alle Tiefen des Sozialismus und Kapitalismus überlebt habende »junge Welt« veröffentlicht hat, in komprimierter Form die besten Jelinekismen enthält. Jelinek schreibt dort sehr persönlich über Gisela Elsner, und gleichzeitig gratuliert sie unübertrefflich lakonisch auch schon allen künftigen Preisträger*innen des neuen Gisela-Elsner-Preises: »Sie sollen ein Leben haben und diesen schönen Preis dazu«. – Im direkten Vergleich zu Jelinek wirkt ihr Arbeitskollege Peter Handke nicht lakonisch, sondern bemüht altersmilde. Handke, der bekanntlich Gefecht und Charakter liebt, glaubt, auf einen Text des »FAZ«-Balkankorrespondenten Michael Martens reagieren zu müssen. Und nur für den Fall, dass irgend jemand der Ansicht anhängen sollte, ein Handke wäre imstande, die »FAZ« zu überfliegen, betont er, dass er den besagten Artikel »Wort für Wort« gelesen habe! Er stellt auch gleich richtig, dass es sich nicht um eine Richtigstellung handelt, sondern um »Anmerkungen«, auf die wir hier allerdings nicht im Einzelnen eingehen wollen. Denn Handkes eigentliche Leistung liegt ganz woanders. Indem er an die »FAZ« einen Leserbrief geschickt hat, der dort aber offenbar versehentlich nicht auf der Leserbriefseite abgedruckt wurde, hat er die ja schon völlig in Vergessenheit geratene Form des Leserbriefs wieder reanimiert und nobilitiert, super.

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7. Gregor Dotzauer

Das Cute ist das Gute. In: Der Tagesspiegel, 10. 8. 2021.

Wie immer wenn Gregor Dotzauer sich anschickt, eine Rezension rauszuschießen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder argumentiert er so verdammt gut, dass sich die Betreffenden mit seinem Lob die Wohnungen und Häuser in allen ihren (bei Schriftsteller*innen üblichen) zwei bis drei Wohnorten komplett tapezieren können. Oder. – Diese beste Rezension des Jahres ist leider kein Lob, sondern so etwas wie das Gegenteil davon. Das ist, versteht sich, bad für die Betroffenen, aber natürlich nice für die Herzlosen unter den Leser*innen. Es geht um das von Moritz Baßler und Heinz Drügh verfasste Buch »Gegenwartsästhetik«, das von allen Seiten beballert wird, und als es schon gar nicht mehr auszuhalten ist, kommt auch noch Dotzauers deeper Ausruf: »Die Tauglichkeit dieser Gegenwartsästhetik würde sich da erweisen, wo sie mit einem unemanzipierten Publikum und, sagen wir, Helene Fischer zurechtkommen müsste.«

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8. Michael Maar/Sebastian Hammelehle/Claudia Voigt

Was ist gutes Deutsch? In: Der Spiegel 20/2021, S. 118–120.

Das denkwürdigste Interview des Jahres ist möglicherweise das Interview, das Margrit Sprecher und Daniel Puntas Bernet mit Claas Relotius führten und das am 1. Juni 2021 in der Zeitschrift »Reportagen« veröffentlicht wurde. Relotius soll dort gesagt haben, er habe in der unverrückbaren Überzeugung gelebt, dass die Textsorte Reportage und die Textsorte Märchen identisch sind, deswegen habe er sich ja dann auch in Therapie begeben. Genau können wir es nicht wissen, ob es sich wirklich um das denkwürdigste Interview des Jahres handelt, da wir es nicht gelesen haben. – Tatsächlich unterhaltsam hingegen ist das Interview über neojakobinische Sprachpolitik, das die »Spiegel«-Leute Sebastian Hammelehle und Claudia Voigt mit dem Stilpapst Michael Maar geführt haben. Gefragt, ob er die sogenannte (mittlerweile jahrzehntealte) »neue« Rechtschreibung für einen Fehler halte, antwortet Maar: »Der Engländer sagt: If it ain’t broke, don’t fix it.« Usw. usf., wir haben das ganze Interview jedenfalls »voller Erregung« gelesen, so wie Michael Maar damals in der Bamberger Mensa den ersten Taschenbuchband des Josephsromans.

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9. Erik Zielke

Eine deutsche Tragödie. In: neues deutschland, 15. 10. 2021.

Robert Habecks zusammen mit Andrea Paluch und Frank Trende verfasstes Theaterstück »1918« über den Matrosenaufstand in Kiel ist leider vergriffen, umso verdienstvoller ist es, dass Erik Zielke doch noch irgendwo ein Exemplar aufgetrieben hat. Wie beim Deutsch-Abitur verfasst Zielke erst eine kurze Inhaltsangabe (Erster Weltkrieg ist over, Revolution bricht aus, Noske kommt, Noske lässt die Revolutionäre erschießen) und analysiert danach den Sprachstil des Dramas. Aber gerade weil Zielke sich dieser klassischen Herangehensweise bedient, ist der Effekt, den er erzielt, umso stärker: Denn wer hätte gedacht, wie leicht es sich nachweisen lässt, dass der stets auf sympathische Wirkung bedachte, wuschelige Vizekanzler ausgerechnet den Schlächter Gustav Noske offensichtlich zu seinem politischen Vorbild erkoren hat. Die beste, aber vielleicht auch unheimlichste Stelle des Artikels schließlich ist jene, in der einige Sätze aus dem Drama zitiert werden, und diese Sätze klingen wirklich 1:1 so, als stammten sie aus der Präambel des Grünen-Parteiprogramms oder aus einem Drama von Friedrich Hebbel: »Die Gegenwart fordert all unsere Aufmerksamkeit. […] Wir befinden uns mitten in einer Zeit des Übergangs. […] [W]ir […] gestalten den Übergang. Wir haben die Pflicht, ihn zu gestalten.«

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10. Peter Richter

Reißt ihn ab. In: Süddeutsche Zeitung, 20./21. 11. 2021, S. 17.

Tatsächlich standen auf unserer Longlist auch Texte von Hedwig Richter und Ilja Richter, aber das Rennen gemacht hat dann doch Peter Richter. Denn seine Abrechnung mit dem sogenannten Hauptstadtflughafen BER ist der furioseste Artikel des Jahres. Richter hat eigentlich nur den Fehler gemacht, von diesem Flughafen abzufliegen und dann wieder nach Berlin zurückzufliegen, und er tut in seinem Artikel im Wesentlichen nichts anderes, als die Eindrücke zu schildern, die jede*r Besucher*in von diesem Flughafen haben. Nach beendeter Lektüre des Artikels weiß man nicht: soll man lachen, soll man weinen, soll man diesen Flughafen meiden oder soll man ihn anzünden. Denn so sieht es am BER aus: Alles ist ein Desaster, alles ist zum Verzweifeln, alles ist unlösbar, nichts ist möglich. Stilistisch ist Richters Artikel übrigens, wie nicht anders zu erwarten, grandios: Von »Thürklinken« ist die Rede, es gibt eine wunderbare Anspielung, die nur Richters ostdeutsche Peers fühlen können (»Die Wegweiser sind in dem Weinrot gehalten, das Berlin-Besucher früher von den Wink-Elementen des BFC Dynamo her kannten«), auf Shakespeare wird alludiert, Buster Keaton wird erwähnt, und als »lange schwarze Fahnen mit Mercedes-Sternen« dann an Richter vorbeiziehen (oder er an ihnen), heißt es sachlich: »Wenn man die Augen nur ein ganz klein wenig zusammenkneift, werden fast automatisch rote [Fahnen] mit Hakenkreuzen daraus. Das ist nicht böse gemeint. Das ist nur einfach so.« Die Sensation des Artikels ist eigentlich die: Richter führt den messerscharfen Beweis, »dass Berlin faktisch gar keinen Hauptstadtflughafen hat«. Und let’s face it: Das ist genauso unabänderlich wie die Tatsache, dass das Feuilleton faktisch gar keinen Maulwurf hat.

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[ veröffentlicht am 11. 1. 2022 ]