Rheinischer Merkur trifft Rheinischen Hausfreund

Konstanz, 29. September 2010, 13:01 | von Marcuccio

Komischerweise kam kein Feuilleton drauf zu sprechen, obwohl es wirklich sehr, sehr nahe lag, als Chefredakteur Michael Rutz genau heute vor einer Woche und einem Tag im Deutschlandradio Kultur (sinngemäß) bestätigte:

Ja, der RM werde als selbstständige Publikation zum Jahresende eingestellt. Und ja, er werde in Form eines »Zeit«-Supplements weitergeführt, als »Schatzkästlein geistiger und geistlicher Inhalte« (mp3).

Schwerer Fall von Dauerassoziation wahrscheinlich, aber seit diesem »Schatzkästlein«-Statement klingeln meine Hebel-Glocken, und zwar so, dass ich an den »Rheinischen Merkur« gar nicht mehr denken kann, ohne den »Rheinischen Hausfreund« notorisch mitzufantasieren. Sprich das Kalendergeschichten-Gesamtwerk des evangelisch-badischen Lehrers und Pfarrers Johann Peter Hebel.

RM-Anzeige (Klicken zum Vergrößern)Der im Radio verkündete Wandel der katholi­schen Wochenzeitung zum »Schatzkästlein« hatte sich symbolisch ja schon mit der Werbe­kampagne ab der zweiten Augusthälfte abge­zeichnet: Auf den vielen Anzeigen in den diver­sen Printmedien (z. B. »Welt« vom 9. Septem­ber, S. 27) sah man ein – ja was eigentlich: Schatzkästlein? Auf jeden Fall einen raumgreifenden Tunnel. Einen 3D-artigen Kubus, austapeziert mit weinrot getünchten »Rheinischen Merkur«-Zeitungsseiten, dazu der Slogan: »Gehen Sie mit uns in die Tiefe.«

Zeitungstotentanz

Ein ganz klein wenig erinnerte das Design der Anzeige an leere Ladenlokale in schlechteren Shopping Malls. Ihr wisst schon: die Läden, die ihr Schaufenster mit BILD-Zeitungspapier zukleben und offiziell behaupten: »Wegen Umbau geschlossen.« Wobei der semiotische Subtext lautet: »An dieser Stelle schon lange Leerstand.« Oder: »Hier wahrscheinlich nie mehr geöffnet.«

Ob der verwaiste Zeitungsverschlag also schon pure Symbolsprache war? Zumindest nach der Entscheidung der Deutschen Bischofs­konferenz wirkt der Zeitungskubus so sackgassig, dass man seine Auskleidung mit RM-Seiten glatt als literarische Ansage lesen muss: Rechtswandig weist »Regent Rotstift« erbarmungslos aufs Ende der Tiefe, und zwar genau dorthin, wo die RM-Titelschlagzeile klagt: »Es fehlen klare Sätze« (auch zur Zukunft des RM?).

Linkerhand liegen »Christ und Welt« am, jawohl, Boden – mithin das einzige RM-Ressort, das ab Januar weiterleben wird, indem es (vorerst) als Supplement der »Zeit« aufgehen soll. Man kennt solche Zeitungsasylgeschichten und ihren Ausgang zum Beispiel vom Schicksal der »Wochenpost« her. Und wünscht schon jetzt: Herzliches Beileid. Der RM-Werbeabteilung aber volle Gratulation zu diesem gelungenen Zeitungstotentanz.

Das feuilletonistische Schatzkästlein

Der eine und einzige RM, den ich mir mal aktiv gekauft habe, ist jetzt fast 10 Jahre alt und enthält eine Art literarisches Quartett, das der RM zur Frankfurter Buchmesse 2000 veranstaltet hat: Kulturredakteurin Christiane Florin diskutierte mit Rainer Moritz, Tanja Kinkel und Jürgen Bräunlein über die Frage:

»Wie viel Talent braucht der Erfolg?« (RM Nr. 44 vom 3. 11. 2000, S. 20).

Im deutschen Literaturbetrieb florierten gerade die Popliteraten und Fräuleinwunder, zeitgleich war Verona Feldbusch auf dem Höhepunkt ihrer Peep- und Blubb-Macht. Und Jenny Elvers war noch keine knallharte Schauspielerin, sondern Synonym für Fragen wie diese:

»Hat auch der Literaturbetrieb seine Jenny Elvers?«

Jürgen Bräunlein, der darauf antworten sollte, hatte gerade »Schön blöd« veröffentlicht, ein Buch über den Medienerfolg der Untalentier­ten. Und Rainer Moritz berichtete von einer »Leihdogge«, die er für ein Autorenfoto-Shooting von Sibylle Berg bezahlen musste.

Wie irre, dieses historische Gespräch heute nachzulesen. Höhepunkt aber diese Antonomasie von Jürgen Bräunlein:

»Für mich ist Benjamin von Stuckrad-Barre der Zlatko der Literatur, auch wenn er eine Zielgruppe hat, die sich für etwas feinsinniger hält.«

Heute kaum noch ohne historisch-kritischen Apparat vermittelbar, aber vor zehn Jahren – TV-Deutschland hatte gerade die erste Big-Brother-Staffel hinter sich – entfaltete ein Zlatko tatsächliche Schlagwort-Qualitäten (»Zlatkoisierung des Fernsehens« u. ä.).

Eine Kalendergeschichte aus dem RM-Feuilleton

Die in feuilletontypischer Zeitgeist-Hybris formulierte Wendung stiftet also eine Erzählung, die letztlich auch nicht anders funktioniert als das »Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes« (zu dem es im Nachwort der Reclam-Ausgabe heißt):

»Gleich vielen großen Erzählern ist Hebel nicht eigentlich Erfinder, wohl aber ein Meister der Darstellung, ein Plastiker des Worts und des Satzgefüges, ein Freund aller Gegenständlichkeit. Passiert doch in seinen Geschichten niemals etwas in einem x-beliebigen Wirtshaus, sondern durchweg in einem ›Schwanen‹, ›Bären‹ oder ›Roten Ochsen‹, ebenso wenig an einem ungenannten Ort, vielmehr in Segringen, Brassenheim oder Mauchen.«

Jetzt warten wir nur noch auf den Germanisten, der das Namedropping der Popliteratur aus der Kalendergeschichte ableitet, irgendeinen ganz Wilden, der Johann Peter Hebel mit Douglas Coupland kurzschließt. Und warum nicht? Es war Coupland, der mal zu Protokoll gab (als ihn Marc Deckert in irgendeinem NEON-Interview mit dem »Tod der Popliteratur« nervte):

»Ich finde Autoren schrecklich, die im Jahr 2003 Sätze schreiben wie: ›Er stieg in seinen Wagen und fuhr zu dem Supermarkt.‹ Nein, es muss heißen: ›Er stieg in seinen Honda Accord und fuhr zu Wal-Mart.‹ Manche Autoren versuchen ihre Literatur für die Ewigkeit haltbar zu machen, indem sie all den oberflächlichen Mist weglassen, der uns umgibt.«

Namentlich konkret und enzyklopädisch aufgeladen geht’s also zu, im RM-Feuilleton mit einem ›Zlatko der Literatur‹ nicht anders als bei Hebel oder Coupland: Dass aber ausgerechnet Coupland, der in bester »Schatzkästlein«-Tradition fürs poetische Gegenteil des x-Beliebigen plädiert, die »Generation X« erfunden hat: Das ist und bleibt mein Lieblings-Treppenwitz der Popliteraturgeschichte.

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