Von Berlin nach Baden-Baden

Berlin, 26. Oktober 2011, 07:59 | von Josik

Sophie Rois hatten wir schon lange nicht mehr schreien hören, deshalb entschlossen wir uns, mal wieder in die Volksbühne zu gehen. Wir waren zwar erst vier Tage zuvor dort gewesen, aber nur im Roten Salon, wo das neue und natürlich neuartige Computerspiel »TwinKomplex« vorgestellt wurde, für das berühmte Fassbinder-Schauspieler wie Irm Hermann leibhaftig Videosequenzen eingespielt haben.

Weil »Der Spieler« ja einer der kürzeren Dostojewskis ist, kann, so dachten wir, die Inszenierung auch nicht soo lange dauern. Ein Irrtum! Schon der Titel war gefaket, es ging hauptsächlich gar nicht um den »Spieler«, sondern unter anderem um das viel weniger bekannte, aber noch viel bessere »Krokodil«, und wie immer bei Castorf waren die Videosequenzen und Sophie Rois’ Geschrei am besten.

In der Pause bekamen wir heraus, dass das Stück noch bis Mitternacht dauern sollte, insgesamt also fünf Stunden. Natürlich wollten wir aber auch noch ein Bier trinken und gingen deshalb unverzüglich in eine der umliegenden Kneipen. Wir kamen wieder auf die Berlin-Wahl zu sprechen und die wundervolle Szene vom Wahlabend, als das SPD-Parteivolk einem von Wowereit in der Hand gehaltenen Teddybären zujubelte.

Außerdem erfuhr ich von der hochschwangeren Kellnerin, dass »TwinKomplex«, das Computerspiel aus dem Roten Salon, von Leuten entwickelt wird, die früher mal »Lettre International« geleitet o. ä. haben, und dass Dostojewski in Moskau geboren ist!

Weniger schön war der Nachhauseweg. Ganz entgegen meiner Gewohnheit ging ich nicht zu Fuß, wie es Rousseau, Kant, Franz Hessel und eben alle großen Denker vorgemacht haben. Sondern weil ich am Hackeschen Markt eine S-Bahn schon dastehen sah, sprang ich vor lauter Freude gleich hinein und fuhr los.

Seit nunmehr anderthalb Jahren war ich wegen des S-Bahn-Chaos immer entweder gelaufen oder U-Bahn gefahren, und kaum schloss sich die Tür, wurden natürlich die Fahrscheine kontrolliert. Es gab nichts drum herumzureden, weder hatte ich überhaupt nur daran gedacht, dass ich ein Ticket brauche, noch hatte ich damit gerechnet, dass die S-Bahn nach so vielen Jahren Chaos plötzlich wieder Kontrolleure ausschickt.

Ich ließ mir sofort den Überweisungsschein aushändigen. Die 40 Euro Strafe musste ich dann an die infoscore Forderungsmanagement GmbH überweisen, die kurioserweise in 76532 Baden-Baden sitzt, wo ja auch schon Dostojewski usw. usw.
 

3 Reaktionen zu “Von Berlin nach Baden-Baden”

  1. Kasus

    Ich habe noch selten eine so schöne Reisebeschreibung gelesen: Wie einmal vierzig Euro von Berlin nach Baden-Baden reisten. Reizend.

  2. Jeeves

    Toller Bericht. Und ganz ohne die Modevokabel “spannend” zu benutzen. In einem feuilletonistischen Text heute: eine Rarität.
    Übrigens. der oben en passant erwähnte Hessel, der berichtete vor über 80 Jahren von den damaligen Mode-Adjektiven “kolossal” und “zauberhaft” und benutzt sie in Anführungszeichen in seiner Beschreibung des “Wintergarten”, vis-a-vis vom Bahnhof Friedrichstraße. Er wäre entsetzt über die Armseligkeit unseres “spannend”, immer wieder nur “spannend”; alle halbe Stunde in jedem Bericht in den Kultur-Sendern über irgendeinen Kunstfurz oder Kunstfurzer, der angeblich “spannend” sei.
    Aber, wie gesagt, es kommt ja hier ober nicht vor, drum: Danke!

  3. ebert

    Twinkomplex scheint ja wirklich ein interessanter Fall zu sein, die Zeit und die Süddeutsche berichten auch darüber. Ein Spiel mit renommierten Schauspielern – sollte das Medium endlich erwachsen werden?

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