»Morgen war Weihnachten.«

Leipzig, 16. Dezember 2010, 14:55 | von Paco

Christmas Tree (Quelle: Wikimedia Commons)Um kaum einen Satz ist in der Literaturtheorie so gestritten worden wie um diesen: »Morgen war Weihnachten.« Im Kontext: »Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachten.«

Immer wenn ich in Göttingen in den Käte-Hamburger-Weg einschwenke, um zu diesem Gebäude zu gelangen, muss ich an den Satz denken, auch im Hochsommer.

Denn Käte Hamburger hat sich für ihre nicht weniger als epochal zu nennende »Logik der Dichtung« (1957) genau diesen weihnachtlichen Satz herausgesucht, um die Funktionsweise des epischen Präteritums zu demonstrieren. Denn dass morgen Weihnachten war, klingt ja erst mal nach erstklassigem grammatisch-logischen Unsinn.

Das epische Präteritum aber, soweit jetzt mal die Kurzfassung, zeige nicht Vergangenheit an, sondern lediglich die Fiktionalität eines Textes. Das ist dann in der Folge hundertfach interpretiert, kritisiert, erweitert worden, ein literaturtheoretischer Hexenkessel allererster Güte!

Es gibt nun natürlich in den Literaturen aller Zeiten und Sprachen Unmengen solcher »morgen war«-Sätze. Der von Käte Hamburger gewählte stammt komischerweise aus einem relativ unbekannten Roman von Alice Berend: »Die Bräutigame der Babette Bomber­ling« (S. Fischer 1915, Neuauflage bei AvivA 1998, Volltext im Projekt Gutenberg). Die groschenheftartige Geschichte ist aber weder unlustig noch ganz unspannend: Mutter Bomberling sucht händeringend nach einem passenden Bräutigam für ihre adrette Tochter Babette, deren Verehrer jedoch von der eher unangenehmen Mitgift vergrault werden: der väterlichen Sargfabrik.

Und bevor ich jetzt gleich zur Weihnachtsfeier des Instituts aufbreche, zitiere ich die weihnachtliche Passage etwas ausführlicher aus dem Projekt Gutenberg heraus. Und oh Wunder, der berühmte Satz lautet sogar leicht anders, ›Weihnachten‹ heißt dort jetzt ›Weihnachts­abend‹, und damit klingt es gleich noch ein bisschen wundersamer:

»Eine Mutter geht von Pflicht zu Pflicht.

Frau Bomberling sagte sich, daß sie etwas tun müsse, um dünner zu werden. Noch einmal wollte sie Babettes Glück nicht aufs Spiel setzen.

Helene hatte gestern einen Arzt genannt, der die Wohlhabenden mager kurierte. Sie mußte ihn aufsuchen.

Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen war Weihnachtsabend.

Babette half der Mutter bei dem Ausschmücken. Ihr Arbeitsfeld war der Gipfel der Tanne. Frau Bomberling wagte nicht zu klettern, Babette aber stand auf einem Stuhl, der auf den Tisch gehoben war. Sie befestigte an die Baumspitze einen großen Stern, und darunter kam ein Wachsengel, der aus einer gläsernen Trompete ›Friede auf Erden‹ blies.«

Usw.
 

7 Reaktionen zu “»Morgen war Weihnachten.«”

  1. Hansi

    »Morgen war Weihnachten.«

    Bei diesem Satz weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob er Fluch oder Segen ist.

    Einerseits sind mit der Erforschung dieser stilistischen Fragestellung die ganzen Literaturwissenschaftler von der Straße geholt, die sonst vor lauter Lebensunfähigkeit verhungern oder erfrieren würden.

    Andererseit hängen die dann alle an der Universität rum und quälen unschuldige Studenten mit der Suggestion, es wäre wichtg, nein, wirklich wichtig, nein, lebensnotwendig wichtig, was sie da täten.

    Und wir sind so doof und glauben denen das dann auch noch.

    »Morgen war Weihnachten.«

    Ich weiß nicht…

  2. Lukas

    Ich bin Nicht-Germanist und trotzdem intensiver Sprachnutzer. „Hansi“ macht mich auf ein anderes Problem aufmerksam, das sich für ellenlange Abhandlungen eignen würde: Warum verwenden viele Schreibende bei der indirekten Rede den Irrealis („wäre“) an Stelle des doch logischen Conditionalis („sei“)?

  3. Phorkyas

    Dieser Fall erscheint mir klar: Der Sprecher kann so seine Distanz zu der wiedergegeben Aussage verdeutlichen; dass Hansi diese Suggestionen wohl fuer Kappes haelt. (Ich muss aber zugeben, dass ich doch noch einmal in der Wikipedia nachgeschlagen habe, ob dieses sprachliche Mittel grammatikalisch erlaubt ist – und ich das nicht mit ’ner anderen Sprache verwechsle)

    Sonst is‘ doch wurscht: Ob man die Zufallgeraeusche einer Autotuer optimiert, quantenphysikalische Phaenomene studiert oder ueber das epische Praeteritum forscht, soll doch jeder der Nabel seiner Welt sein…

  4. Hansi

    @Lukas: Weil hier keine indirekte Rede vorliegt. Sondern das, vom dem der Phorykas sprechen tuen tut. Und bitte ersparen Sie meinem Namen das “ und das „. Danke!

  5. almofada

    @Lukas, @Phorykas, @Hansi: es ist meiner Erfahrung nach noch viel einfacher: das Wissen um andere Formen ist verschütt gegangen, und man greift die Form auf, die am wenigsten (Denk-) Arbeit macht. Schlamperei und Dummheit setzen neue Standards.

  6. Phorkyas

    Nun war ich auch der letzte, der alles über einen Kamm geschoren hat… aber so pauschal, werte(s) almofada, möchte ich das doch nicht durchgehen lassen. So weich man sich bettet, so schläft man.

    Nur kann ich den zweiten Hauptsatz nicht dafür verantwortlich machen, dass meine Birne immer weicher und meine Sprache immer schlampiger wird.

    Immerhin standen diese gewiss noch nicht epischen Einlassungen hier unter einem Beitrag über das epische Präteritum und diskursiv, hermeneutisch schien hier Hansis Konjunktiv II zu obsiegen, als ein intuitiv oder bewusst korrekter Gebrauch, womithin Ihre Standards auf diese inkriminierte Stelle anzuwenden Sie sich bemüßigt nicht zu sehen bräuchten,

  7. Phorkyas

    @almofada: Bitte entschuldigen oder ignorieren Sie vorigen, flapsig-pöbeligen Kommentar. Der zwölfstündige Keksverzehr muss mir zu Kopf gestiegen sein, das setzte die nötige Selbstzensur wohl aus.

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