Kulturtipp gone mad:
Interview nach dem »Matussek«-Marathon

Münster, 26. Oktober 2010, 19:45 | von Paco

In den vergangenen fünf Monaten hat Philipp Spreckels kontinuierlich jeden Morgen eine Folge »Matussek« gesehen, alle bisherigen 151 Folgen des gefeierten Videoblogs von Spiegel Online, das Matthias Matussek dort seit 2006 betreibt. Gestern trafen wir uns in Münster zu einem Gespräch, im »fyal«, unweit des Doms.

Der Umblätterer: Philipp, die Marathonläufer-kommt-ins-Ziel-Frage: Wie fühlst du dich nach 151 Folgen »Matussek« am Stück?

Spreckels: Geschafft, aber glücklich. Wobei nun der Entzug einsetzt, weil ich auf dem Ist-Stand bin und so schnell keine neuen Folgen nachkommen. Das ist ja immer so nach solchen extremen Serien-Erfahrungen. Als ich damals in kürzester Zeit alle Altfolgen von »Battlestar Galactica« aufgeholt hatte oder neulich »Mad Men«, stand ich vor demselben Problem: Ich musste auf die Fortsetzung plötzlich warten. Beeil dich mal, Matussek, wann kommt endlich Folge 152!

Der Umblätterer: Wieso hast du dir eigentlich systematisch alle »Matussek«-Folgen gegeben?

Spreckels: Morgens beim Kaffee lese ich normalerweise SPON und andere News-Seiten, auch Blogs usw. Am besten passen zum Frühstück aber kurze Videos, und »Matussek« ist da eine gute Sache, weil die Folgen nicht zu lange dauern, vier, fünf, sechs Minuten. Ich bin keiner, der sich morgens 50 Minuten lang eine Folge »Mad Men« ansieht. Auf die Idee kam ich übrigens, als ich bei euch auf den »Matussek«-Episodenführer gestoßen bin. SPON selbst ist ja in Sachen »Matussek« nicht so gut sortiert, die haben da nur diesen endlosen ungeordneten Feed, in dem auch mal Folgen fehlen.

Der Umblätterer: Es hat mir sofort eingeleuchtet, alle Episoden chronologisch nacheinander ansehen zu wollen. Matussek beginnt ja irgendwann, wiederkehrende Elemente einzuführen. Beim Wandern im Harz sammelt er das »Ding« auf, dieses unförmige geklöppelte Etwas, das er dann als Figur behandelt und immer mal wieder aufkreuzen lässt. Leider wurde das »Ding« später auf mysteriöse Weise entführt und ist bis heute verschollen.

Spreckels: Nicht zu vergessen das Handpuppenensemble: Goethe und Mephisto. Das sind tatsächlich handelnde Personen, erst die machen aus dem Videoblog eine Fortsetzungsserie.

Der Umblätterer: Man könnte eine ganze »Matussek«-Mythologie aufstellen, unter Umständen reichte das dann sogar für eine mittelgute Masterarbeit.

Spreckels: Genau, das ist fast vergleichbar mit »Harry Potter« oder Fantasyromanen. Matussek erweitert die Welt, wie wir sie kennen, um eine neue Realität, in der Blogger die Stars sind. Das sind quasi alles Elemente, die sich bisher in unserer Welt versteckt gehalten haben, und auf einmal tritt die unheimliche Fiktivfirma Blogging Enterprises Inc. auf. Ganz langsam entfernt sich die ursprüngliche Realität immer mehr in Richtung Fantasy, bis es komplett abdreht und Goethe auf einmal Kanzlerkandidat ist.

Der Umblätterer: Und Blogging Enterprises bricht wegen der Finanzkrise an der Börse ein. Die Storys werden immer angetrieben durch ausgewählte Ereignisse des Weltgeschehens. Matussek hat ja einen Pool an Lieblingsthemen, an denen er sich zuvörderst abarbeitet. Er hat sich als nachweislich verrücktester Kulturkonservativer und katholischster Comedian Deutschlands etabliert und bespielt seine ureigenen Themen auf ganz hohem Eigentlichkeitsniveau.

Spreckels: Ja, die erste Debatte um Sarrazin zum Beispiel, Oktober 2009, das »Lettre«-Interview, die »Kopftuchmädchen«, das war ja medial dann nach ein paar Tagen ziemlich abgegrast, bei ihm kommt es noch wochenlang an vorderster Blogfront vor.

Der Umblätterer: Das sind die Episoden mit Hasan Cobanli, dem er zum Beispiel zeigt, wie man richtig Weihnachten feiert (»Advent mit dem Kopftuchtürken«, Folge 135).

Spreckels: Das ist einfach sehr gut, auch der von Matussek immer wieder ehrerbietig angesprochene Hasan mit seinem perfekten deutschtürkischen Singsang. Gleich zu Anfang fragt er Matussek: »Darf ich dü zu dir sagen?« Als jetzt diese neue Sarrazin-Debatte begann, war ich übrigens mit dem »Matussek«-Schauen gerade bei der alten Sarrazin-Debatte angekommen, das passte zufällig ganz genau, ein schöner Spiegelungseffekt.

Der Umblätterer: Könntest du dir eine »Matussek«-Edition auf DVD vorstellen? Wenn man jetzt mal von fünf Minuten durchschnittlicher Folgenlänge ausgeht, wären das bis jetzt ca. 750 Minuten Material, also zwölfeinhalb Stunden Kulturgeschichte und Entertainment 2006–2010.

Spreckels: Ja, unbedingt. Ich wäre in dem Fall auch für Bonusmaterial, das ein paar Aspekte des »Matussek«-Universums näher beleuchtet, ich will Making-ofs.

Der Umblätterer: Das Making-of ist doch eigentlich schon drin in jeder »Matussek«-Episode.

Spreckels: Vielleicht, ja. Aber ich will auch bisher offene Fragen beantwortet haben: Wer war eigentlich dieser Goethe?

Der Umblätterer: Hehe, genau. Das komplette »Matussek«-DVD-Set wäre übrigens schon jetzt bedeutend länger als das legendäre achtstündige »Abécédaire« von Deleuze und dabei mindestens auf dieselbe mythologische Art komisch. Dabei hat das Ganze ja unter dem langweiligsten aller vorstellbaren Genretitel angefangen, als »Kulturtipp«. Es hieß ja lange noch so, dabei war es schon bald eher Kulturtipp gone mad.

Spreckels: Früher habe ich beim SPON-Surfen die Hinweise auf »Matusseks Kulturtipp« immer ausgeblendet. Gute Güte, »Kulturtipp«! Du klickunwürdigstes aller Worte! Irgendwann hat mich dann ein Freund beschwört: Kuck es trotzdem! Dem hab ich dann nachgegeben.

Der Umblätterer: Die Überschreitung des »Kulturtipp«-Genres beginnt ja so richtig erst nach Matusseks Demission als Kulturchef des »Spiegels«, Anfang Dezember 2007.

Spreckels: Der große Eklat. Und die bange Frage: Was wird aus dem Videoblog? In der Folge direkt nach der Entlassung war er dann mit Hellmuth Karasek in der »Spiegel«-Kantine und hat Spiegeleier gebraten. (»Matussek kocht!«, Folge 57)

Der Umblätterer: Ja, es ging weiter, das Videoblog war und ist sein Pakt mit der Öffentlichkeit. Ein Glück. Es gibt nichts Vergleichbares, das haben auch die Konkurrenten eingesehen.

Spreckels: Genau, in der Folge kurz vor Weihnachten 2009 kommen sie alle zu ihm, zum Treffen der »Anonymen Blogger«: Kai Diekmann, Harald Martenstein, Alan Posener. (»Das Bloggen ruiniert meine Ehe«, Folge 136)

Der Umblätterer: Vor zweieinhalb Wochen lief übrigens die 150. Folge. Im Gegensatz zur 50. und 100. wurde die nicht extra gefeiert, was ist da los?

Spreckels: Tja, schade, so ein Jubiläum auszulassen. Aber vielleicht ist die Message: Ich muss kein Jubiläum mehr feiern, jede Folge ist ein Event.

Der Umblätterer: Die Jubiläen sind ja auch immer ganz plötzlich da. Manchmal kam wochen- oder sogar monatelang keine neue Folge, und dann ging es weiter, als ob nichts gewesen wäre, und wieder waren 50 Folgen um.

Spreckels: Nach der langen Pause Anfang 2009, vier Monate kein »Matussek«, dachte ich bei der ersten Neufolge, das sei jetzt ein Schauspieler, der Matussek spielt. Für mich gab es diese zeitliche Unterbrechung ja nicht, und auf einmal war es wie wenn man einem Bekannten begegnet, den man fünf Jahre nicht gesehen hat, er sah ganz anders aus.

Der Umblätterer: Das wäre jetzt was für den Kommentartrack der DVD.

Spreckels: Ich hätte da noch eine Sache, die dringend kommentiert werden müsste. Und zwar scheint im SPON-Archiv eine Folge gelöscht worden zu sein, man kann sie sich nicht mehr ansehen, Folge 104: »Die Schlacht der Giganten – Teil 2«.

Der Umblätterer: Stimmt, der Link ist tot. Das war übrigens wieder eine Folge mit Michel Friedman als Diskussionspartner. Und jetzt ist das Video »nicht mehr verfügbar«, ohne Angabe von Gründen. Ich hatte Matussek deswegen auch mal gefragt, als Antwort kam eine lange, sehr poetische Mail mit naturgewaltigen Schilderungen jüngster Erlebnisse, ein Ablenkungsmanöver. Die Frage ist also: Wieso schweigt Matussek?

Spreckels: Ja, wieso schweigt Matussek? Rein zufällig scheint irgendeine Folge offline zu sein, so weit, so normal, aber im Hintergrund lauert der Skandal.

Der Umblätterer: Was machst du eigentlich jetzt nach deinem »Matussek«-Marathon?

Spreckels: Das ist die Frage. Es herrscht eine große Leere.

Philipp Spreckels, 25, studiert Geschichte in Münster. Er betreibt die Blogs Epenschmiede und philippspreckels.wordpress.com und ist Mitarbei­ter des Radiomagazins Q History.
 

4 Reaktionen zu “Kulturtipp gone mad:
Interview nach dem »Matussek«-Marathon”

  1. Eva

    Für eine Woche reicht mein Videoblog so gerade! Schau mal rein – vielleicht erkennst du mich ja auch aus einer ganz bestimmten Matussekfolge wieder (; http://video.hurra-blog.de

  2. Paco

    Hi Eva, Folge 112! Ist zwar knapp 2 Jahre her, aber wer könnte die legendäre Urlaubsvertretungssendung vergessen!

  3. Eva

    Ha! Sehr gut! (:

  4. Jeeves

    Ich hab das bisher zwei Mal gemacht, allerdings mit allen 256 Folgen der Serie M*A*S*H, schön der Teihe nach. Und im nächsten Jahr das Ganze wiederholt.
    Mattussek ist mir zu, …na wie sagt man: …’eindimensional‘?

    Achja, mit „Jeeves & Wooster“ ebenso. Und auch schon zwei Mal. Sind ja auch nur 23 Folgen. Die sind aber ebenfalls viel amüsanter als diese dröge Katholik.

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