Mit Thomas Bernhard auf NZZ-Rallye

Konstanz, 18. Juni 2008, 07:05 | von Marcuccio

Wir Umblätterer tun ja viel, um an unseren Stoff zu kommen: Wir stellen uns dem Tauben-Terror und teilen brüderlich den »Spiegel«. Aber bei aller Passion haben wir immer noch ein unerreichtes Role Model: Thomas Bernhard.

»Und es ist mir damals auch klargeworden, daß ein Geistesmensch nicht an einem Ort existieren kann, in dem er die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommt. (…) Wir sollten uns nur immer da aufhalten, wo wir wenigstens die Neue Zürcher Zeitung bekommen (…).«

Was sich hier und heute wie ein bestelltes Testimonial-Statement liest, steht so tatsächlich in »Wittgensteins Neffe« (Suhrkamp-Ausgabe von 1982, S. 90) und kündet von weiland echter Not: Denn erstens gab es damals weder NZZglobal noch Perlentaucher noch sonstige Netz-Dienstleistungen des »betreuten Lesens« (Kathrin Passig). Und zweitens war die papierne NZZ in Österreich seinerzeit wohl wirklich nicht an jeder Ecke erhältlich. »Jedenfalls«, so Bernhard, »nicht an jedem Tag und gerade dann, wenn man sie unbedingt braucht.«

km 0

Einmal aber, schreibt Bernhard in »Wittgensteins Neffe«,

»(…) hatte ich die Neue Zürcher Zeitung haben müssen, ich wollte einen Aufsatz über die Mozartsche Zaide, der in der Neuen Zürcher Zeitung angekündigt gewesen war, lesen und da ich die Neue Zürcher Zeitung, wie ich glaubte, nur in Salzburg, das von hier achtzig Kilometer weit weg ist, bekommen kann, bin ich im Auto einer Freundin mit dem Paul um die Neue Zürcher Zeitung nach Salzburg, in die sogenannte weltberühmte Festspielstadt gefahren. Aber in Salzburg habe ich die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen. Da hatte ich die Idee, mir die Neue Zürcher Zeitung in Bad Reichenhall zu holen und wir sind nach Bad Reichenhall gefahren, in den weltberühmten Kurort. Aber auch in Bad Reichenhall habe ich die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen und so fuhren wir enttäuscht nach Nathal zurück. Als wir aber schon kurz vor Nathal waren, meinte der Paul plötzlich, wir sollten nach Bad Hall fahren, in den weltberühmten Kurort, denn dort bekämen wir mit Sicherheit die Neue Zürcher Zeitung und also den Aufsatz über die Zaide und wir sind tatsächlich die achtzig Kilometer von Nathal nach Bad Hall gefahren. Aber auch in Bad Hall bekamen wir die Neue Zürcher Zeitung nicht. Da es von Bad Hall nach Steyr nur ein Katzensprung ist, zwanzig Kilometer, fuhren wir auch noch nach Steyr (…)« usw. usf. (S. 88)

Man mag die absatzlose Rallye kaum unterbrechen, um raffend zu erwähnen, dass es bei dieser ganzen erfolglosen NZZ-Besorgungsfahrt noch »durch halb Oberösterreich und bis nach Bayern« ging. Gleichzeitig läuft Bernhards Österreich-Zorn, sein »Zorn gegen dieses rückständige, bornierte, hinterwäldlerische, gleichzeitig abstoßend größenwahnsinnige Land«, in dem noch nicht mal eine ordentliche Zeitung zu bekommen ist, mal wieder zur Hochform auf.

km 350

Am Ende sind es dann wirklich »dreihunderfünfzig Kilometer« geworden, noch dazu, »das muss ausdrücklich gesagt werden, in einem offenen Auto, was unweigerlich eine wochenlang anhaltende Verkühlung von uns dreien zur Folge gehabt hatte«.

Der vermutlich längste, auf jeden Fall atemloseste Zeitungs­einkaufsversuch der deutschen Literatur. Und alles wegen eines einzigen Artikels über die Zaide.

»Ich habe den Aufsatz längst vergessen und ich habe naturgemäß auch ohne diesen Aufsatz überlebt. Aber im Augenblick hatte ich geglaubt, ihn haben zu müssen.« (S. 91)

That’s true passion for the paper. Das ist Umblättern. Wer das nächste Mal zu faul für den Sonntagsspaziergang zur FAS-Ausgabestelle ist, denke gefälligst an den Bernhard’schen Roadmovie.

2 Reaktionen zu “Mit Thomas Bernhard auf NZZ-Rallye”

  1. medienlese.com » Blog Archiv » 6 vor 9

    […] Mit Thomas Bernhard auf NZZ-Rallye (umblaetterer.de, Maruccio) Thomas Bernhard reist im offenen Wagen 350 Kilometer quer durch Bayern und Österreich, um eine Neue Zürcher Zeitung zu bekommen. Er kriegt aber keine. […]

  2. dragonetti

    wenn nur die heutigen Artikel noch so gut wären wie früher…. Gerade bei der FAZ ist da z. Zt. oft nur mäßiges Niveau zu konstatieren – und die FAS war schon immer noch leichter und flockiger, aber keinesfalls seriöser.

Einen Kommentar schreiben