Oliver Gehrs macht nicht mehr den Gehrs

Konstanz, 15. Mai 2008, 13:39 | von Marcuccio

Habe eben bei WatchBerlin meinen ganzen Rückstand an »Blattschuss!«-Videos aufgeholt – und plötzlich ist eine Blog-Epoche Geschichte, denn: Oliver Gehrs hat jetzt einen Gemischtwarenladen eröffnet.

Mittlerweile bespricht er »Humanglobaler Zufall«, »Weltwoche«, »Liebling«, »Vanity Fair«, »SZ«, WamS, FAS, ein Magazin namens »clap« und die »Zeit« mal eben alle neben- und durcheinander. Ein Kommentator bei WatchBerlin pointiert das so: »blattschuss ist jetzt ja fast wie heidenreich, nur die promis fehlen.«

Also, ich fand seine Fixierung auf den »Spiegel« einfach markiger, die Hassliebe, dieses junkiehaft-besessene Dransein am »Spiegel« allein. Die plötzliche Erweiterung hin zur Presseschau verwässert das ganze Gehrs-Projekt.

Denn »den Gehrs machen«, das war ja eben gerade NICHT die Idee, ein, zwei, drei beliebige Blätter, die der Wind des Medienkarussells gerade heranweht, aus der Luft zu greifen (ach, Poschardt jetzt bei der WamS, schauen wir also mal in die WamS).

Nein, »den Gehrs machen« hieß, das deutsche Nachrichtenmagazin so exklusiv und unbedingt zu bebloggen, dass es schon fast etwas (sympathisch) Fanatisches, ja Absolutistisches hatte. In seinen besten Momenten war er fantastisch mythenbildend, dieser »Spiegel«-Vorleser mit dem Erfahrungsvorsprung eines Ex-Redakteurs, der uns »Spiegel«-Mitleser immer wieder grandios unterhalten konnte.

Wir haben den WatchBerlin-Vlogger ja nicht umsonst mit einer Großen Oliver-Gehrs-Nacht gefeiert, und als Fans hätten wir uns natürlich auch in Zukunft einen exklusiven Fürsprecher für erhaltenswerte »Spiegel«-Traditionen gewünscht.

Oder wer sollte und wollte jetzt so grinsend aus dem Ärmel heraus bemängeln, dass die Hamburger eine kleine aber feine Rubrik wie »Der Spiegel vor 50 Jahren« im Leserbriefteil einfach mal zugunsten des billig medienkonvergenten »Diskutieren Sie auf Spiegel Online« aufgegeben haben?

Anyway, es ist vorbei. Gehrs’ »Spiegel«-Absolutismus hat abgedankt, und der plötzlich mit relativem Allerlei konfrontierte »Blattschuss!«-Zuschauer weiß noch nicht, ob er die neue egalité gut finden soll.

Es ist natürlich das Schicksal eines jeden, der seine Sache so gut macht(e), dass wir ihm nicht zugestehen, etwas Neues zu machen. Und so müsste man vielleicht auch akzeptieren, dass Gehrs sich lebensphasentechnisch an seinem »Aust-Komplex« abgearbeitet hat.

Die Demission dieser Leitfigur (wie auch die seines Lieblingsfeindes No. 2, Matthias Matussek) hatte er ja in gewisser Weise (z. B. mit »Blattschuss!« flankierenden »taz«Artikeln) gefeiert wie Trophäen. Jetzt scheint diese Beute aber erle(di)gt, und die ursprüngliche Blattschuss-Mission des Jägers Gehrs irgendwie auch. Und bei dem ganzen neuen Blatt-Wild vor seiner Vlog-Flinte hat er einfach noch nicht die optimale Form gefunden.

Warum küren wir in dieser Phase des Übergangs nicht schon mal die »Best of« des Gehrs’schen Frühwerks? Zu meinen Lieblings-Blattschüssen zählt die mit dem emsigen Fleiß eines echten Fans aufgemalte und geklebte und in ihrer Faktizität eben doch ernüchternde Verkaufskurve der Titelgeschichten (»Hitler zieht immer«). Ob diese Erkenntnis am Ende vielleicht schon als Erklärung für das Ende der »Spiegel«-Monogamie genügt?

Eine Reaktion zu “Oliver Gehrs macht nicht mehr den Gehrs”

  1. Marcuccio

    Juhu, Oliver Gehrs liest wieder den Spiegel!

    http://www.watchberlin.de/watchberlin/#watchberlin-content-11359-1-V

    Mal sehen, ab wann auch wieder regelmäßig. Vielleicht wird bei WatchBerlin sogar bald ein Referendum gestartet, zur Wiedereinführung des Kästchens mit dem Spiegel-Titelbild von vor 50 Jahren. Alles wird gut, hehe.

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