Schöner denken: Systemtheorie und Literatur

London, 1. November 2007, 12:50 | von Paco

Ich könnte stundenlang IASLonline lesen. Seit einigen Wochen gibt es endlich ein frameloses Design mit sichtbarer eindeutiger URL, aber glücklicherweise ist das mintgrün-aseptische Look’n’Feel geblieben.

›Die Wissenschaft‹ ist ja im Idealfall nur die wissenschaftliche Version von Feuilleton, also gut geschriebenes Zeug mit echter theoretischer Trennschärfe. Im Feuilleton wird die Theorie normalerweise durch die Pointe ersetzt, durch das Bonmot oder die meinungsgetriebene Zuspitzung.

Ich saß heute in der British Library und etwas später in einem Kebab-Verschlag in Tottenham und holte ein paar ältere IASL-Artikel auf, die ich seit Wochen ausgedruckt in einem alten »Monopol«-Heft mit mir herumtrage. Ich verschlang u. a. die mit ›Sabotierte Ebenen‹ schön betitelte Rezension von André Schwarck zum neuen Buch von Christian Schuldt.

Schuldt verfasst schön kurze Bücher, die man trotz Theorietheorie fast wie einen Abenteuerroman lesen kann. Auf eine nur 96-seitige Einführung in die Systemtheorie (2003; IASL: »Bekanntes in leicht bekömmlicher Form«; Stokbros blog: »den mangler filosofisk eller idéhistorisk baggrund«) und ein Buch zur Kodierung von Liebe (»Der Code des Herzens«, 2005), das das entsprechende Luhmann-Werk (»Liebe als Passion«, 1982) weiterdenkt, folgte, ebenfalls 2005, eine dezidiert literaturwissenschaftliche Untersuchung mit dem Titel:

»Selbstbeobachtung und die Evolution des Kunstsystems. Literaturwissenschaftliche Analysen zu Laurence Sternes ›Tristram Shandy‹ und den frühen Romanen Flann O’Briens« (Bielefeld: transcript 2005)

Im Buch kann man dann erleben, wie die unerhört frühe Metafiktion des »Tristram Shandy« mit systemtheoretischer Terminologie erklärt wird (siehe Abschnitte 20-23 der Rezension). Eigentlich ja eine banale Sache, jeder weiß, wie der Roman von Laurence Sterne funktioniert. Bei Schuldt wird aber alles mit unbeliebigen Begrifflichkeiten erklärt.

Man kann dann damit wirklich arbeiten. Und mit dem von Schuldt benutzten Ebenenbegriff lässt sich Flann O’Briens »At Swim-Two-Birds« auch ganz banal-exakt als »Radikalisierung in der Mehrebenenstruktur« fassen.

In der Rezension steht, dass sich Schuldt oft merk- oder unmerklich auf Dietrich Schwanitz bezieht, vor allem auf dessen angeblichen Einführungsband »Literatur und Systemtheorie« (1990), der in Wirklichkeit ein systemtheoretischer Exzess ist, der jeden Uneingeführten überfordern dürfte.

Gerade deshalb gibt es darin Schätze wie etwa ein beispielhaftes Interpretationsmodell (Kapitel V: »Probleme der Interpretation und ihre systemtheoretische Verschärfung«), mit dem ein literarisches Werk fernab pseudowissenschaftlicher Schwafeleien richtig durchinterpretiert werden kann. Das ist Literaturwissenschaft.

Zurück zu Christian Schuldt. Da seine Bücher auch tatsächlich interessierte Leser außerhalb von Forschung und Lehre adressieren, gibt es in ihnen stets unverantwortlich kurze Einführungen in die Systemtheorie. Der Rezensent nennt das in diesem Fall »holzschnitzartige Gesamtdarstellung der Evolution des Kunstsystems« (hehe).

Und auch wenn das bei IASLonline übliche ›Fazit‹ dann komischerweise nicht allzu positiv ausfällt, insinuiert die Rezension trotzdem, wie schön man mit ein wenig Theorie denken kann, hier eben mit einem Mix aus System-, Metafiktions- und Romantheorie.

Usw.

8 Reaktionen zu “Schöner denken: Systemtheorie und Literatur”

  1. Hansi

    Welches Buch wäre denn eine gute Einführung in die Systemtheorie?
    (…fragte der interessierte Lehramts-Germanist…)

  2. Horatiorama

    Genau, mehr Theorie an die Literatur!

    @Hansi: Inkonsequent? ;-)

  3. Paco

    @Hansi: Das nicht mal 100-seitige Einführungsbuch von Christian Schuldt ist schon gut. Durch die in der EVA-Reihe Wissen 3000 üblichen Seitenrandzitate wird das ganze auch höchstmöglich aufgelockert. Ansonsten muss man eh iterativ herangehen und am besten mehrere Einführungen parallel oder hintereinander lesen, um einen Fuß in den »Luhmann’schen Theoriepalast« zu bekommen, wie ihn Schuldt nennt (S. 12). Повторение – мать учения, kann man da mal altklug sagen.

  4. Hansi

    Wo der Horatiorama sich überall rumtreibt, gips ja garnich. Aber nein, ich bin mitnichten inkonsequent, da ich die LitWi erstens nicht per se ablehne sondern nur den universitären Wildwuchs, welchem ich aber durch Eigeninitiative zu begegnen gedenke; zweitens scheint Luhmann ein ganz heisser Scheiß zu sein („Schaut nur, wie er sich anstrengt ungewollt locker zu wirken!“); drittens hat man mit Systemtipps beim Lotto bessere Gewinnchancen.

    Und bevor ich es vergesse: ;-)

  5. Hansi

    Danke Paco, auch wenn mein Russisch unheimlich saugt.

  6. czz

    Wie wär’s mit S. J. Schmidts „Literatur als selbstorganisierendes Sozialsystem“ (suhrkamp 1992) ?! – Ein Klassiker, bei dessen Lektüre man sich einige schmerzliche Luhmanniaden erspart –

    Hier ein Hinweis im hochverehrten IASL : http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=2479
    Hier die Heimseite des nicht ganz uneitlen Meisters
    http://www.schmidt.uni-halle.de/index2.htm

  7. czz

    Jugendsünden der Unterzeichneten & Kollektiv übrigens auch in jenem Medium : Eine Sozialgeschichte der Literatur, die keine mehr sein will. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 24, 1 (1999), S.132- 157
    (leider nur Register online)

    Pfoa , das war jetzt geklotzt und nicht mehr gekleckert , was ?!

  8. Paco

    Die Bezeichung »polykontextural« hat doch seit jeher als Polemik gegen dieses lit.wiss. Paradigma gedient, oder? Insofern finde ich die Anführungszeichen, die ihr in euerm Abstract benutzt, wieder mal »herrlich«.

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