Corneille-Kanon

Berlin, 8. Juli 2025, 11:00 | von Niwoabyl

Ich war neulich mit Paco im Engelbecken und nachdem wir einige brennende Themen diskutiert hatten, kamen wir wieder mal auf (Pierre) Corneille zu sprechen. Jedenfalls überlegten wir, welche Stücke zum Corneille-Kanon gehören sollten.

Ich hatte meine Titelliste auf einem zufällig daliegenden Bierdeckel der Klosterbrauerei Andechs festgehalten, und Paco hatte mir einen reinen alten Sorbonne-Geist attestiert. Als ich dann wieder zu Hause war, hab ich ein bisschen in alten Lehrbüchern gestöbert (https://obtic.huma-num.fr/obvil-web/corpus/ecole/), um zu schauen, was die dazu zu sagen haben:

– Léon Feugère, 1866 (Sekunda): Horace, Cinna.

– Léon Feugère, 1867 (Rhetorik, also Prima): Polyeucte, Rodogune.

– Gustave Merlet, 1872 (»Cours moyen et supérieur«): Le Menteur, Le Cid, Polyeucte.

– F.-L. Marcou, 1881 (Tertia, Sekunda, Rhetorik): Hier wird’s jetzt überraschend! Rodogune, Don Sanche, Agésilas. Ich bin ganz begeistert! Ich vermute, dass die bekannteren Sachen einfach vorausgesetzt wurden. Aber selbst dann, was für eine Auswahl. Don Sanche ist ein sehr spätes barockes Stück (»comédie héroïque«), 1649 schon ziemlich aus der Mode. Der französische Wikipedia-Eintrag spricht Bände (https://fr.wikipedia.org/wiki/Don_Sanche_d’Aragon). Agésilas ist wirklich der Gipfel: An das Stück erinnert man sich eigentlich nur (aber das recht gut) wegen eines spöttischen Vierzeilers von Boileau, der so dem alternden erfolglosen Corneille den epigrammatischen Gnadenstoß verpasste:

Après l’Agésilas,
Hélas !
Mais après l’Attila,
Holà !

Marcous Fußnote sagt dann auch, er wolle dem hinabgestoßenen Corneille Justiz widerfahren lassen (»ce que pouvait Corneille déchu«). Coole Ansage jedenfalls.

– Albert Cahen, 1912 (»Premier cycle«, also vielleicht Sexta bis Tertia?): Nicomède, Le Menteur.

Zu den Stücken, die nur zitiert und nicht direkt zur Lektüre empfohlen werden, zählen noch Pompée und Sertorius, auch ziemlich überraschend, von denen weiß ich so gut wie nichts. Mich erstaunt aber am meisten, dass gar keiner L’Illusion Comique zitiert. Im 20. Jahrhun­dert avancierte das Stück sicher zum beliebtesten und vor allem am häufigst gespielten unter den nicht-tragischen Werken von Corneille.

Der »Matamore« aus L’Illusion ist sicher die bekannteste französische Verkörperung des Miles Gloriosus. Wurde das Stück vergessen und wiederentdeckt? Oder eine Weile absichtlich verschmäht? Eigentlich hätte es den Romantikern gefallen müssen, es hat was Shakespearehaftes an sich, eine uneindeutige Komödie, die das Theater selbst thematisiert, wahrlich eine Seltenheit im französischen Kontext.

Im klassischen Lehrbuch »Lagarde et Michard« aus dem Jahr 1951, das heute immer noch gedruckt wird, werden Le Cid, Horace, Cinna, Polyeucte ausdrücklich als bekannt vorausgesetzt und La Veuve (!), L’Illusion Comique, Psyché (gemeinsames Werk von Molière und Corneille), Rodogune, Nicomède und schließlich Suréna in Auszügen vorgestellt. (Suréna hat auch nur wenige vor dem 20. Jahrhundert interessiert, wurde aber dann wiederentdeckt und gefeiert.)

Ich weiß nicht, wie ernst es Paco damit meinte, dass er bald ein Corneille-Seminar veranstalten werde, aber ich bin gespannt auf die Stückeauswahl.
 

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