100-Seiten-Bücher – Teil 46
César Aira: »Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo« (2002)

Leipzig, 24. Januar 2013, 17:45 | von Paco

Spätabends wird der langweilige Ministeriumsschreiber Varamo in einem panamaischen Kaffeehaus von drei windigen Verlegern dazu angehalten, über Nacht einfach mal ein Buch zu schreiben. Thema egal, mach einfach, so 80 bis 100 Seiten, mindestens jedoch 74, »denn die waren nötig, damit es ›für einen Rücken reicht‹«. Der gerade verlebte Tag war für Varamo misslich verlaufen, denn ihm wurde als Monats­gehalt Falschgeld ausbezahlt, glücklicherweise genau so viel, wie dann die Verleger dem Eintagsdichter für seine literarische Nachtarbeit geben wollen, 200 Pesos.

Also okay, überredet, der Stand-up-Literat Varamo setzt sich zu Hause hin und schreibt einfach alle Papiere ab, die sich bei ihm den Tag über angesammelt haben und mischt diese Abschriften mit den Schlüssel­wörtern eines hanebüchenen Codebuchs, das ihm eine Bekannte zugesteckt hat. Ergebnis ist dann »das berühmte Meisterwerk der modernen mittelamerikanischen Lyrik«, das so avantgardistische wie in Wirklichkeit gar nicht existierende und im Buch auch nicht zitierte Gedicht »Der Gesang des jungfräulichen Kindes«!

Der minutiös geschilderte Entstehungsprozess erinnert natürlich umstandslos an die »Simpsons«-Folge »Moe’N’a Lisa« aus der 18. Staffel: Lisa nimmt in der Wohnung des notorischen Kneipenwirts Moe ein paar Notizzettel von den Wänden und arrangiert sie auf dem Tisch per Klebestreifen zum epic poem »Howling at a Concrete Moon«, das ja ebenfalls ein sensationeller Erfolg wird.

Ansonsten ist »Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo« mal wieder ein Musterbeispiel für den von Aira perfektionierten Texttyp: um die hundert Seiten lang, von einem leicht verrückten Erzähler exzellent gefüllt, bevorzugt mit abgebrochenen Neben­geschichten ohne relevante Folgen. So geht es beiläufig um die berühmten Gleichmäßigkeitsstraßenrennen und um das Einbalsamieren von Fischen aus dem heimischen Aquarium, und dann wird auch noch seitenweise über eines der bravourösesten Stilmittel überhaupt schwadroniert, die erlebte Rede nämlich, den estilo indirecto libre!

Länge des Buches: ca. 174.000 Zeichen. – Ausgaben:

César Aira: Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo. Novelle. Aus dem Span. von Matthias Strobel. München; Wien: Nagel und Kimche 2006.

César Aira: Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo. Novelle. Aus dem argentin. Span. von Matthias Strobel. Berlin: Wagenbach 2010. S. 3–91 (= 89 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

3 Reaktionen zu “100-Seiten-Bücher – Teil 46
César Aira: »Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo« (2002)”

  1. Matthias

    „Das Buch ist nämlich überhaupt nicht gut und gar kein Lesegenuss.“ (Simone Meier über ein anderes)
    Ohne sich diesen Satz zu leihen, lässt sich „Varamo“ nicht brauchbar besprechen. Hier ist wirklich für Niemanden etwas dabei. Die Sprache ist dürftig (liegts an der Übersetzung?), die Figuren uninteressant. Der Text tut so, als hätte er Humor; dieser bleibt aber so unglaubwürdig behauptet wie der als Aufhänger gewählte Erfolg des Gedichts.
    Nach den Hundert Seiten fühlt man sich, als hätte man fünfhundert zähe hinter sich gebracht, keineswegs aber, als habe man ein Buch gelesen. Es gibt unterschiedliche Begriffe von Literatur – wessen diese textgewordene Zumutung schließt, möge ihn enger kalibrieren. Auch wer Hundertseiter mit Blick auf die Lesevermögens-Rechnung auswählt, soll gewarnt sein, dass er sich über einen Regionalkrimi unter seinen Dreitausend vermutlich weniger ärgern wird.

  2. Paco

    wirklich, matthias, das ist ein ganz krasses fehlurteil. aber gut, so was muss es ja auch geben! »varamo« ist der bestmögliche hundertseiter, und ich kann das sagen, ich habe schon einige andere gelesen, hehe.

  3. Sasha Petrova

    Vielen Dank für diese spannende Liste, auf die ich durchs Varamo-Googeln gestoßen bin. Ich mochte das Buch auch sehr, wegen der Sprache, aber auch wegen der Liebe zum absurden Detail. Ein bisschen wie bei Bolaño, nicht? Ein anderer kurzer Lieblingstext der lateinamerikanischen Literatur ist für mich Ricardo Piglias „Plata Quemada“, nach dem wir eine ganze Zeitschrift benannt haben (http://www.quemadamag.de). Die deutsche Übersetzung des Titels als „Brennender Zaster“ ist leider nicht so gelungen, die Geschichte einer Gruppe von Desperados, die in den 1970er Jahren in Buenos Aires eine Bank ausraubt, sich dann in einem Haus in Montevideo verschanzt und vor laufender Kamera die gesamte Beute verbrennt, aber schon. Also eine Empfehlung, auch wenn die deutsche Ausgabe etwas mehr als hundert Seiten hat.

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