St. Petersburg, Missouri
auf Reisen, 7. Juni 2010, 20:07 | von San AndreasWas viele nicht wissen: der Begriff ›twain‹ kommt vom mittelenglischen ›tweien‹ und bedeutet ›zwei‹. Und das Kommando, das der Mississippi-Lotse dem Dampfschiff-Steuermann Samuel Langhorne Clemens zur Einhaltung sicherer Fahrwasser von zwei Faden Tiefe regelmäßig zurief, sollte später dessen Pseudonym werden: Mark Twain.
Was viele ebenso nicht wissen: Mark Twain wurde geboren, während der Halleysche Komet die Erde passierte, erfand eine Art Hosenträger, sah in einem Traum den Tod seines Bruders in einer Schiffsexplosion voraus, kämpfte zwei Wochen lang im Sezessionskrieg für die Südstaaten, lebte einmal neun Monate im Wiener Hotel Krantz, versuchte sich als Goldgräber in Nevada, benutzte als erster Autor überhaupt eine Schreibmaschine, experimentierte oft mit Nikola Tesla in dessen Labor, überlebte all seine sechs Geschwister und drei seiner vier Kinder, ruinierte sich mit dem Versuch, eine Setzmaschine zu perfektionieren, und starb, während der Halleysche Komet die Erde passierte.
Die meisten Menschen kommen ohne derlei Twain-Trivia durchs Leben, aber für manche gibt es nichts Interessanteres. Das sind die Twainiacs, und sie haben dieses Jahr viel zu feiern: Im April jährte sich Twains Todestag zum 100sten Mal, seinen 175. Geburtstag begeht man im November, und im Februar ist Twains berühmtestes Werk, »Adventures of Huckleberry Finn«, 125 Jahre alt geworden. The Year of Twain. Jahrestage, die dem Meister selbst ein Gräuel gewesen wären:
»What ought to be done to the man who invented the celebrating of anniversaries? Mere killing would be too light …«
Das hält die Wallfahrtsorte der Twain-Verehrung nicht davon ab, in diesem Jahr jede Menge Twain-Spektakel zu veranstalten: In Hartford, Connecticut, wo Twain 17 Jahre lang lebte, gibt es über 40 Ausstellungen und Events, unter anderem eine Gruseltour durch den alten Keller des Twain-Domizils. In Elmira, New York, dem Wohnort der Familie seiner Frau, finden Vorträge und Mark-Twain-Dinners statt. Selbst das Begräbnis wurde nachgestellt, inklusive kostenloser Mark-Twain-Regenschirme für die Trauergäste (der 24. April 1910 war ein Regentag).
Zentrum aller Festivitäten aber ist Hannibal, Missouri, die Stadt von Twains Jugend und Vorbild für das St. Petersburg seiner Bücher. Hier steht das Wohnhaus der Familie Clemens noch, Muster für das Zuhause von Tom Sawyer, ebenso die Häuser von Twains Schulfreunden, die die Charaktere Huck Finn und Becky Thatcher inspirierten, und hier befindet sich die Höhle, in der seit 1886 Führungen für Twain-Fans angeboten werden.
Glascock’s Island, die bewaldete Insel unweit der Stadt, wurde kurzerhand in Jackson’s Island umbenannt, genauso wie Holiday’s Hill, der heute Cardiff Hill heißt. Warum hat sich Hannibal nicht gleich St. Petersburg genannt? Amerika ist doch da sonst nicht zimperlich: In Mississippi gab sich eine Stadt nur deswegen den Namen Oxford, damit der Staat die Uni dort hinbaute (was auch geschah). Und Eddy, New Mexico, nannte sich aufgrund einer lokalen Mineralquelle nach dem tschechischen Kurort Carlsbad, wollte ein Spa in der Wüste werden (was nicht geschah).
Nichtsdestoweniger lässt sich Hannibal in Sachen Twain-Kolorit nicht lumpen, insbesondere nachdem die Industrie weggezogen ist und die Stadt sich dem Tourismus an den Hals schmeißen musste. Es gibt ein Mark Twain Motor Inn, ein Huck Finn Shopping Center, einen Injun Joe Campground, ein Mark Twain Drive-In Restaurant, einen Sawyers Fun Park.
Selbst das Mark Twain Mental Health Center versucht sich literarische Grandezza zu verleihen. Das Konterfei des Autors schmückt Cola-Automaten und Bushaltestellen, es locken Kutschen, Trams und Ausflugsboote mit original Mark-Twain-Touren, und im Straßenbild tauchen schon mal schnurrbärtige Twain-Lookalikes auf, die unaufgefordert Aphorismen absondern:
To create man was a fine and original idea; but to add sheep was a tautology.
Quitting smoking is easy, I’ve done it thousands of times.
It usually takes more than three weeks to prepare a good impromptu speech.
Suppose you were an idiot and suppose you were a member of Congress. But I repeat myself.
Those that respect the law and love sausage should watch neither being made.
Bill Bryson hat Hannibal auf seiner Reise durch Small-Town America besucht, und das erste, was ihm im ›Mark Twain Boyhood Home & Museum‹ auffiel, waren die Stromkabel, die Sperrholz-Raumteiler und der PVC-Belag im garantiert authentischen Kinderzimmer des kleinen Sam Clemens. Die Stadt selbst kam ihm »sad and awful« vor, ihr beschworener Südstaatencharme schien nie dagewesen zu sein, und er »began to understand why Clemens didn’t just leave town but also changed his name.«
Es wundert nicht, dass Bryson die Disneyfizierung des Twain-Andenkens so betrüblich findet, war Twain doch ein Pionier in Brysons eigener Domäne, der des humoristischen Reiseberichts. In »A Tramp Abroad« (1880) beispielsweise verarbeitet Twain seine zweite Europareise, die ihn von Heidelberg über die Schweizer und die Französischen Alpen bis nach Venedig führte.
Interessanterweise war der Trip – wie jener im Bryson-Klassiker »A Walk in the Woods« – als monumentale Wanderung geplant, doch hat sich Twains literarisches Alter Ego – wie Bryson – überschätzt. Beide Autoren reisen auch mit einem Kompagnon; allerdings hat sich Twain seinen – zwar modelliert nach seinem Kameraden Joseph Twichell – bloß ausgedacht. Man sagt, Mark Twains Reiseberichte wären so fiktional wie seine Romane autobiografisch sind.
Im Anhang des Buches versteckt sich Twains herrlicher Essay »The Awful German Language«, das jeder Deutsche einmal gelesen haben sollte, allein um eine Ahnung davon zu bekommen, welch schier undurchdringliches Dickicht die deutsche Sprache mit ihren trennbaren Verben und ihren verschachtelten Parenthesen für einen Ausländer darstellt.
Twains Deutsch war indes ganz gut, sogar so gut, dass er Vorträge hielt und zur allgemeinen Erheiterung mit ornamentalen Verbphrasen wie »haben sind gewesen gehabt haben geworden sein« nur so um sich schmiss. Mark Twain hat auch den »Struwwelpeter« übersetzt. Was viele nicht wissen.
Am 16. Juni 2010 um 22:33 Uhr
Arno Schmidt hatte es schon passend zusammengefaßt (in Zettels Traum), daß der Komet den Dichter gebracht & wieder abgeholt hat.
Was ich noch suche: In seinen späten Jahren hatte M.Tw. eine Wohnung in Brooklyn mit Aussicht auf den East River, wo er nur noch sitzen und schauen wollte (so in einem Radiobeitrag der 90er Jahre). Gibt es in seinen Schriften oder Briefen Genaueres dazu?
Am 17. Juni 2010 um 17:51 Uhr
Hm, also ich hab nur gefunden, dass er nach seiner letzten großen Reise, also im Jahr 1900, nach New York gezogen ist und in insgesamt drei Häusern gewohnt hat, und auch im berühmten Hotel Chelsea. Das erste Haus befand sich in Greenwich Village in der 10th St. zwischen 5th und 6th Ave. Es steht auch heute noch dort und ist bei Geisterfans beliebt, weil Twains Geist noch immer das Treppenhaus unsicher machen soll…
Weil es seiner Frau nicht gut ging, zog die Familie nach zwei Jahren in eine ruhigere Lage, nach Riverdale in der Bronx, mit Blick auf den Hudson River. Twains Ton wurde in seinen späten Jahren schärfer und düsterer, er kommentierte unermüdlich das Zeitgeschehen, war als echte New Yorker Celebrity sehr gefragt als Redner bei Banketten der Haute Volée. Das Schicksal spielte ihm allerdings übel mit; fast alle Familienmitglieder laborierten lange an Krankheiten und starben ihm weg.
Als seine Frau starb, zog Twain wieder nach Manhattan, in die 21st Ave, fühlte sich in dem gothic-mäßigen Haus aber nicht besonders wohl und baute zwei Jahre später ein neues Zuhause in Redding, Connecticut, wo er aber nicht mehr lange wohnte, denn der Komet kam 1910 und nahm ihn mit.
Am 18. Juni 2010 um 15:42 Uhr
Danke, San Andreas, es war natürlich die Bronx und der Hudson, da hat sich wohl Thomas Wolfe -Nur die Toten kennen Brooklyn- hineingedrängt.