Lost: 5. Staffel, 10. Folge

Paris, 4. April 2009, 16:50 | von Paco

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »He’s Our You«
Episode Number: 5.10 (#95)
First Aired: March 25, 2009 (Wednesday)
Deutscher Titel: »Deswegen bin ich hier« (EA 11. 6. 2009)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Eine Sayid-Folge reinsten Wassers bzw. reinsten vergossenen Blutes, fast klassisch werden in den verschiedenen Flashbacks die Erlebnisse des irakischen Killerbuben weitererzählt. Nur ist inzwischen so viel geschehen, dass der Rücksprung in eine einzige zeitliche Ebene der Vergangenheit nicht mehr ausreicht. Es sind mindestens vier Ebenen, die in dieser doch eher langweiligen Folge beleuchtet werden, am Ende dann aber zu einem wirklich großartigen Schlusseffekt führen:

Ebene 1 (Kindheit in Tikrit, 70er-Jahre)

Ein leicht klischiertes Intro mit Vorausdeutungspotenzial versetzt uns in die Kindheit von Klein-Sayid. Sein älterer Bruder wird vom Vater beauftragt, ein Huhn abzuschlachten, und weil der sich nicht traut, bricht stellvertretend Sayid dem wehrlosen Federvieh das Genick. Sein Name fällt er ganz zum Schluss, obwohl man von Anfang an weiß, worauf die Szene hinausläuft, aber wir sollen wieder mal bass erstaunt erst hinterher erkennen, dass Sayid der brutale Hühnermörder gewesen ist.

Trotz dieser lahmen Art der Spannungserzeugung strotzt diese Szene vor Urwüchsigkeit, sie wirkt, so einen Vergleich kann man ja ruhig einmal anstellen, mindestens so urwüchsig wie die Schlacht­hofmotivik in Döblins »Berlin – Alexanderplatz« oder ähnliche Sachen, der Mensch als brutales Raubtier etc. etc.

Ebene 2 (Sayid als Bens Scherge, Ende 2005–2007)

Sayid hat als Bens gutgläubiger Scherge eine Reihe von Auftrags­morden ausgeführt, die jeweils Leute aus Widmores Umfeld betrafen. Diesmal gibt es wieder etwas »Lost«-Tourismus, wir werden Zeuge, wie Sayid in Moskau einen Mann namens Andropov kaltblütig erschießt. Er übermittelt Ben die Vollzugsnachricht in einer verkitschten Hinterhofszene, in der Ben als 40er- oder 50er-Jahre-Agenten-Kopie auftritt, mit schwarzem Mantel, schwarzen Handschuhen, schwarzem Hut.

Die Szene wirkt wie »Der dritte Mann« in billig, hehe. In diesem Ambiente verkündet Ben auch das Ende der Zusammenarbeit: »Andropov was the last one. You’ve taken care of everyone who posed a threat to your friends.« Und Sayid weiß vor lauter Schreck nicht, was er jetzt mit seiner Zeit anfangen soll. Irgendwann muss er sich dann in die Dominikanische Republik zurückgezogen haben, um der gemeinnützigen Organisation »Construyendo Nuestro Mundo« beim Häuserbau zu helfen.

Dort war Sayid in Folge 5.07 bereits von Locke aufgesucht worden, in dieser Folge (einige Zeit nach dem Andropov-Mord) kreuzt nun Ben als zweiter Besucher auf. Mit feinster Lügenpropaganda schafft er, was Locke nicht geschafft hatte, nämlich Sayid da wegzu­locken, schließlich muss er mit zur Insel zurück. Locke sei von Leuten umgebracht worden, die es nun auch auf Sayid und den Rest der Inselflüchtigen abgesehen haben. Und da Sayid ja gar nichts anderes könne als Killen (siehe die Anfangsepisode mit dem armen Huhn), soll er sich und die anderen Losties jetzt mal schützen und den für Lockes Tod verantwortlichen Killer um die Ecke bringen:

BEN: It’s in your nature, it’s what you are. You’re a killer, Sayid.
SAYID: I am not what you think I am. I don’t like killing.
BEN: Well, then I apologize. I was mistaken about you.

Ebene 3 (Sayid und die Kopfgeldjägerin, Anfang 2008)

In einer Bar trifft Sayid auf Ilana, und zwar nach dem gemeinsamen Losties-Treffen in Folge 5.05, bei dem Sayid klugerweise schnell das Weite gesucht hat, bevor Eloise Hawking in der nächsten Folge ihre leicht lächerliche Erklärungs-Suada vom Stapel ließ. Jedenfalls scheint ihn Ilana verführen zu wollen, aber dann, später, mitten beim Making-out, tritt sie ihm volle Kanne ins Gesicht und hält ihn at gunpoint. Sie verklickert ihm, dass sie ihn nach Guam bringen soll, auf dass er dort von der Familie des von ihm hingerichteten Seychellen-Golfers aus Folge 4.03 zur Rechenschaft gezogen werde. Später sehen wir die beiden, Kopfgeldjägerin und Auftragsmörder, noch mal zusammen im Flug 316, wir alle wissen, dass sie nach dem Absturz zeitlich ziemlich verschiedene Wege gehen werden.

Ebene 4 (Sayid als Gefangener der Dharmas, 1977)

Im Moment wirkt es komischerweise so, als ob die Handlung im Jahr 1977 die Gegenwart sei. Für die dorthin gebeamten Losties ist sie es ja gewissermaßen auch. Es ist sicher auch nur eine Frage der Zeit, bis die zwei Erzählfäden, die nach dem erneuten Crash auf der Insel entstanden sind, wieder zusammenfinden. (Der irgendwohin entschwundene Faraday wird dabei sicher irgendeine Rolle spielen, werden sehen.)

Sayid war ja in der letzten Folge, handgeschellt wie Stanislaus Demba in dem Perutz-Roman »Zwischen neun und neun«, durch die Gegend geirrt, und nun spielen diese Handschellen endlich auch mal ihren Vorteil aus. Dharma-Horace denkt nämlich, dass Sayid von seinen vermeintlich eigenen Leuten, den Others (damals noch als Hostiles bekannt), verstoßen wurde.

Sawyer würde Sayid am liebsten mit einer kleinen Lüge in den Dharma-Korpus integrieren. Denn der konservativ gewordene Haus-und-Herd-Sawyer hat sich in den 70ern ein Leben aufgebaut, »and a pretty good one«, das will er sich nicht von Sayid zu Schanden machen lassen. Sayid aber willigt in Sawyers Plan nicht ein.

Nachdem Sayid wiederholt mit keinem der Dharmas reden wollte, wird er zum Dharma-Folterer Oldham gebracht. Also: Folterer trifft Folterer, oder, wie Sawyer es gegenüber Sayid erklärt: »He’s our you.« Ein guter Satz, von Sawyer diesmal ganz ohne seine übliche Ironie dargebracht, und gleich auch der Titel dieser Episode.

Dann wird es wieder etwas lächerlich, Sayid wird mit Gewalt eine Art Wahrheitsserum verabreicht, das als gezuckerter Deus-ex-machina fungieren soll. Und Sayid sagt denn auch die Wahrheit, die ganze »Lost«-Wahrheit, er plaudert alles aus, was er über die Dharma-Stationen weiß, auch über die damals noch nicht gebauten. Es muss also so aussehen, als ob er hier als Spion unterwegs ist. Aber dann sagt er fast den coolsten Satz der Folge: »I’m from the future!«

Dabei wird er von Katatonien geschüttelt und lacht das Lachen eines Wahnsinnigen. Laut den Statistikern der Lostpedia ist das nach viereinhalb Jahren »Lost« überhaupt erst das dritte Mal, dass wir Sayid lachen sehen.

Hinterher kommt es zu einer Kampfabstimmung, bei der sich alle Entscheidungsträger für Sayids Hinrichtung aussprechen, letztlich auch Sawyer, der Sayid im Anschluss aber immerhin noch einmal zur Flucht verhelfen möchte. Der will sich jedoch gar nicht helfen lassen, er nimmt seine Situation vielleicht als Schicksal hin, und dieses Schicksal ist: der kleine Ben Linus. Und der Darsteller des jungen Nickelbrillenträgers spielt einfach sensationell, er spielt die einzigartige Mischung aus Souveränität und Skrupellosigkeit des späteren Ben schon mit.

Klein-Ben ist es dann auch, von dem sich Sayid befreien lässt, während Dharmaville durch einen brennenden Dharma-Kleinbus abgelenkt wird. Bei ihrer Flucht begegnen sie Jin, der von Sayid umgehauen wird, weil er Sawyer/LaFleur benachrichtigen will.

Und dann folgt eine große, wirklich ganz unerwartete Szene:

SAYID: You were right about me.
DER JUNGE BEN: What?
SAYID: I am a killer.

Und Sayid schießt eiskalt den kleinen niedlichen Ben nieder, zack! Der kann natürlich nicht wirklich so einfach in der Vergangenheit sterben, und schon die nächste Folge heißt auch: »Whatever happened, happened«, das alte Mantra von Faraday, insofern wird der Kleine schon irgendwie überleben.

Eine Reaktion zu “Lost: 5. Staffel, 10. Folge”

  1. Malte Herwig

    Lieber Umblätterer, da Sie sich auch mit ausländischen Themen beschäftigen, hier etwas über Kino, Kommunismus und Karaoke in Pjöngjang:

    Wie Britney Spears und die Guns N‘ Roses nach Nordkorea kamen:

    http://malteherwig.wordpress.com/2009/04/05/wie-britney-spears-und-die-guns-n’-roses-nach-nordkorea-kamen/

    Lese den Umblätterer immer wieder gerne

    Schönen Gruß
    Malte Herwig

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