Does this town need a hug? — »No Country
for Old Men« und das neue Hollywood

Hamburg, 4. April 2008, 06:20 | von San Andreas

Die Nonchalance eines Hannibal Lecter, die Treffsicherheit eines Schakals, die Mitleidlosigkeit eines Dr. Christian Szell, die Zielgerichtet­heit eines HAL 9000, der Zynismus eines Agent Smith, der Wahnsinn eines Jack Torrance, die Wertelosigkeit eines Weißen Hais, die Unzerstörbarkeit eines Terminators, die Gerissenheit eines Gordon Gekko, die Frisur einer Mireille Mathieu: Anton Chigurh schreibt sich aus dem Stand in die Filmgeschichte ein, als verheerende Mixtur des Bösen, ein ikonischer, tatsächlich Furcht einflößender Schurke, dessen Willkür man ohnmächtig gegenübersteht; der Mann ist das Schicksal in Person.

Und er ist lediglich ein Teil dieses erstaunlichen Films: Der Held, dem wir zwei Stunden lang auf seiner Flucht vor diesem kreuzgefährlichen Killer gefolgt sind, wird unversehens von Namenlosen getötet – off-screen, denn die Kamera war gerade nicht zur Stelle. Der Killer beseitigt noch – völlig grundlos – die Frau des Helden, um dann völlig unbehelligt das Geschehen zu verlassen. Der Sheriff, der während der ganzen Geschichte nicht das Geringste hat ausrichten können, erzählt seiner Frau gerade, was er letzte Nacht geträumt hat, als ihm der Abspann beinahe das Wort abschneidet. Ein Film wie eine Ohrfeige.

Dieses rundweg unwahrscheinliche Werk nun, dieses fiese, harte, zynische Stück Autorenkino, gelangt in Hollywood zu allerhöchsten Ehren, natürlich zu Recht, und befindet sich mit Kandidaten wie »There Will Be Blood«, »The Assassination of Jesse James«, »Gone Baby Gone« oder »Sweeney Todd« in ebenso düsterer, psychopatischer, blutiger Gesellschaft.

»Does this town need a hug?«, fragte Jon Stewart bei den Oscars folgerichtig. Filme wie diese sind nicht nur Teil des Hollywood-Outputs; sie bilden das neue Aushängeschild. Eine gewisse Ernsthaftigkeit macht sich breit, aber nicht nur von der sozial- und selbstkritischen Sorte (»Crash«), der man als argwöhnischer Europäer noch gut eine Prise Scheinheiligkeit andichten konnte. Vielmehr besinnt sich Holly­wood wieder seiner gewachsenen cineastischen Kompetenz und produziert lustvoll kompromisslose Genrekunst.

Dabei fallen profunde Metaebenen keinesfalls unter den Schneidetisch. Gerade die ›Revisionist Westerns‹ der letzten Monate beschreiben in ihren Subtexten ureigene Befindlichkeiten – sei das im Zusammenhang mit den formativen Prozessen der amerikanischen Gesellschaft (»Blood«), ihrem Umgang mit Regelbrechern (»Jesse James«) oder ihrem tief greifenden Wandel in jüngerer Zeit (»Country«). Man kann sagen, was man will: Hier entsteht großes, amerikanisches Kino.

Dennoch, sie hält sich hartnäckig, die Vokabel ›Hollywood‹ als Etikett für alles Massentaugliche, Rundgelutschte, Weichgespülte. Wer sich dieser Tage »Jumper« oder »10,000 B.C.« ansieht, wird trefflich damit um sich werfen können. Die Tatsache aber, dass im selben Multiplex auch »Juno«, »Michael Clayton«, »Half Nelson« und »In the Valley of Elah« auf dem Plan stehen, lässt solch Schubladentum gänzlich obsolet erscheinen.

Welchen Film zierte in letzter Zeit denn schon ein klassisches Hollywood-Happy-End? Disneys bezaubernde Märchenklamotte »Enchanted« fällt uns ein, »Ratatouille« etwa, »Dan in Real Life« (Hochzeit!) und »Mr. Magorium’s Wonder Emporium« vielleicht noch, aber dann wird es auch schon dünn. Stattdessen verlassen Holly­woods Protagonisten die Leinwand doch mittlerweile regelmäßig mit den Füßen voran.

Scorsese hatte da einen Markstein gesetzt, indem er in »The Departed« praktisch den kompletten Cast ausradierte. Respekt. Aber auch die Helden von »Into the Wild«, »Cloverfield«, »Jesse James«, »3:10 to Yuma« und »Sweeney Todd« erleben nicht das Ende der Vorstellung. Selbst ein Old-School-Horrorfilm wie »The Mist« gefällt sich am Schluss mit einem rabiaten, multiplen Exitus.

Und wenn schon nicht gestorben wird, fallen Film-Enden dieser Tage gern traurig und ambivalent aus. »Gone Baby Gone« lässt den Zuschauer gnadenlos zwischen Herz und Verstand hängen, »Before the Devil Knows You’re Dead« schließt mit einem drastischen, verstörenden Racheakt, und selbst ein Blockbuster wie »I Am Legend« beeilt sich, dem ursprünglichen, ziemlich schlimmen Kino-Ende den kommerziellen Anstrich zu nehmen. Im ›Alternate Cut‹ entfällt Nevilles heroischer Freitod; er realisiert, dass er die Bedrohung, der Fremdkörper in dieser Welt ist und verlässt die Stadt in eine ungewisse Zukunft.

Dr. Neville zählt ja noch zu den Gutmenschen, aber was sind das sonst für gemeine Gestalten, die heute die Leinwände bevölkern! Mit Daniel Plainview treffen wir den Inbegriff eines selbstgerechten Soziopathen, sein todgeweihter Gegenpart Eli Sunday ist als bigotter, von Gier zerfressener Heilprediger keinen Deut sympathischer. Jesse James wird als der gebrochene, paranoide Schatten eines Westernhelden redefiniert, und Jason Bourne verkörpert als wortkarger, schroffer Anti-Bond eine neue Klasse des Action-Helden. Wo sind sie geblieben, die so vertrauten wie verspotteten Hollywood-Klischeefiguren? Zugegeben, sie sind noch da (Hallo, die Herren Rambo und McClane?), aber die Konkurrenz aus der authentischen Sparte wächst.

Spannende Charaktere hin oder her – taugen denn die eigentlichen Filminhalte etwas? Europas Filmkritik bemäkelt an Hollywoodfilmen ja gern den scheinbar unauslöschlichen amerikanischen Stempel: diese gewisse Prüderie in der Handhabung sensibler Themen, die leicht verlogene Political Correctness und vor allem den allgegenwärtigen Widerschein eines hoffnungslos egozentrischen Weltbildes.

Nun, Selbstbezogenheit muss nicht zwangsweise in narzisstische Überheblichkeit ausarten; sie kann auch etwas mit Selbstverständigung zu tun haben. Wer für etwas verantwortlich ist – und Amerika ist das für vieles – kann und soll sich dazu äußern. Längst übt sich Amerika vermittels seiner Filme in kritischer Selbstreferenz, liefert gescheite, teils hervorragende Beiträge für den politischen Diskurs, angesichts derer sich Europa im Zugzwang sieht, ähnlich Relevantes zu liefern.

Dabei geht man durchaus ans Eingemachte – ob es das Thema Folter in der Terrorismusbekämpfung (»Rendition«) betrifft, die Verrohung der Jungs an der irakischen Front (»Elah«), latenten Rassismus in den Städten (»Crash«), die religiöse Indoktrination des eigenen Nachwuchses (»Jesus Camp«) oder die Konflikte in Afghanistan gestern (»Charlie Wilson’s War«) und heute (»Lions for Lambs«). Selbst härteste Schicksale wie die des Daniel Pearl (»A Mighty Heart«) werden nicht ausgespart.

Diese Bandbreite zeugt von einem erstarkten Selbstbewusstsein ebenso wie von einer ernüchterten Weltsicht. Zwischen den Zeilen schwingt ehrliches Bekennermut. Und mit dem Gewinn thematischer Wahrhaftigkeit geht eine Revision gängiger Dramaturgien, Genre-Schablonen und Figurenkonstellationen einher. Trotzdem der Film produktionsbedingt eher ein Konsensmedium ist, zeigt sich eine erfrischende Bereitschaft zu Wagnissen in größerem Stil.

Das neue Hollywood schaut zunehmend über formale und inhaltliche Tellerränder hinaus, kippt ausgetretene Plotmuster und besetzt mutig gegen den Strich (etwa Pitt in »Babel«, Sandler in »Reign Over Me« und Jolie in »A Mighty Heart«). Man erfreut sich am Formelbruch, selbst nachgerade experimentelle Formen lockern den so genannten Mainstream auf (»I’m Not There«, »Redacted«).

Ein interessanter systemischer Aspekt ist hierbei, dass ein Formelbruch nur dann als solcher wahrnehmbar ist, wenn ein gewisses Regelwerk gegeben ist – in diesem Fall eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Machern und Publikum, die sich nicht in einem Statut festschreibt, sondern langsam, über viele, viele Werke, im kollektiven Filmbewusstsein verankert hat. Und maßgeblich geprägt hat diesen Prozess natürlich Hollywood selbst.

Nur wer das Handwerk beherrscht, produktionstechnische Freiheitsgrade besitzt und beim Filmemachen Erfahrungen und Erwartungen mitdenken kann, vermag damit zu spielen – ebenso wie ein Zirkusclown ein perfekter Jongleur und Balletttänzer sein muss, bevor er anfangen kann, Blödsinn zu machen. Erst dann finden Wollen und Können zusammen, erst dann können Bausteine zu neuen Formen kombiniert werden, die neue Bedeutungen transportieren.

Hollywood versammelt hierfür wie kein anderer Ort auf dem Planeten die idealen Ressourcen, und es ist gut zu sehen, dass sich kreative Kräfte ihrer mit frischer Energie bedienen. Die Studios stoßen ein kunterbuntes Konvolut von Filmen aus, Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche. Das Spektrum an künstlerischer Integrität, Kommerzialität oder einer wie auch immer gearteten Qualität könnte breiter nicht sein. Doch das Angebot zu sichten ist ein lohnendes Unterfangen, denn hier verstecken sich immer noch die wahrscheinlich besten Filme der Welt.

4 Reaktionen zu “Does this town need a hug? — »No Country
for Old Men« und das neue Hollywood”

  1. medienlese.com » Blog Archiv » 6 vor 9

    […] Bloß kein Happy End (Der Umblätterer, Andreas Vogel) Das neue amerikanische Kino spielt mit Formen, besetzt Filme gegen alle Erwartungen und produziert packende, gute Filme – ohne Happy End und mit Ecken und Kanten. Andreas Vogel listet in seinem Essay derart viele herausragende aktuelle Beispiel auf, dass ich gleich ins Kino verschwinden möchte. (via Mail) […]

  2. [i:rrhoblog] » links for 2008-04-04

    […] Does this town need a hug? “No Country for Old Men” und das neue Hollywood (tags: film kino mainstream hollywood filmkritik) Verwandte Einträge No Related Posts […]

  3. Cobalt

    exzellenter Artikel – die Frisur einer Mireille Mathieu *lol*
    und wie hat Jon stewart gesagt? thank god for teen pregnancy =)

  4. Hollywoods neuer Wohlfühlschrecken | Sennhausers Filmblog

    […] einem lesenswerten Essay im Umblätterer-Blog macht Andreas Vogel eine kleine tour d'horizon zum aktuellen […]

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