Kammerspiele

München, 6. Januar 2017, 16:05 | von Josik

Es war eine sternenklare Nacht. Im Zentrum von München sah man davon natürlich rein gar nichts, aus Feinstaubgründen, aus Nebelgründen und wegen dem ganzen anderen Schmodder. Ich hatte mich mit Don Ron um viertel vor sieben am Eingang der Kammerspiele verabredet. Beide hatten wir einen langen Arbeitstag hinter uns, deswegen konnten wir vorher kein Bier mehr trinken gehen, sondern kamen direkt von der Arbeit. Nun aber wollten wir endlich das tun, worauf wir uns schon seit Monaten gefreut hatten: »Wut« von Elfriede Jelinek sehen, in der Inszenierung von Nicolas Stemann.

Im Foyer der Kammerspiele dann: eine Schulklasse! Welcher Deutschlehrer bitteschön schleift denn eine Schulklasse in eine Jelinek-Inszenierung hinein? Noch dazu eine Inszenierung, die vier oder fünf Stunden dauert? Nun, vielleicht verehrte dieser Lehrer Jelinek ja genauso wie ich, vielleicht war er, genau wie ich, der Meinung, dass Jelinek die Literatur revolutioniert hat wie seit Goethe niemand mehr. Goethe, Jelinek, die ganze Literatur dazwischen war im Prinzip uninteressant.

Mein Namensvetter Josik von Sonnenfels musste damals vor zweieinhalb Jahrhunderten seine Wiener Zeitschrift »Der Mann ohne Vorurtheil« nennen, unter mir als seinem sozusagen Nachfahr würde sie heute »Der Mann mit Vorurtheil« heißen. Denn ich horchte in mich hinein und wurde gewahr, was ich fühlte, nämlich dass ich diese Schulklasse schon jetzt durchaus hasste. Aus Erfahrung wusste ich ja, wie sich diese Siebzehnjährigen im Theater traditionellerweise verhalten, wie sie kichern und wie sie stören, wie sie schwätzen und wie sie mit Bonbonpapierchen rascheln, wie sie pausenlos WhatsApp-Nachrichten mit viel zu vielen Emojis schreiben und wie sie den Zuschauerraum mit ihren Displays beleuchten.

Der Zuschauerraum selbst war überraschend leer: Die Schulklasse mit ihrem wahnsinnigen Lehrer nahm Platz, eine Handvoll Schwabinger Schreckschrauben, außerdem ein paar versprengte Gestalten sowie Don Ron und ich. Seltsam, die Kammerspiele waren doch in aller Munde? Christine Dössel hatte in der S-Zeitung eine interessante Kampagne zu den Kammerspielen vom Zaun gebrochen, und ich hatte gedacht, dass das die Zuschauerzahlen wieder enorm in die Höhe treiben würde. Anscheinend war aber heute abend das Gegenteil eingetreten?

Nicolas Stemann kam auf die Bühne, gab den Conférencier und meinte, es gebe keine Pause, zu einem gewissen Zeitpunkt würden aber die Lichter im Saal angehen und man könne gerne rausgehen und sich was zu essen und zu trinken mit reinnehmen, solle dabei bitte auf die Kissenbezüge achten, das kenne man ja von zuhause, und unterdessen werde auf der Bühne freilich weitergespielt werden, und die Szenen, die während der Pause, die ja gar keine Pause ist, gespielt würden, seien nicht die schlechtesten, außerdem sei das Stück, das Jelinek bekanntlich anlässlich des Anschlags auf »Charlie Hebdo« geschrieben hat, schrecklicherweise immer aktueller geworden.

Diese Ansage versprach schon mal nichts Gutes: Wenn das Stück so aktuell ist, wie der Regisseur sagt, dann würde man das doch von selbst merken, wozu also hob Stemann das eigens hervor? Dass wir uns in der Pause, die ja gar keine Pause war, keine Fressalien zu holen brauchten, war auch klar, u. a. deswegen, weil ich ohnehin schon Lebkuchen im Gepäck hatte und eine Flasche Moskovskaja, die ich neulich bei einer Wette gegen Don Ron verloren hatte. Ich hatte behauptet, dass Donald Trumps aktuelle Frau aus der Slowakei stamme, aber das war natürlich Unsinn, denn sie stammt ja aus Slowenien. Dass Donald Trumps erste Frau nicht aus Slowenien, sondern aus der Slowakei stammte, half mir logischerweise nichts.

Dann ging das eigentliche Stück los. Man muss leider sagen, dass es gerade am Anfang ziemlich schlecht war. Einige Zeit darauf war es glücklicherweise schon mittelmäßig, und kurz vor der Pause, die ja gar keine Pause war, wurde es sogar beinahe gut. Stemann hatte also wahrscheinlich recht mit seiner Ansage, dass die Szenen, die während der Pause, die ja gar keine Pause war, gespielt werden, nicht die schlechtesten sind.

Man konnte sich sehr gut ausrechnen, wie es weitergehen würde: Nach der Pause, die ja gar keine Pause war, musste die Inszenierung brillant werden, einige Zeit darauf perfekt und am Ende genial! Die Strategie dahinter verstand ich leider nicht. Wäre es im Interesse der Zuschauer nicht umgekehrt sinnvoller gewesen, man hätte mit den genialen Passagen angefangen, dann zu den perfekten und brillanten übergeleitet, und die mittelmäßigen und schlechten einfach gestrichen?

Ich war aber auch ziemlich verstört, weil die Schulklasse absolut aufmerksam war. Wahrlich, man konnte sich keine aufgeschlosseneren, interessierteren und lautloseren Theaterzuschauer als diese Schüler wünschen. Wie war das möglich? Ist Jelinek inzwischen bayerischer Eliteabiturstoff? Und war dieser Theaterbesuch der vollgültige, pragmatische und ja auch einzig mögliche Ersatz für die Lektüre des Stücks? Es war ja klar, dass kein Schüler das Jelinek-Stück gelesen haben konnte. Das Stück steht frei und kostenlos verfügbar auf Jelineks Homepage, aber wenn man nur mal bis zum Ende dieses Stücks runterscrollte, dauerte dies drei Wochen, und wenn man das Stück ausdruckte, brauchte man dafür fünfhunderttausend Blatt.

In der Pause, die ja gar keine Pause war, schlichen Don Ron und ich uns raus, da wir ja noch ein Bier trinken gehen wollten. Nach dem Ende des Stücks wäre es dafür natürlich zu spät gewesen. Außerdem schmerzten unsere Knie, da die Stuhlreihen in den Kammerspielen so dicht beieinander stehen, dass es sogar jemand wie ich, der weiß Gott nicht hoch gewachsen ist, dort nicht lange aushält – anthropologisch gesehen ist der Selbsterhaltungstrieb am Ende dann doch stärker als die Jelinekverehrung.

Wir gingen also ins Conviva, bei den Kammerspielen um die Ecke. Am Nebentisch saß eine stadtbekannte Literaturagentin. Don Ron bestellte ein kleines Bier, ich bestellte ein großes Wasser. Wir sprachen über die soeben gesehene erste Hälfte der Inszenierung, waren aber etwas ratlos. Wäre es vielleicht doch besser gewesen, das Stück vorher auf irgendeine noch zu erfindende Weise zu lesen? Am selben Abend hätte es in einer Außenstelle des Lyrikkabinetts laut Programm auch eine Veranstaltung gegeben, in der diverse Gedichte und Lyrikübersetzungen der von Suzan Kozak, Karin Fellner und Tristan Marquardt angeleiteten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sammelkurse Türkisch Q11 und Q12 vorgestellt wurden. Vielleicht hätten wir lieber dorthin gehen sollen?

Aber es half ja nichts, wir mussten nach vorne blicken. Die stadtbekannte Literaturagentin ging an unserem Tisch vorbei, auf die Toilette. Don Ron erzählte von der großen Jürgen Kuttner’schen Videoschnipsel-Party, die er wenige Tage zuvor in der Volksbühne in Berlin miterlebt hatte, und dass dort der bekannte Wahlkampfsong von Joseph Beuys »Wir wollen Sonne statt Reagan« nicht, wie sonst immer, am Ende vorgespielt worden war, sondern gleich ganz am Anfang. Das überraschte mich nun sehr.

Die Bedienung brachte eine 0,75l-Flasche Wasser und ein 0,25l Glas Bier. Uns traf beinahe der Schlag. In der ganzen Welt versteht man unter einem »großen Wasser« ein 0,4- oder 0,5l Glas Wasser, aber doch keine 0,75l-Flasche! Und in der ganzen Welt versteht man unter einem »kleinen Bier« in etwa ein 0,33l-Bier, außer natürlich in solch lächerlichen und kulturlosen Verwaltungseinheiten wie Köln oder so (no offence!).

Juristisch gesehen hatten wir keine Chance: Ich hatte ein großes Wasser bestellt und ein großes Wasser bekommen, wenn auch ein sehr großes, Don Ron hatte ein kleines Bier bestellt und ein kleines Bier bekommen, wenn auch ein sehr kleines. Zusätzlich hatte mich nun eine große Unruhe erfasst, weil die stadtbekannte Literaturagentin nach vielleicht vierzig Minuten noch immer nicht von der Toilette zurückgekommen war. None of my business natürlich, aber ich machte mir irgendwie langsam Sorgen.

Don Ron hatte sein mit dem menschlichen Auge kaum sichtbares Bier längst ausgetrunken, ich meinen gefühlten Maßkrug Wasser mittlerweile auch. Es war Zeit zu gehen. Wir verabschiedeten uns, und ich machte mich über die menschenleere Maximilianstraße gedankenverloren auf den Heimweg. Obwohl ich nicht Pokémon spiele, ging ich wie immer zu Fuß. Wenn alles nach Plan läuft, werden Don Ron und ich uns in den Kammerspielen demnächst die zweite, die geniale Hälfte von »Wut« ansehen, worauf ich mich schon riesig freue.
 

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