»Financial Times Deutschland«-Hymne

Berlin, 29. Dezember 2012, 16:45 | von Josik

Zwei Tage vor ihrem Ende hat die FTD noch mal einen echten Scoop gelandet. Hatte Roland Kaiser nämlich noch im Jahr 2005 deshalb öffentlich gesungen, »damit Schröder Kanzler bleibt« (SPON), und hatte Schröder damals unmittelbar darauf die Wahl verloren, so erklärte der beliebte Schlagersänger nun im FTD-Interview nicht nur, dass er 2013 auch für Peer Steinbrück kampfsingen wolle, sondern es blieb ihm, Roland Kaiser, auch vorbehalten, diese historische, aber in der Fülle der Nachrichten irgendwie untergegangene Botschaft zu übermitteln: »Gerhard Schröder posthum zu negieren, das wäre falsch.«

Als ich mich am Abend des 7. Dezember aufmachte, von Göttingen nach Witten zu fahren, war der ICE 534 enorm verspätet und ich konnte in Hannover den geplanten Anschluss-IC 2444 nicht mehr erwischen. Sowohl in sämtlichen Göttinger als auch in sämtlichen Hannoveraner Bahnhofskiosks war die letzte Ausgabe der FTD mit dem genialen Titel »Final Times Deutschland« ratzfatz ausverkauft. Aber das Glück war mir hold! Im ICE 552, mit dem zu fahren ich genötigt war, hatte nämlich irgendjemand die »Final Times Deutschland« liegenlassen, und so las ich sie gleich von der ersten bis zur letzten Zeile zwei Mal durch, nur die überflüssige Quatschbeilage »Interim-Management« ignorierte ich. Besonders begeisterte mich natürlich, dass auf der vierzehntletzten Seite ein Bericht aus Witten zu lesen war!

Ganze zwei Mal las ich die FTD deswegen, weil ich nach der ersten beendeten Gesamtlektüre dachte, ich hätte irgendwo einen Beitrag von Willy Theobald übersehen. Aber nein! Es war unfassbar: Während z. B. Ines Zöttl allein auf der drittletzten Seite gleich mit zwei Beiträgen vertreten war (wobei ihr Nachname einmal für das internationale Publikum Zoettl und einmal für das deutschsprachige Publikum Zöttl geschrieben wurde), war Willy Theobald mit keinem einzigen Beitrag vertreten! Dass auf der einundzwanzigstletzten Seite ein für das menschliche Auge kaum sichtbares Willy-Theobald-Foto (im Format 1,5 cm × ca. 1,65 cm) abgebildet war, konnte da wohl schwerlich entschädigen.

Um Willy Theobald angemessen würdigen zu können, muss man vielleicht beherzigen, was Jörg Sundermeier neulich in der »Jungle World« schrieb: »Die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers, die schlagartig alle erkennen ließ, wie schlecht es um die globalen ökonomischen Verhältnisse bestellt ist, traf die Redaktion der FTD genauso überraschend wie zum Beispiel die Redaktion der Glocke, eine Regionalzeitung im Münsterländischen.« Nun kann man sicherlich darüber streiten, ob man jene Teile, für die die FTD berühmt war, wirklich in der Pfeife rauchen konnte und ob Gruner + Jahr deshalb genau das auch getan hat.

Jedenfalls: Jener Teil, der einen wirklich unersetzlichen Verlust bedeutet, ist natürlich das von Willy Theobald verantwortete geprägte und in geradezu barocker Manier »Out of Office« titulierte Feuilleton. Zwar würden wir selbstverständlich jeder Zeitung, die eingestampft wird, ob ihres jeweiligen Feuilletons mehr oder weniger hinterhertrauern. Im Fall der »Financial Times Deutschland« ist es uns damit allerdings wirklich ernst. Ein Team, das über mehr als eine Dekade hinweg in einer durchgehend defizitären Wirtschaftszeitung regelmäßig eine ganze Seite nach Lust und Laune mit kulturellem Schnickschnack vollkleistern kann, und zwar ohne indirekt von Inseraten für Sachbuch- oder Belletristiktitel abhängig zu sein, ein solches Team hat beinahe alles richtig gemacht, was man im Berufsleben überhaupt nur richtig machen kann. Was man im prädigitalen Zeitalter oft über die FAZ sagen hörte: nämlich dass man idealerweise das Feuilleton separat abonnieren können sollte – das traf auf »Out of Office« ja noch viel mehr zu.

Wenn diese Würdigung hier, die schon seit ungefähr zwei Jahren geplant war, nun zu spät kommt und sich wie ein Nachruf liest, ist das einerseits natürlich entsetzlich und furchtbar, war andererseits aber auch irgendwie unvermeidlich. Denn mit uns und der FTD ging es quasi zu wie beim Hasen und beim Igel: Immer wenn wir eine Zusammenfassung des genialen Schaffens der »Out of Office«-Redaktion liefern wollten, hatte die schon wieder ein neues geniales Stück rausgehauen, so dass wir mit dem Sammeln und Hinterherhecheln gar nicht fertig wurden. (Der Vergleich ist aber eigentlich ziemlicher – mit Harry G. Frankfurt gesprochen: – Bullshit, weil in diesem Fall ja nun nicht der Hase, sondern der Igel tot ist.) Vielleicht aber haben wir untereinander in den vergangenen Jahren auch einfach nur, ohne es immer groß zu notieren, zu viel über die »Out of Office«-Bewertungsskala gequatscht. Denn jedes Buch wurde am Ende der jeweiligen Rezension noch auf einer Skala von 1 bis 5 Punkten bewertet.

Zum Beispiel diskutierten wir stundenlang erbittert über die Frage, warum das Buch »Vier Äpfel« von David Wagner, das innerhalb etwa eines Monats schließlich gleich zwei Mal rezensiert wurde, das eine Mal 4 von 5 Punkten erhielt, das andere Mal aber nur 3 von 5 Punkten. Steckte da ein interner Machtkampf der Redaktion dahinter? (Das war meine Vermutung.) Oder war das Ausweis einer liberalen Grundhaltung? (Paco.) Oder eine semiotische Revolution? (Montúfar.) Oder ein Versehen? (Finanzfachmann Dique.) Für ein Versehen sprach immerhin, dass zum Beispiel Adolf Muschgs Roman »Löwenstern«, welcher ebenfalls zwei Mal – diesmal im Abstand von etwa anderthalb Monaten – rezensiert wurde, vollkommen einheitlich und übereinstimmend beide Male zwei Punkte erhielt.

Übrigens muss man sich darüber im klaren sein, dass das »Out of Office«-Team sich einen seiner grandiosen Hauptspäße daraus gemacht hat, immer neu zu verhandeln, ob auf der besagten Skala 5 oder aber ob 1 nun der niedrigste Punkt war bzw. umgekehrt: ob 1 oder aber ob 5 nun der höchste Punkt war. Das musste die Leserschaft eben von Fall zu Fall selber herausfinden. Gab es nur 2 oder 4 oder gar (horribile dictu!) 3 Punkte, so war damit unendlicher Spielraum gelassen für bisweilen boshaft-satirische, bisweilen luzid-verunklarende Formulierungen. Ich zitiere mal zu Demonstrations­zwecken zwei Rezensionen in voller Länge:

»Nachtprinzessin« von Sabine Thiesler

Ein Thriller über die Vereinigung von Eros und Thanatos, wie der Klappentext vollmundig verspricht? Weit gefehlt. Die Prinzessin ist ein homosexueller, narzisstischer Mittvierziger mit krankhafter Mutterliebe, übersteigerter Geltungssucht und genug Liquidität, um sich einen ausschweifenden Lebensstil zu leisten. Als die Mutter einen Schlaganfall erleidet, mordet er das erste Mal. Zu dem als Koch überforderten Sohn kommen noch eine alleinerziehende Kommissarin samt pubertierender Tochter und ein von seiner Frau dominierter Carabiniere: Thiesler zieht sämtliche küchenpsychologischen Klischees heran, wirft alles in einen Topf, rührt kräftig durch – vergisst aber die nötige Würze. Die Fahndung, die Psyche des Täters – alles bleibt oberflächlich und unmotiviert, sodass man das Buch am Ende enttäuscht zur Seite legt.

Von Anna Tschackert

Nachtprinzessin
Autor: Sabine Thiesler | Heyne | 576 S. | 19,99 Euro
FTD-Bewertung: 5 von 5 Punkten

Und:

»Weltliteratur für Eilige« von Henrik Lange

Zum Thema »Fachwissen für Dünnbrettbohrer« gibt es nicht nur tonnenweise Bücher, Fernsehsendungen und DVDs, sondern sogar Volkshochschulkurse. Menschen jedoch, die sich als profunde Bücherwürmer ausgeben wollen, sollten um dieses schmale Bändchen – auch wenn es auf knapp 180 Seiten fast 100 Literaturklassiker vorstellt – einen großen Bogen machen. Am originellsten ist an »Weltliteratur für Eilige« noch der Untertitel »Und am Ende sind sie alle tot«. Auf jeweils einer Seite mit drei Comiczeichnungen und ebenso vielen Sätzen werden Belletristikevergreens von »Der Tod in Venedig« bis »American Psycho« vorgestellt. Leider sind diese Inhaltsangaben so kryptisch, dass man damit noch nicht einmal vor einem einigermaßen belesenen Hund (siehe Thomas Pynchon) als Literaturfachmann auftreten kann.

Von Willy Theobald

Weltliteratur für Eilige
Autor: Henrik Lange | Droemer/Knaur | 186 S. | 7,95 Euro
FTD-Bewertung: 5 von 5 Punkten

Zwei vernichtende Kritiken – und beide Male 5 von 5 Punkten! Man versteht, warum Willy Theobald in seiner von Hellmuth Karasek bezweitgutachteten Dissertation den wunderbar pikaresken Satz schrieb: »Man hat dem Feuilleton (…) immer wieder den Vorwurf des Feuilletonismus gemacht«. Trotzdem gilt aber, dass in der Regel fünf Punkte das Höchste, also das Beste waren. Doch wenn Willy Theobald Martin Walsers »Über Rechtfertigung, eine Versuchung« immerhin 4 von 5 Punkten gab, dann las sich das wieder so:

Vom Holocaust über den Vietnamkrieg bis zur DKP: Walser hat fast überall mit der Schreibmaschine gerasselt, nimmt aber trotzdem das Privileg des ewigen Zweifels für sich in Anspruch. (…) Munter schwadroniert er vom Ablasshandel und dem Schweizer Theologieprofessor Karl Barth – schade, dass er Mario Barth ausgelassen hat – über Max Weber und »Tonio Kröger« bis hin zu Zarathustra. Trotzdem bleibt man am Schluss ratlos: Wenn jede Rechtfertigung ohne »religiöse« Basis zur Rechthaberei verkommt – an welchen Gott oder welche Götzen sollen wir denn nun glauben? Und eine ontologische Letztbegründung scheint Walser mit seiner semiphilosophischen Postwurfsendung sowieso nicht im Sinn zu haben.

Willy Theobald! Unter seiner gefühlten Ägide ist es auch gelungen, Thоr Kunkеl für die Mitarbeit zu gewinnen, der in »Out of Office« fleißig Rezensio­nen publizierte. Er war für die ganz großen Namen und für die ganz großen Werke zuständig, ich nenne hier nur Jean-Jacques Rousseaus »Träumereien eines einsam Schweifenden« (5 von 5 Punkten), León Bloys Erzählband »Blutschweiß« (5 von 5 Punkten), Michael Knokes »Das Tal des Grauens« (5 von 5 Punkten), Guido Rоhms »Blutschnеise« (5 von 5 Punkten), Leander Sukovs »Warten auf Ahab« (5 von 5 Punkten) oder Thomas Steinfelds »Der Sprachverführer« (2 von 5 Punkten). (Apropos Thоr Kunkеl, hat sich eigentlich schon mal jemand um das himmelschreiende Plagiat gekümmert, das der »Guardian« damals an Volker Weidermann begangen hat? FAS, 1.2.2004: »Es sollte eines der Bücher dieser Saison werden. Mit allem, was einen schönen, großen Publikumserfolg zu garantieren scheint: Sex, sehr viel Sex. Nazis, sehr viele Nazis (…) und ein großes romantisches Finale.« – The Guardian, 12.2.2004: »(…) until last week, few in Germany’s literary world doubted that Thоr Kunkеl’s latest novel, Final Stage, was going to be anything but a rip-roaring success. The novel had all the right ingredients – sex, a lot of sex, Nazis, more Nazis, and a spectacular romantic finale.« Aber das nur nebenbei.)

Vermutlich würden sich »sensible Literaturkritiker wie Marcel Reich-Ranicki« (Willy Theobald) an einem solchen Punktesystem stören. Wenn man aber gar nicht weiß, was die Punkte bedeuten, ist dieses System natürlich als herrliche intellektuelle Spielerei leicht zu rechtfertigen. Dankenswerterweise konnte Willy Theobald auch seine Emphase in der Regel seitengenau verorten: So war er beispielsweise von Andreas Bernards »Vorn« (5 von 5 Punkten) »ab der dritten Seite schwer begeistert«, wohingegen über Philip Roths »Die Demütigung« (4 von 5 Punkten) zu lesen stand: »Dass dieses Buch ein kleines Meisterwerk ist, merkt man erst auf der letzten Seite«, was, wenn man’s genau bedenkt, ja das absolute Gegenteil einer Empfehlung ist.

Ein gewisses Muster ließ sich in »Out of Office« auch immer dann erkennen, wenn von Schauspielern verfasste Bücher rezensiert wurden. So hieß es über »Zehn. Stories«: »Literatur ist ein heikles Feld. Vor allem Schauspieler ernten schnell Häme und Spott, wenn ihre ersten Schritte auf fremdem Terrain zu profan, zu schwülstig oder zu gestelzt erscheinen. Doch Franka Potente bewegt sich mit ihren Kurzgeschichten auf sicheren Wegen«. Und z. B. die »Mittelreich«-Rezension begann folgendermaßen: »Wenn Schauspieler Bücher schreiben, kann es schnell peinlich werden. Diese Gefahr besteht bei Josef Bierbichler nicht.« Trotzdem erhielt Josef Bierbichler überraschenderweise nur 4 von 5 Punkten, wohingegen Franka Potente 5 von 5 Punkten erhielt. Aber das kann ja, wie gesagt, alles mögliche bedeuten.

Bisweilen ersetzte ein einziger Satz aus einer Willy-Theobald-Kritik die Lektüre des Gesamtwerks des rezensierten Autors, zum Beispiel des Gesamtwerks von Nicholson Baker: »Um nicht auf jeder Seite die Wörter Penis, Vagina und Geschlechtsverkehr einzusetzen, benutzte der Autor jede Menge Vulgärbezeichnungen wie ›Schwanz‹, ›Muschi‹ oder ›Ficken‹, schreckte aber auch nicht vor ziemlich merkwürdigen Formulierungen wie ›pochender Höllenhund‹, ›siedender Bienenstock‹, oder ›united Parcel‹ zurück.« Nicht immer aber war der »Out of Office«-Humor so leicht zu durchschauen. Schrieb Alphonse Daudet wirklich ein so grottiges Französisch? Das müsste man mal überprüfen. Oder warum sonst hieß es über Julian Barnes, dass er »auch französische Literatur wie zum Beispiel von Gustave Flaubert und Alphonse Daudet ins Französische übersetzt«? Und warum wurde in der Kritik zu dem Roman »Die Tiere von Paris« (3 von 5 Punkten) diese sonderbare Einschränkung formuliert: »Margit Schreiner ist mit einigen österreichischen Literaturpreisen ausgezeichnet worden – doch der Zugang zu diesem Buch fällt nicht leicht«?

Wie man zumindest in die sichere Nähe eines der bedeutendsten deutschen Literaturpreise kommt, dafür jedenfalls hat Willy Theobald einmal einen goldenen Tipp gegeben, nämlich als er Wilhelm Genazinos »Wenn wir Tiere wären« (5 von 5 Punkten) rezensierte: »Irgendwie entsteht immer der Eindruck, der Autor wandere durch einen Zoo – der eigentlich das real existierende Leben ist – und wundere sich pausenlos über die merkwürdigen Tiere, denen er dort begegnet. Dass es Genazino damit auch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, versteht sich von selbst.«

Eine der großartigsten Taten, die die »Financial Timеs Deutschland« vollbracht hat, war aber, dass sie eine sensationelle Parodie auf das Günter-Grass-Gedicht (man kann ja inzwischen praktischerweise im Singular von dem Günter-Grass-Gedicht sprechen, ganz so als ob er in seinem Leben nix anderes geschrieben hätte) als Leitartikel abdruckte. Wer den noch nicht gelesen hat, sollte das möglichst sofort tun, denn in der münsterländischen »Glocke« stand, dass der Webauftritt der FTD »voraussichtlich noch bis zur Jahreswende erhalten« bleibt, also nur noch wenig mehr als zwei Tage. Und wer noch nicht der FTD-Empfehlung, das sagenhafte Wenzel-Hablik-Museum in Itzehoe zu besuchen, gefolgt ist, sollte auch das allerschleunigstens nachholen! Übrigens liegt in einigen Kiosken, nachdem ja aufgrund der großen Nachfrage 30.000 Exemplare nachgedruckt wurden, die »Final Times Deutschland« noch immer aus – das nur zur Info für diejenigen, die sie noch nicht haben oder die noch auf der Suche sind nach einem tollen Neujahrsgeschenk.
 

4 Reaktionen zu “»Financial Times Deutschland«-Hymne”

  1. amo

    episch, danke.

  2. Theo

    Wunderbarer Text. Und gerade noch rechtzeitig.

  3. Frank

    Gute Punkte. Leider nur zwei entscheidende Fehler: „Out of Office“ wollte nie Feuilleton sein, sonst hätte es sich so genannt (so wie die Kommentare in der FTD Kommentare hießen und das Politik-Ressort Politik et cetera), und Willy Theobald hat „Out of Office“nicht verantwortet.

  4. Josik

    Hm, was ‚Out of Office‘ sein wollte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, was es gewesen ist, siehe oben. Ansonsten habe ich ‚verantwortete‘ durch ‚geprägte‘ ersetzt, danke für den Hinweis!

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