Lost: 4. Staffel, 7. Folge

London, 20. März 2008, 01:19 | von Dique

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »Ji Yeon«
Episode Number: 4.07 (#78)
First Aired: March 13, 2008 (Thursday)
Deutscher Titel: »Ji Yeon« (EA 27. 7. 2008)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Eine Sun-zentrierte Folge, und ich bin erst mal enttäuscht. Dieser ganze Affären-, Klassen- und Vaterkomplexkram geht mir gehörig auf den Zeiger. Doch die 4.07 entpuppt sich dann schnell als starke Folge mit einer ganzen Menge Puzzleteilen.

Gehen wir voll rein in die großen Bedeutungsfelder: Benjamin Linus und Charles Widmore verkörpern zwei Mächte, die sich im Kampf um die Insel gegenüberstehen und dabei informationspolitisch-manipulatorisch die Sau rauslassen. Wer wen als Scherge und Opfer benutzt, ist noch nicht ganz klar, aber beide nutzen alle Tricks, um den Gegner taktisch zu schwächen.

Wenn man den Aussagen des Frachter-Captains Glauben schenkt, hat Ben also aufwendig falsche Spuren gelegt, indem er den gecrashten Rumpf der Oceanic 815 irgendwo im Ozean platziert hat, zusammen mit 324 Leichen, die zahlenmäßig der Passagierliste des Fluges entsprechen. Mit dieser Finte will er offenbar alles und jeden von der Insel fernhalten, hat aber nicht mit Widmore gerechnet, der irgendwie (wie?) die Original-Black-Box des 815er Fluges auftreiben konnte. Und jetzt ankert sein Freighter namens »Kahana« in der Nähe der Insel.

Allerdings wird dieser auch sabotiert, wahrscheinlich von einem alten Bekannten, Michael. Denn: Ein bisschen frisiert und inkognito (als Kevin Johnson), aber immer noch mit seinem gereizten Blick, sehen wir ihn endlich wieder. Welcome back, brotha, würde Desmond sagen, sagt er aber nicht, da er ihn ja gar nicht kennt. Michael, der im Finale der 2. Staffel mit seinem Sohn Walt erfolgreich von der Insel fliehen durfte, scheint also Bens Spion an Bord des Freighters zu sein.

Benjamin Linus erschien ja von Anfang an als äußerst vierschrötig und unheimlich, schon als er sich noch als Henry Gale ausgab, mit oder ohne sein gelb-blau geschlagenes Gesicht, und nun wird ihm noch dieses »staged wreckage« des Fliegers angehangen. Aber jetzt kommt’s:

»What’s even more disturbing … where exactly does one come across 324 dead bodies? And that, Mr. Jarrah [Sayid], Mr. Hume [Desmond], is just one of the many reasons we want Benjamin Linus.«

Das sagt wiederum Widmores Kapitän. Verkörpert also Widmore die gute Seite der Insel-Medaille? Unwahrscheinlich. Das kann man der Serie gar nicht genug danken, dass sie bei ihrer Konstellation der Mächte eben nicht klar zwischen Gut und Böse unterscheidet. Die Konturen verschwimmen je nach Informationslage, und es begegnen uns auf der Mikroebene der Charaktere sowie auf der Makroebene des Plots stark ausgeprägte Ambivalenzen.

Juliet zum Beispiel ist uns in ihrer wachsenden Apathie gegen ihren Boss Ben Mal um Mal sympathischer geworden. Doch in dieser Folge lässt sie wieder ihre Skrupellosigkeit heraushängen. Mit berechnender Eiseskälte haut sie dem gerade so Englisch radebrechenden Jin das Affärengeheimnis seiner Frau ins Gesicht. Das Geheimnis, das ihr von Sun in einer prekären Lage vertraulich mitgeteilt wurde. Am Ende vertragen sich aber alle wieder, Jin & Sun, Sun & Juliet. Sie wollen ja alle bloß von dieser verdammten Insel runter, und da haben die Emotionen eben mal kurz übergekocht.

Für Sun sowieso, klar, aber auch für uns Zuschauer mit Wissensvorsprung gegenüber der koreanischen (nun) Mutter, erscheint Juliet noch immer zwielichtig, was treibt sie eigentlich, will sie wirklich einfach von der Insel runter, irgendwo sicher, aber is it as simple as that?

Auch Bernard findet eine schöne Beschreibung für die wabernde gut/böse-Dichothomie. Bernard, der zusammen mit seiner Frau Rose einer der wenigen zu sein scheint, der keine Leichen im Keller hat. Nachdem Jin die Affäre seiner Frau serviert bekommen hat und sich zur Beruhigung zum Fischen aufs Meer zurückzieht (als Symbol der Reinigung funktioniert das ja immer gut), hält ihm Bernard diesen Monolog über die Ehe, der wohl Jin darin bestärkt zu verzeihen und zu Sun zurückzukehren, um dieses Kapitel ein für alle mal abzuschließen.

Vor allem stellt Bernard zum ersten Mal fest, was auch die Zuschauer noch nicht so gedacht haben werden, obwohl es stimmt: »Locke is a murderer.« Dann erklärt er Jin das Karma-Konzept, eine Hommage à »My Name Is Earl«, die NBC-Comedyserie, in der das allgegenwärtige Karma neben dem Ex-Tunichtgut Earl die Hauptrolle spielt:

»You see, now, that’s karma. We must be the good guys, huh?«

Das ist einerseits ironisch, wenn man Jins Vergangenheit als mordender Scherge von Suns Vater bedenkt. Andererseits stimmt man sofort zu, ja, Jin is one of the good guys. Das passt irgendwo auch ein bisschen zu unserer kürzlich geführten Diskussion um Schirrmachers Artikel über Peter Hacks. Schuld, Sühne, Chance, Fehler, gut, böse »und der ganze Crap«, wie George Costanza vielleicht sagen würde.

Die Sterberate ist übrigens für eine Serie, die ja immer wiederkehrende Figuren braucht, recht hoch, und manche Tode kommen und gehen ohne irgendeine Konsequenz. Da springt nun diese Regina (Tarantinos »Death Proof«-Muse Zoë Bell) mit Ketten um den Leib ganz von sich aus in den Ozean. Die Besatzung juckt das nicht, keiner springt hinterher um sie zu retten.

Gut, vielleicht kann man da auch nichts machen, cabin fever und so, aber trotzdem wird dann ziemlich schnell umgeschaltet, obwohl da gerade ein Mensch in den Tod gesprungen ist (auch wenn Z. B. im wirklichen Leben Stuntfrau ist und ihr nichts passiert sein wird, hehe). Man denke hier auch noch mal an Locke. Der ballert einfach mal Naomi ab und wird dann Führer des einen Flügels der Überlebenden. Auch diese ganzen Morde an den Others, etwa in einer der letzten Szenen der dritten Staffel, als Sawyer den Other Tom regelrecht hinrichtet.

Jack sehen wir dieses Mal nur ganz kurz. Eine dieser Jack-Szenen, in denen er sich nach irgendjemandes Wohlbefinden erkundigt. Er erinnert mich darin sehr an Doctor Livesey in irgendeine Verfilmung der »Schatzinsel«. Der kommt da auch manchmal mit der weißen Fahne ins Blockhaus und erkundigt sich nach dem Wohlbefinden der verfeindeten Piraten, die auch gerade Jim Hawkins auf ihrer Seite haben.

Auch Kate wurde etwas stiefmütterlich in die Folge hineingeschrieben und erscheint wie einer dieser Vollgummibälle, die mit unglaublicher Kraft unkontrolliert herumspringen, nicht wissen, wo sie hinwollen und dabei eine Menge Porzellan zerschlagen.

Ach ja, Jin ist angeblich tot. Das Datum auf seinem Grabstein ist das Datum des Flugzeugabsturzes. Zumindest dieses Datum hat er aber überlebt, das müssten Jin und Hurley eigentlich wissen. Andererseits scheinen beide im Flashforward trotzdem anzunehmen, dass er tot ist, warum auch immer.

Sehr schön ist die Parallelisierung von Suns Entbindung im Flashforward mit Jins Kauf eines riesigen Plüschpandas, den er slapstickhaft durch den koreanischen Großstadtverkehr schleppt, bevor er ihn als Representative von Suns Vater, Mr. Paik, in einem Krankenhaus abliefert, offenbar eine Flashback-Szene.

Sun wird jedenfalls als eine der Oceanic Six bezeichnet, also fehlt noch einer. Aaron scheint nicht zu zählen, da er ja auch nicht auf der Passagierliste stand, weil er beim Absturz noch nicht geboren war.

Okay, vielleicht ist das beste an dieser Folge, dass dieser ganze Sun/Jin-Affärenkram ein für alle mal vorbei ist. Bleiben Vaterkomplex und Klassenunterschied, also immer noch genügend Lückenfüller, hehe.

6 Reaktionen zu “Lost: 4. Staffel, 7. Folge”

  1. ThoHa

    Algebraischer Einspruch! Ich glaube, wir sind tatsaechlich schon drueber ueber die 6, denn:
    1 Kate
    2 Jack
    3 Sahid
    4 Hurley
    5 Sun
    sind klar.
    Ich vermute ausserdem, dass sich „Oceanic 6“ auf „6 gerettete“ und nicht auf „6 den Absturz ueberlebende“ bezieht, damit wuerde Aaron als Nummer 6 zaehlen. Und falls nicht, haben wir ja immer noch Ben, bei dem man zwar mutmassen koennte, dass er auf Seitenwegen von der Insel runter kam – ich schaetze aber, dass er einer der 6 ist, da er ja auch einen ganz regulaeren Beruf eingenommen hat. Oder? Staffelhalbzeit ist ueberschritten, oh jeh…

  2. ThoHa

    Und hier gibt es noch mehr Theorien uebrigens: http://www.thetvshowblog.com/2008/03/19/who-are-the-oceanic-six/ . Was mir gerade einfaellt, und was mich seit vergangener Staffel irritiert ist, dass Aaron im Vergleich zur Zeit auf der Insel mindestens 1 oder Jahre aelter aussieht. Sun hat aber noch nicht mal ihr Kind bekommen… Ist Aaron vielleicht gar nicht der Aaron, der wir denken, dass er ist?

  3. Dique

    Zu den 6; Aaron ist nicht wirklich einer der 6, weil er nicht auf der Passagierliste stand, er wurde ja auf der Insel geboren und Ben was ja auch kein Passagier.

    Der Altersunterschied könnte sich ganz einfach damit aufklären, dass wir uns in verschiedenen Zeiten befinden in diesen beiden erwähnten Folgen. Dagegen spricht allerdings der Gerichtsprozess. Man würde vermuten, dass Kate gleich nach Rückkehr belangt wird und nicht erst Jahre später. Dann hat es vielleicht doch irgendetwas mit der Inselzeit zu tun, die ja anscheinend etwas anders verläuft.

  4. Paco

    @Thomas: Die Lost-Theorien mäandern ja durchs Web wie ein Rhizom. Die zuverlässigste, zurechnungsfähigste, enzyklopädischste Website ist die Lostpedia, ich selber lese außer ein paar amerikanischen TV-Blogs nichts anderes (die Zeit!), und dort gibt es auch einen neutral gehaltenen Artikel zu den Oceanic Six.

  5. ThoHa

    Ich halte es dann mit Doc Jenssens Leser-Edukation: „I admire your frank baby-hating honesty. But it’s time you and the rest of your Aaron-denying kind face facts: The kid is Oceanic 6. And the mystery is settled.“ Inkl. Herleitung auf http://www.ew.com/ew/article/0,,20185253_3,00.html. Aber was fuer ein Terror, dass sie uns jetzt schon wieder fuenf Wochen warten lassen! Dafuer ist BSG nicht mehr fern, wie jeder Schatten doch zum Licht fuehrt ;-)

  6. Paco

    Ja, die Lostpedia hat Aaron jetzt auch in ihrer 6er-Liste drin. Diese Entscheidung basiert offenbar vor allem auf den Aussagen der Producer, die verlautbart hatten, dass nach Folge 4.07 alle 6 Survivor-Celebs bekannt sind. Trotzdem fehlt ein eindeutiger Hinweis, dass er einer der Oceanic Six ist. Aber gut, den werden die sicher nachliefern.

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