Massakerminiaturen (4)

Berlin, 23. Mai 2010, 21:24 | von John Roxton

Es ließ sich später nicht mehr feststellen, wie die Granate ins Feuer geraten konnte. Der rotglühende Ofen war explodiert wie ein kaputter Dampftopf und entfaltete in dem kleinen Schankraum die Wirkung eines Kartätschenvolltreffers. Aus den aufgelesenen Körperteilen und der hastig vorgenommenen Zuordnung der gefundenen Habseligkeiten wurde die Zahl der Toten im offiziellen Bericht mit sechs angegeben. Trotz der schützenden Theke waren der Wirt und seine Tochter von der Wucht der Explosion zerrissen worden. Drei Soldaten des Jäger­bataillons konnten anhand der Uniformstücke und der verbogenen Zinnkrüge mit dem Signet ihrer Einheit identifiziert werden. Auf einen vierten Mitspieler des Würfelspiels ließ sich nur durch die Aufzeichnung der Spielstände auf einem Bierfilz schließen. Der einzige Überlebende, ein politischer Geschäftsführer des Straßenbahnkonzerns, konnte wegen eines handtellergroßen Lochs im Gesicht bis zum Rückflug der Untersuchungskommission nicht vernommen werden.

*

Jedes Jahr am 23. Mai:

John Roxton: »Massakerminiaturen«

#1 (2007)#2 (2008)#3 (2009)#4 (2010) – #5 (2011)
#6 (2012)#7 (2013)#8 (2014)#9 (2015)#10 (2021)

Ein Brief von Umar Vadillo Goicoechea

Hamburg, 22. Mai 2010, 11:05 | von Dique

Morgen wird es hier im Umblätterer wieder eine Massakerminiatur von John Roxton geben, wie jedes Jahr am 23. Mai. Vor ein paar Tagen traf ich John auf ein Stück Butterkuchen in der Konditorei Stenzel, und wir sprachen kurz über die Tradition der Massakerminiatur in der Literatur allgemein und in der Blogosphäre im Speziellen.

Später kamen wir, wahrscheinlich abgekoppelt von diesem Thema, auf Ernst Jünger zu sprechen. Das ging dann vielleicht fünf Minuten so dahin, bis wir aufstanden und gehen wollten, als uns ein allein sitzender junger Mann vom Nebentisch aus ansprach und provokant fragte, was denn mit »dem Arbeiter« sei! Kein »Entschuldigense bitte«, kein »Darf ich mich kurz vorstellen?«, einfach nur: »Ähm, was ist denn mit ›dem Arbeiter‹!«

In retrospect finde ich diesen Anschluss suchenden Fragensteller eigentlich ziemlich superst, auch weil ich gerade den 5. Band von »Siebzig verweht« lese und auf die folgende Stelle stieß. Am 2. Februar 1991, der Golfkrieg ist im Gang, erhält Ernst Jünger einen Leserbrief von Umar Vadillo Goicoechea, in dem ihn der Schreiber seinen moslemischen Bruder heißt. Dann geht es u. a. darum:

»Das Lesen Ihres Buches ›Der Arbeiter‹ in Spanisch hat mich überwältigt. Sie haben den Mythos des ökonomischen Menschen zerbrochen, ein selbst verfasstes Gefängnis, das durch den fortlaufenden Lebensprozess verdeckt wird.«

Es sind tatsächlich einige kulturgeschichtliche Eckdaten, die man einbedenken muss, um sich ein Bild davon machen zu können, was es heißt, dass a) ein spanischer Konvertit b) dieses Buch c) in der spanischen Übersetzung d) im Jahr 1991 liest und sich dann e) auch dazu bemüßigt fühlt, dem Autor knapp 60 Jahre nach Erscheinen des Bandes noch eine Nachricht zukommen zu lassen.

Noch spannender fand ich aber einen Eintrag weiter vorn. Jünger schreibt ja sehr viel über seine Träume, und manchmal fühlt man sich beim Lesen wie Freud nach einer interessanten bis weirden Sitzung oder wie Hitchcock, als er zum ersten Mal Dalís Bauten für die Traumsequenz in »Spellbound« zu Gesicht bekommen hat.

Jedenfalls beschreibt Jünger in einem dieser Träume ein Techtelmechtel mit einer jungen Dame in einem »verwohnten Berliner Hause, einer meiner Absteigen«. Nun steigt er die Treppen bis zum Dachgeschoss in Begleitung eben dieser Dame hinauf, »einer jungen, korrekt gekleideten Lehrerin, Potsdamer Stil«. Die beiden Turteltauben schauen dann durch ein Fenster, »in dem Buchhalter auf Büromaschinen den Hohenfriedberger hämmerten«.

Wenn ich bedenke, dass man ja zum Beispiel auch von John Roxtons Massakerminiaturen träumen könnte, zöge ich es ebenfalls vor, auf dem Höhepunkt der REM-Phase aus einem Schreibmaschinengewitter heraus den Hohenfriedberger zu erkennen.

Lost: 6. Staffel, 16. Folge

Leipzig, 21. Mai 2010, 18:42 | von Paco

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »What They Died For«
Episode Number: 6.16 (#118)
First Aired: May 18, 2010 (Tuesday)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)

Ok, der letzte »Lost«-Dienstag war das, jetzt fehlt nur noch die finale Doppelfolge am Sonntag, und dann! – In dieser 16. Folge versammelt Desmond in der Nicht-Absturz-Welt die unabgestürzten Varianten der Lostianer. Auf der Insel herrscht wieder heiteres Klingenspringen. Und Jack berät seine berufliche Zukunft mit Jacob.

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Nachruf auf die »Datenautobahn«

Konstanz, 20. Mai 2010, 21:05 | von Marcuccio

Der Tod der Datenautobahn, das sehe ich erst jetzt, wo ich nochmal über den Rezensionsfriedhof einer Alt-FAZ gehe, wurde am 14. April auf der Rückseite des Jauer’schen Blogger-Dossiers annonciert. Viele Umblätterer waren an dem Tag eh verwirrt, weil die Rezensionsseite der FAZ (sonst Seite 2) erst Feuilletonseite 4 war, und so konnte man den Artikel mit der Überschrift »Wellenreiten auf den Lehrplan!« schon mal übersehen.

Oliver Jungen bespricht darin die »Metapher Internet«, also das gleichnamige Buch von Matthias Bickenbach und Harun Maye. Und er spricht sehr schön von den »Katachresen« unserer Digitalkultur, also Begriffen wie »Surfen«, »Navigation« oder »Netz«, die gar nicht mehr als Metaphern wahrgenommen werden:

»Erstaunlich ist, wie resolut die Auffassung des Internet der bereits in der Antike geprägten Verbindung von Wassermetaphorik und Informationsverarbeitung folgt. Schon die Kybernetik greift ja in ihrem Namen den Steuermann auf, und auch sonst hat sich das Begriffsfeld des ›Datenmeeres‹ und der ›Informationsflut‹ weitgehend durchgesetzt. Dagegen scheiterte der in den neunziger Jahren kurzzeitig populäre Begriff der ›Datenautobahn‹: Die darin enthaltene Zielorientierung scheint dem totalen Möglichkeitsraum Internet nicht angemessen, auch wenn sie über das Fließen des Verkehrs immer noch an das Bildfeld des Liquiden anschließbar ist.«

Genau mit solchen kleinen Nebenauskünften macht Feuilleton im Grunde immer den größten Spaß. Und es stimmt wirklich: Ein kurzer Klick zum Beispiel ins »Spiegel«-Archiv zeigt die Frequenz, mit der das Schlagwort »Datenautobahn(en)« in den einzelnen Jahrgängen vorkam:

Vorkommen der Datenautobahn(en) im SPIEGEL, 1991–2010

1995 der absolute Peak, um 2000 noch mal ein kleines Comeback, dann nach dem Platzen der Dotcom-Blase praktisch over and out. Erstgebrauch des Wortes war übrigens 1993 in einem »Spiegel«-Gespräch mit Bill Gates. Überschrift: »Wir bauen die Datenautobahn«.


Diagramm erstellt mit Create A Graph.
Datenerhebung über http://www.spiegel.de/suche/.

Regionalzeitung (Teil 28)

Leipzig, 18. Mai 2010, 07:30 | von Paco

 
  136.   an der Strippe

  137.   hat sich komplett neu erfunden

  138.   bewiesen, dass sie auch feiern können

  139.   äußerte sich zu diesem Phänomen

  140.   gab es tolle Preise zu gewinnen
 

»Der menschgewordene Vatertag«

Konstanz, 16. Mai 2010, 20:36 | von Marcuccio

FAS, Medienseite

In der FAS von heute: Schöne Replik auf Claudius Seidls Reportage-Polemik vom vergangenen Sonntag. Stephan Lebert meldet sich zu Wort, und man mag sich gut ausmalen, dass das zunächst ein journalistisch formulierter Brief war, den »der strenge Feuilletonchef dieser Zeitung« (Lebert über Seidl) dann nur zu gern zum offenen Brief, sprich Gastartikel gemacht hat. Wen wundert’s, packt Lebert Seidls Schmähartikel doch bei der noblen FAS-Ehre:

»Diese schlechte Laune passt so gar nicht zu dem hochgeschätzten F.A.S.-Feuilleton, wenn beispielsweise über Buch-, Theater- oder Filmpreise berichtet wird. Deshalb erlauben wir uns kurz die sicher durch und durch unsachliche Frage, ob da vielleicht ein bisschen das Til-Schweiger-Syndrom vorliegt: Man gewinnt selber nie was – und ist beleidigt?«

Eine Nebendiagnose von Leberts Verteidigung der Reportage ist »die wiedererstarkte Seite drei der ›Süddeutschen Zeitung‹«, deren Outstandingness wir ja letzthin auch im Best of Feuilleton der Jahre 2007 (auf #1) und 2009 (auf #8) gefeiert haben.

Ansonsten ist die versöhnliche Quintessenz des Artikels die, dass sich Feuilletonist (am Schreibtisch) und Reporter (draußen) am Ende doch näher sind als die Herren Seidl und Lebert zunächst vorgeben: »Forget the facts, push the story, lass weg, was die Geschichte stört. Nicht nur die ganz harten Reporter wussten das immer schon.«

In diesem Sinne unterwegs war wohl auch Stuckrad-Barre für die WamS, und zwar beim »vatertagigsten Vatertagsfest Brandenburgs«. Er erzählt eine Geschichte gescheiterter Integration, bestellt beim Bierausschank »Ein Wasser, bitte!« (»Ein was?«) und vergisst auch diese kleine, aber feine Einheit Varietätenlinguistik nicht: »›Vatertag‹, ostdeutsch ›Herrentag‹«. Schließlich besteigt er ein herrliches Örtchen namens „ToiToi-Anhöhe“ und fährt integrationsunwillig wieder heim, wo ihm in der Glotze Waldemar Hartmann begegnet: »der menschgewordene Vatertag«.

Passend zu dieser Alteritäts-Reportage müssen wir vielleicht wirklich noch aus Adornos »Herrenlaunen« zitieren:

»Einem bestimmten Gestus der Männlichkeit, sei’s der eigenen, sei’s der anderer, gebührt Mißtrauen. Er drückt (…) die stillschweigende Verschworenheit aller Männer miteinander aus. Früher nannte man das ängstlich bewundernd Herrenlaunen, heute ist es demokratisiert und wird von Filmhelden noch den letzten Bankangestellten vorgemacht.«

Schuld am Herrentag ist im Zweifel also wieder mal: die Kulturindustrie.

Erwartung enttäuscht

Hamburg, 15. Mai 2010, 10:35 | von Dique

Einmal Hamburg–Düsseldorf und zurück. Diese Zugstrecke reicht ziemlich genau für die Lektüre von Thomas Bernhards »Untergeher«. Das Buch fand ich nicht nur erfrischend, weil sich der Text ohne Absatz, wie immer bei Bernhard, quasi im Sturm von Buchdeckel zu Buchdeckel bewegt, sondern auch inhaltlich im Kontrast zu dem eben gelesenen »Verfolger« von Julio Cortázar.

Bernhard gelingt das Portrait Glenn Goulds aus Sicht eines, wenn auch fiktiven, engen Freundes und irgendwie auch Biografen deutlich besser, ohne dabei in irgendeine Tiefe zu gehen und zu versuchen, tatsächlich die Person Gould zu entblättern. Natürlich ist Gould nur eine Krücke, ein Pendant zum Untergang des »Untergehers« Wertheimer, doch bleibt das Buch auch ein Quasi-Portrait des grööößten Pianisten aller Zeiten.

Im Gegensatz dazu steht sich der Erzähler und Biograf im »Verfolger«, der Jazzkritiker Bruno, die meiste Zeit selbst im Weg. Die Liebe zum Jazz, die Musik als Lebensmittelpunkt, wird weder über die Figur des Biografen noch über die des drogensüchtigen Jazz-Saxophonisten Johnny Carter/Charlie Parker von Cortázar in bewegende Literatur umgesetzt. So kamen mir die 200 Seiten »Untergeher« deutlich kürzer vor als die 100 Seiten »Verfolger«.

Nun stehe ich im Antiquariat und nehme eine Taschenbuchausgabe des »Untergehers« aus dem Regal, schlage sie auf und werde mit einer handgeschriebenen Kritik des Vorbesitzers konfrontiert, der sich G.S. nennt und sich vor genau 10 Jahren durch das Buch gequält hat:

Suhrkamp-Taschenbuch 2956, Bernhard, Der Untergeher, Handschriftliche Kritik

Beurteilung:
das Buch hat mich
insgesamt enttäuscht,
zeitweise sogar gelang-
weilt, meine Erwartungen
an Autor u. Titel wurden
nicht erfüllt
Note: 3–4 (G.S.)

Ich habe das dann genauso abgeschrieben, in meine Suhrkamp-Taschenbuchausgabe vom »Verfolger«, und schmuggle sie morgen heimlich dort ins Regal.

Herrenlaunen

Konstanz, 13. Mai 2010, 22:08 | von Marcuccio

Früher (siehe auch Florian Illies: Generation Golf) war »Dany plus Sahne«. Heute ist »Dandy plus Käse«. Grund der neuen Milchverede­lungsstufe mit dem Extra-D ist Norma. Die Supermarktkette ediert neuerdings einen dreistückigen Formaggio-Sampler (Pecorino Sardo Maturo, Asiago Pressato, Provolone Valpadana) zum Zweitausendeins-Preis von 7,49 € und bewirbt das Ganze mit dem Oscar-Wilde-Ever­green: »Ich habe einen ganz einfachen Geschmack, ich bin immer mit dem Besten zufrieden.«

Normas neue Blurb-Offensive war schon Thema einer eigenen FAS-Expertise zu den neuen Deluxe-Linien der Discounter.

Discountmäßig nur im Doppelpack gab’s den Dandy zuletzt auch bei den Kritikern. Zunächst eine Sammelrezension in der Zeitschrift für Germanistik (2/2010), und zwar Isabelle Stauffer über

1. Melanie Grundmann (Hrsg.): Der Dandy. Wie er wurde, was er war. Eine Anthologie. Köln etc.: Böhlau 2007.
2. Fernand Hörner: Die Behauptung des Dandys. Eine Archäologie. Bielefeld: Transcript 2008.

Und dann noch ein Dandy-Duo in der FAZ (17. April 2010):

1. Alexandra Tacke und Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln etc.: Böhlau 2009.
2. Ruth Sprenger: Die hohe Kunst der Herrenkleidermacher. Köln etc.: Böhlau 2009.

Böhlau etabliert sich mit diesem Doppelschlag als ultimativer Dandy-Verlag. So generiert man Sammelrezensionen, die man sich endlich nicht mehr mit anderen Verlagen teilen muss.

Ich hätte da aber auch noch ein Dandy-Trio:

»Dandy – Snob – Flaneur.«

Das rosarot-violette, aber ansonsten super solide Fischer-Taschenbuch von 1985 ist via Amazon zum Dandy-Discountpreis von 60 € erhältlich, hat aber all das drin, was der FAZ-Rezensent Felix Johannes Enzian im Band »Depressive Dandys« vermisst, also keywords wie Dandytum, Ästhetizismus, Snobismus, Camp, Pop- und Postmodernität nicht einfach nur synonym verwendet.

By the way feiert »Dandy – Snob – Flaneur« mit Primärtexten von Robert Walser (»Der Verfeinerte«) bis Adorno (»Herrenlaunen«) gerade 25. Die ganze Reihe (hg. von Gerd Stein), in die das Buch gehört, ist ein Kleinod – allein schon wegen der titelgebenden »Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts«:

Band 1: Bohemien – Tramp – Sponti.
Band 2: Dandy – Snob – Flaneur.
Band 3: Femme fatale – Vamp – Blaustrumpf.
Band 4: Philister – Kleinbürger – Spießer.
Band 5: Lumpenproletarier – Bonze – Held der Arbeit.

Die möchte man sofort alle kennenlernen, kaufen, lesen. Also, wo bleibt die wiederaufgelegte Familiengroßpackung bei Norma oder Thalia?

Lost: 6. Staffel, 15. Folge

Leipzig, 13. Mai 2010, 14:00 | von Paco

Achtung! Spoiler!
Episode Title: »Across the Sea«
Episode Number: 6.15 (#117)
First Aired: May 11, 2010 (Tuesday)
Umblätterers Episodenführer (Staffeln 4, 5 und 6)


»Finally, after so many years, the truth about Lost is revealed
tonight. And apparently the truth is that it is stupid.«

twitter.com/WriteOnCrouton

In dieser viertletzten Folge wird der Mythos nachgereicht, und zwar auf langweilige, klischierte Art und Weise. Die beiden parallelen Gegenwartshandlungen pausieren.

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Regionalzeitung (Teil 27)

Leipzig, 12. Mai 2010, 09:04 | von Paco

 
  131.   staunte nicht schlecht

  132.   zeigt er sich erneut auf der Höhe seiner Kunst

  133.   spielten sich zurück in die Herzen der Fans

  134.   bildete den Auftakt zu einem außergewöhnlichen

  135.   in Reinkultur