Das Kinojahr 2014

Kinojahr 2014 Logo

 
(Vorwort und Kommentare zu dieser Übersicht hier.)

 
»12 Years a Slave« (Steve McQueen) »Amistad«, »Django Unchained«, »Manderlay«: McQueen überflügelt sie alle, mühelos. Er nimmt Spielbergs emotionaler Dramatisierung die sentimentalen Floskeln, subtrahiert von Tarantinos Brutalität das Augenzwinkern und die Coolness und befreit von Triers politische Reflexion von ihrer prätentiösen Stilisierung. Mitmenschen als Arbeitstiere zu halten ist eine erstaunliche Idee. Doch einmal etabliert, nistet sie sich ein und reproduziert sich, begünstigt durch den verhängnisvollen Hang des Menschen zur Diskriminierung Anderer, die Macht und Hartnäckigkeit kultureller Traditionen, und nicht zuletzt das legitimierende Wort der Bibel. Diese Idee stellt dieser Film bestechend plastisch als das verheerende, komplexe Konstrukt dar, das es ist, mit allen Konsequenzen, die es hat, wenn Menschen Macht über andere Menschen erlangen. Es entsteht ein kraftvolles, oft unbehagliches, aber fraglos essenzielles Werk über eine der großen Lektionen der Zivilisation. Best Bit. »Your children will soon be forgotten.«

»Philomena« (Stephen Frears) Natürlich kennen wir die Formel ›Ungleiches Gespann begibt sich auf eine Reise‹. Aber die Alternative ›Eingespieltes Team bleibt, wo es ist‹ wäre erzlangweilig, oder? Hier nun verfolgen wir einen geschassten Journalisten, der eher widerwillig mit dieser alten Frau unterwegs ist, die ihren verlorenen Sohn sucht, den sie vor Jahrzehnten als Insassin eines Konvents wegzugeben gezwungen wurde. Kaum zu glauben, dass Steve ›Alan Partridge‹ Coogan zu solchen Stoffen neigt, aber das Drehbuch ist (mit) von ihm. Es geht um Menschenhandel unter kirchlicher Regie, um derbe Schicksale und getrennte Lebenswege, um Verantwortung und die Bande zwischen Mutter und Sohn, um Homosexualität und Politik. Thematisch also ziemlich hochemotionale und moralische Brisanz, aber der Film geht souverän damit um, vermeidet klebrigen Herzschmerz und grobschlächtige Didaktik, injiziert leisen Humor an den richtigen Stellen. Hier findet alles zueinander. Es ist dies – jawohl – ein perfekter Film. Best Bit. »And after I had the sex, I thought anything that felt so lovely must be wrong.« – »Fucking catholics.«

»The Lego Movie« (Phil Lord, Christopher Miller) Eine Spielzeugverfilmung, und auch noch gut? Tatsache. Wahrscheinlich die größte Kinoüberraschung des Jahres. Eine knappe halbe Milliarde hat er eingespielt, in den Läden wurden die Legokästen knapp, manchem Kritiker wurde der Hype schon zu viel – so kam die »Welt« nicht umhin, dem Film seine Selbstironie als Konsumköder anzukreiden. (Yeah, right.) Doch der Film hat das Herz am richtigen Fleck; schon die überraschend sinnfällige Rahmengeschichte lässt niemanden kalt, der schon einmal wilde Vehikel aus Legosteinchen gebaut hat – ohne Bauanleitung natürlich. Genauso kreativ entfesselt wirbelt der Film von Szene zu Szene, lässt dabei keinen Gag ungemacht, keinen Seitenhieb unverteilt, keinen Film unzitiert, kein Klischee unverspottet. Alles in nostalgischer Stop-Motion-Optik und mit berauschender Liebe zum Detail umgesetzt; das inspirierte Sprecher-Casting (Morgan Freeman als Wizard!) tut sein Übriges. Best Bit. Invasion der Duplofiguren!

»Gone Girl« (David Fincher) Tja, soll man das Buch lesen oder den Film schauen? Nun, der Film ist von Fincher, das Buch nicht. Entscheidung also klar. Erleichtert wird sie dadurch, dass Gillian Flynn höchstselbst das Skript verfasste. Was als ganz normales Vermisstendrama beginnt, schlägt bald erstaunliche Haken, taucht in Abgründe häuslichen Horrors, stürzt den nicht eben makellosen Helden in zermürbende Zwickmühlen, seziert nebenbei traditionell amerikanische Werte wie den warmen Hort der Familie und weiß mit genüsslichem Zynismus etwas über die Macht und die Manipulation der öffentlichen Meinung zu sagen und die Rolle der ach so objektiven Medien. Zuvorderst aber ist der Film freilich ein Thriller, und zwar ein knallharter, düsterer, intelligenter Thriller. Finchers Regie ist straff, unverblümt, einnehmend, frei von Klischees und dramatisierenden Mätzchen. Affleck und Pike spielen groß auf, genauso wie Trent Reznor und Atticus Ross, deren Score (wie schon in den letzten beiden Finchers) geniale Akzente setzt – hier vor allem in jener Bettszene, die ganze Kinosäle einem kollektiven Herzkasper nahebrachte. Über das unhollywoodische Ende haben sich manche aufgeregt; dass es kein einfaches Entrinnen aus so einer Ehehölle gibt, war ihnen vielleicht zu realistisch. Best Bit. Besagte Bettszene.

»Exodus: Gods and Kings« (Ridley Scott) Kurz vor Jahresschluss wälzte sich noch ein Epos biblischen Ausmaßes in die Kinos, die Geschichte von Moses und Ramses nämlich, bebildert von Ridley Scott. Ein herkömmlicher Antikenschinken ist das indes nicht; hier gibt es keine großen Gesten, keine Verse und Fanfaren. Vokabular, Duktus und Habitus (selbst die Barttracht) der Protagonisten sind alles andere als zeitgenössisch; manchmal fehlt nicht viel und der Pharao könnte genauso gut Kaugummi kauen, während er lässig Todesurteile fällt. Das wirkt befremdlich, zunächst, aber Konventionen lassen Scott halt kalt. Kühn und unbeirrt filmt er sich durch zweieinhalb Stunden gewaltiger Geschichte, ohne Längen, ohne Kompromisse, kein Bild ist kleiner als es sein muss, Computer sei Dank. Das gloriose 3D scheint für diese hyperrealen Wimmelbilder erfunden worden zu sein. Aber der Film kitzelt auch die Ambivalenzen aus der zweieinhalbtausend Jahre alten Story. Moses kämpft gegen Ägypten genauso wie gegen sich selbst: Ist er Freiheitskämpfer oder Terrorist? Als Prophet hat er – wie alle Religionsgemeinschaften – seine liebe Not, die spärlichen Weisungen Gottes auszulegen, und wenn die zehn Plagen übers Land hereinbrechen, stellt sich die Frage, wie gut und gütig dieser Gott nun eigentlich ist – der übrigens als neunjähriger Rotzbengel dargestellt wird. Amerikanischen Kritikern war das viel zu viel künstlerische Freiheit – sie verrissen den Film nach Kräften. Sie hätten bestimmt gerne gesehen, wie Moses, wenn er zuletzt mit den Gebotstafeln vom Berg steigt und seine Leute das Goldene Kalb anbeten sieht, 3000 davon flugs abschlachten lässt. Denn so steht es geschrieben. Best Bit. Frösche!

»All Is Lost« (J. C. Chandor) Ein Mann. Ein Schiffbruch. Ein Kampf ums Überleben. Zurückgeworfen auf die bloße Existenz, kommt es an auf einen kühlen Kopf und präzise lebensverlängernde Maßnahmen, und die dokumentiert der Film, Tag für Tag. Redfords verlebtes Antlitz überzeugt dabei als wettergegerbte Seglervisage, das nahezu textfreie Skript wirkt als Ausweis seiner schauspielerischen Klasse und zudem als endgültiger Beleg, dass der Essenz des Kinos Bilder näher stehen als Worte. Man stelle sich vor, wie innere Monologe oder Flashbacks – sattsam bekannte Elemente des filmischen Vokabulars – diesen Film seiner Unmittelbarkeit, das Boot allein seiner zermürbenden Beengtheit beraubt hätten. Selbst an Musik findet sich kaum etwas mit Dramatik; dieselbe entsteht allein aus den Situationen. Dass der Held am Ende so etwas wie Reue übt, mag einen metaphorischen oder gar transzendenten Subtext eröffnen, aber der Film funktioniert auch als Allegorie auf das Leben schlechthin: Shit happens. Glück und Verstand helfen. Best Bit. »Fuck!«

»Grand Budapest Hotel« (Wes Anderson) Aus der Wes-Anderson-Werkstatt erreicht uns abermals ein kurioses Kleinod von Film, sein bis dato erfolgreichstes und vielleicht ausgefeiltestes Werk, offbeat und manieriert, voll feinem Witz und subtilem Slapstick. Anderson bleibt damit in seiner angestammten, idiosynkratischen Nische, in der Dinge wie Ästhetik, Situationskomik, Ausstattung, Dialog und Kameraführung einen Film weit mehr prägen als etwa Charakterzeichnung und -entwicklung oder die emotionale Tiefe einer Story. Letztere besteht in diesem Fall aus einem von Stefan Zweig inspirierten, in drei Zeitebenen gestaffelten, von zig Charakteren bevölkerten Konvolut. Wer dem indes nicht folgen mag, kann den Film auch als heiteres Darstellersuchspiel nutzen: Es spielen praktisch alle mit, die es gibt. Best Bit. »Did he just throw my cat out of the window?«

»Interstellar« (Christopher Nolan) Und? Wird dieser heiß ersehnte Film nun als Christopher Nolans »2001« in die Geschichte eingehen, wie vielfach erhofft und beschworen? Leider nein. Irgend etwas fehlt, vielleicht ist auch etwas zu viel. Der Film weiß sicher über weite Strecken zu überzeugen, und er hält aufregende neue Filmerfahrungen bereit. Wann hat man schon mal Parallelmontagen zwischen brennenden Maisfeldern auf der Erde und Astronauten gesehen, die sonstwo in galaktische Wurmlöcher abtauchen? Das intellektuelle Spiel mit Relativität und Zeitdilatationen ist ebenso faszinierend. Aber die ständige Betonung von Liebe und Familie als Motiv und Antrieb … Nolan scheint irgendwie kein Regisseur solcher Emotionen zu sein. Nolan ist kein Schmuseonkel, er ist ein Techniker und Visionär, ein Hirnmasseur und Zauberer. Und ein Schweißtreiber, hier vor allem in einer unglaublich packenden Docking-Sequenz. Matthew McConaughey spielt engagiert, aber er nuschelt in seinem Slang, und der experimentell austarierte Soundmix hilft dabei nicht. Übrig bleibt dennoch ein klasse gemachter Koloss von Film, an dem man lange knabbern kann. Best Bit. 23 Jahre!

»Ida« (Pawel Pawlikowski) Aus Polen kommt ein ergreifendes Drama über eine junge Novizin, die in den sechziger Jahren entdeckt, dass sie jüdisch ist und dass ihre Familie von Polen ermordet wurde. Dieser Umstand erregte einigen Unmut im Heimatland, obwohl der Film gar nicht von Nazi-Kollaborateuren spricht. Vielmehr werden die Beweggründe der Täterfamilie bewusst ambivalent als Ausweg aus einem furchtbaren Dilemma behandelt. Ähnlich komplex auch das Verhältnis zwischen Ida/Anna und ihrer Tante Wanda, einer rauen, resoluten Frau mit vielen Lastern, aber nicht ohne Prinzipien. Die Reise der zwei lässt einen an Motive der Road- und Buddy-Movies denken, aber die ballastfreien Dialoge des Films, die kühnen erzählerischen Ellipsen und vor allem seine poetisch-herben, in exquisitem Schwarzweiß gehaltenen Bilder erinnern eher an europäische Film-Noirs. Dass Ida nach ihrer aufwühlenden Begegnung mit Nazi- und Judentum, mit ihrer Familie und ihren vorsichtig ausgelassenen Altersgenossen doch wieder in den Totalitarismus des Konvents zurückkehrt, eröffnet weitere diskussionswürdige Fragen. Ein wichtiger Film. Best Bit. »Du bist also eine jüdische Nonne.«

»Boyhood« (Richard Linklater) Hier haben wir ein erstaunliches Experiment: die Kindheit und Adoleszenz eines Texanerjungen namens Mason, gefilmt an 45 Drehtagen, verteilt über zwölf Jahre. Den Protagonisten sehen wir altern und sich verändern, die Menschen und die Welt um ihn herum ebenso, und das völlig ohne Latexmasken, CGI oder Ausstattungszinnober. Richard Linklater verzichtet ebenso auf Schnitt-Fisimatenten – jeder andere Regisseur hätte mindestens eine bunte Montagesequenz eingebaut, oder Überblendungen, Jump Cuts oder Rückblenden verwendet, um mit der erzählten Zeit zu spielen, Bedeutungen zu stiften oder Beziehungen herzustellen. Aber nicht einmal Zwischentitel mit Jahreszahlen strukturieren den Film. Linklater hat den Mut, ihn einfach laufen zu lassen, ohne große Überraschungen oder dramatische Bögen. Man muss sich fast zwingen, den Film als Fiktion zu begreifen, nicht als Dokumentation eines gelebten Lebens. Denn was wir verfolgen, ist eigentlich ziemlich unbesonders. Masons Familie ist kaputt wie jede andere, er hat keine außergewöhnlichen Talente, Eigenschaften oder Beziehungen, er hat keine schlimmen Schicksalsschläge oder gravierenden Konflikte auszustehen, er ist nicht einmal sonderlich charismatisch oder attraktiv. Man würde sein Leben nicht in das Zentrum eines fiktiven Werks stellen. Eigentlich. Die Tatsache, dass es nun doch dort steht und in all seiner Gewöhnlichkeit und der unaufgeregten Darbietung doch so fasziniert, zeigt vielleicht, dass das Dasein kein Drama sein muss, um in seinem stetigen Wandel doch Moment für Moment interessant zu sein. Kaum ein Film dieses Jahr war in diesem Sinne lebensbejahender als »Boyhood«. Best Bit. Der Klempner bedankt sich.

»Noah« (Darren Aronofsky) Aronofsky goes biblical? Jessas. Aber seine Verfilmung einer der verrücktesten Bibelgeschichten geriet überzeugend genug, dass das Werk in verschiedenen islamischen Ländern aus Sorge um den Glauben der Landsleute postwendend verboten wurde. Auch in den Staaten war der Film nicht unumstritten: Viele fanden, wie so oft, dass das Buch besser wäre. Dabei bricht Aronofsky das wuchtige Epos – nach einem ersten Akt mit tollen Wundern, fetzigen Felsenengeln und natürlich ganz viel Tieren – herunter auf familiäre Konflikte im Bauche des (historisch korrekt dargestellten) klobigen Kahns. Vater Noah nämlich ist ein harter Hund, wenn es um die Umsetzung seiner heiligen Aufgabe geht. Russell Crowe stattet den schroffen Helden mit entsprechend ambivalentem Charisma aus: liebevoller Family Man, alttestamentarischer Eiferer. Freilich knickt er ein vor seiner Menschlichkeit; und am Ende übersieht er vor lauter Versöhnlichkeit auch noch, dass sein feierliches »Mehret Euch‹ für die Handvoll übriggebliebener Hanseln wohl nicht ohne Ehebruch oder Inzest abgehen können wird. Best Bit. Die ›Creation Sequence‹ – zig Milliarden Jahre, in sieben Tagen, in drei Minuten.

»The Theory of Everything« (James Marsh) »Grace of Monaco« und »Diana« haben letztes Jahr gezeigt, wie grandios Biopics über Ikonen scheitern können. Eine Ikone ist Stephen Hawking zweifellos, eine popkulturelle sogar: In der »Big Bang Theory« trat er auf, bei »Star Trek« und den »Simpsons«, bei Pink Floyd hat er ›gesungen‹, neulich war er auch bei Monty Python in der Show. Über seinen Werdegang und sein Privatleben weiß man indes wenig; dieser Film nach dem Buch seiner Exfrau korrigiert das mit Respekt, Verstand und dem nötigen Fingerspitzengefühl. Eddie Redmaynes Performance ist schockierend gut: Der Mann Hawking verschwindet nie hinter der Krankheit; ein wacher, brillanter, witziger Geist in einem defekten Körper. Insgesamt gerät der Film vielleicht etwas zu poliert und rosa-bebrillt, Hawking selbst befand ihn jedoch als »broadly true«. Best Bit. Der rote Kugelschreiber.

»The Wolf of Wall Street« (Martin Scorsese) Das Frappierende an diesem Film ist, dass er den völlig freidrehenden Finanzzirkus der Wall Street gar nicht anklagt; er scheint eher den Lebenswandel derer zu feiern, bei denen Gier und Gelegenheit jegliche Moral und Menschenliebe untergebuttert haben, die die Schlupflöcher und die Biegsamkeit des Systems ausgenutzt haben, um sich an dem Geld fremder Leute zu bereichern. Und er stellt die Gesellschaft bloß, die den Wahnsinn in ihrer Mitte erst blühen und gedeihen lässt. Die Wall-Street-Banker wären genauso Gangster wie jene aus Scorseses Mafiafilmen, so sagte der Meister selbst, nur eben mit einem anderem Unrechtsbewusstsein – nämlich keinem. Diese Exaltiertheit übersetzt der Film in einen regelrechten Rausch irrer Szenen von verquerem Humor und zynischem Biss, Scorseses in-your-face Regiestil erblüht zu voller Pracht, unterstützt von einem glänzend aufgelegten Leonardo DiCaprio, dem Jonah Hill und eine Horde gut ausgesuchter Nebendarsteller klasse in die Karten spielen. Ein Film auf der Überholspur, drei Stunden Kurzweil – das muss man erstmal schaffen. Best Bit. Jordan Belfort wird von Mark Hanna eingenordet.

»Pride« (Matthew Warchus) Dieser Film steht in der Tradition von »Brassed Off«, »Billy Elliot« und »The Full Monty« – diese Art von Film können die Briten einfach mal sehr gut, nämlich aufwendig aufgezogene, toll besetzte Sozialdramödien, bewegend wie lustig, treffsicher hinsichtlich britischer Lebenswirklichkeiten und geschichtlicher Hintergründe, zutiefst menschlich, aber nie kitschig. Und weit über sich selbst hinausweisend. In diesem Falle weiß die Story über die unverhoffte Unterstützung der LGBT-Community für die vom 1984er Bergarbeiterstreik betroffenen Arbeiterfamilien, welche mit den flamboyanten Großstädtern zunächst nicht viel anfangen können oder wollen, eine Menge zu sagen über irrationale Affekte, die in Konfrontationen unterschiedlicher Gruppen den Blick auf gesellschaftliche Werte und humanistische Ideale verschleiern und auch heutzutage so manche Debatte plagen. Best Bit. »Jesus, I’m pissed.«

»Guardians of the Galaxy« (James Gunn) Nanu? Kurz vor dem neuen Anwurf an Star-Wars-Filmen schickt sich eine ganz andere Truppe an, eine neue Space-Mythologie zu eröffnen? Na ja, nicht ganz, dafür ist das alles zu leichtfüßig, episodisch und comichaft. Ist ja auch ein Marvel-Produkt. Aber hier wird geklotzt, nicht gekleckert: minutiös entworfene Welten, amtliche Sternschlachten, darin launige Helden im Kampf gegen sinistre Schurken. Masken, Kostüme, Effekte, alles oberste Schublade. Der Film nahm die Kritik im Sturm, Mundpropaganda verhalf ihm zu Rekordkassen. Aber die Macher waren selbstsicher genug, um bereits im Abspann bondmäßig zu annoncieren: »The Guardians of the Galaxy will return.« Best Bit. »I am Groot.«

»Deux jours, une nuit« (Jean-Pierre & Luc Dardenne) Dieses Sozialdrama aus dem Hause Dardenne zieht seine komplexen Wirkungsmomente aus einem eigentlich einfachen moralischen Dilemma – die Verbindung eines eigenen Vorteils mit dem Nachteil eines Anderen. Nämlich: Sandra kann ihren Job nur behalten, wenn ihre Kollegen auf ihren 1000-Euro-Bonus verzichten. Ein perfides Szenario. Aber perfekt, um den schwammigen, schwierigen Übergang zwischen (im Grunde vernünftigem) Eigennutz und edelmütigem Altruismus zu beleuchten. Wenn Sandra – Marion Cotillard, verwundbar und wunderbar – ihre Kollegen abklappert und an deren selbstlose Ader appelliert, wenn Absagen sie niederschmettern und Zusagen sie Mut fassen lassen, wenn sie zwischendurch hadert und ihre Mühe hat, die eigene Würde zu wahren, wenn sich die Verzweiflung immer wieder Bahn bricht, dann ist das großes, menschliches Kino. Best Bit. Timur, der Fußballtrainer.

»Her« (Spike Jonze) Wie Jason Reitmans »Men, Women and Children« ist »Her« ein Film über das Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Technologie, und es ist der warmherzigere, feinfühligere Film, denn er stürzt sich nicht auf die Schattenseiten. Obwohl. Dass eine Computerstimme genügt, beim Menschen emotionale Impulse und Wünsche zu wecken – von anfänglicher Vernarrtheit, dem Bedürfnis nach Intimität bis zu regelrechtem Besitzanspruch – erscheint zunächst auf amüsante Weise plausibel, dann aber auch alarmierend. Wird das, was wir Liebe nennen, hier entmenschlicht, entkörpert, entseelt? Sind wir nicht alle im Grunde bereits einsam, mitten in unseren Facebook-Freundeskreisen und smartphone-basierten Beziehungen? Dies dahingestellt, feiert der Film genauso die Tatsache, dass die innige Verbindung mit einem anderen Bewusstsein ein grundlegendes Bedürfnis unserer Psyche ist, und dass wir aus dieser Verbindung viel positive Energie ziehen – ob mit technischer Hilfe oder nicht, und ob dieses Bewusstsein nun simuliert ist oder nicht. Es hilft aber offenbar, wenn es die Stimme von Scarlett Johansson hat. Best Bit. Die Hosen!

»The Hobbit: The Battle of the Five Armies« (Peter Jackson) Ist es also vollbracht. Sechs Filme aus Mittelerde, na Mensch. Zur letzten Runde erwischte man mit etwas Glück nicht eine dieser HFR-Vorstellungen; die hochfrequenten Frames verleihen manchen Szenen den völlig unkinohaften Look einer Soap Opera. Ansonsten ist dies ein würdiger Abschluss, obwohl die Rezensenten langsam mittelerdemüde wurden. Es gab wieder Bildbombast bis dorthinaus, aber auch kleine, feine Momente. Und tolle Verkleidungen, zum Beispiel Billy Connolly als Kampfzwerg auf einem Gefechtsschwein. Gevatter Bilbo tritt hier als längst vertrautes Inventar in die zweite Reihe; die dramatische Bühne gehört König Thorin und seinem Wandel – was theatralische, gravitätisch geraunte Monologe bedeutet, aber das ist man ja gewöhnt. Die titelgebende Schlacht ist dann ein großes Hauen und Stechen, allerdings dramaturgisch clever aufgebrochen durch zahlreiche Ortswechsel, scharfe Wendungen und epische Zweikämpfe – Legolas’ Showeinlage im Fight gegen Bolg provozierte regelmäßig spitze Schreie im Publikum. Legolas? Der kam doch gar nicht im Buch vor! Ja ja, die nörgelnden Textfanatiker sollen sich mal abregen. Hätte Tolkien geahnt, dass er nach dem »Hobbit« den »Lord of the Rings« schreiben würde – natürlich hätte er Legolas und Saruman schon mal auftreten lassen. Für die erzählerische Einheit sorgt nun Peter Jackson, bittesehr. Und wenn am Ende der alte Bilbo an seinem Ring nestelt und dazu das süßlich-ominöse Streicherthema ertönt, möchte man am liebsten gleich mit der alten Trilogie weitermachen. Best Bit. Thorins Eisfight gegen Azog.

»Calvary« (John Michael McDonagh) Nach »The Guard« kochten McDonagh und Brendan Gleeson diesen leider kaum gesehenen Leckerbissen aus, in dem Gleeson einen irischen Priester verkörpert, der gleich zu Beginn im Beichtstuhl sein Todesurteil erhält – als Vergeltung für den Kindesmissbrauch der Kirche. Am Sonntag soll es soweit sein. Wiewohl viele Szenen von bitterer Komik durchsetzt sind, wiegt diese Thematik schwer; zu ihr gesellen sich geradezu philosophische Fragen darüber, was ein gutes, redliches Leben konstituiert – und wer wem darüber Ratschläge erteilen kann. Das geht ohne wohlfeile Religionskritik ab; im Zentrum steht schließlich ein Mann der Kirche, unschuldig dazu – doch auch er hadert und zweifelt, als hätte das herbe irische Wetter den Koloss seines Glaubens erodiert, die Bigotterie bloßgelegt. Und er kann wohl erkennen, wie unrettbar zerrüttet das Vertrauen seiner Schäfchen in die Institution ist. »Calvary« ist vielleicht deswegen so erschütternd, weil sich der Zuschauer zu keiner Sekunde in wohlvertrauten Filmphrasen ausruhen kann. Keine Finten und Formeln, keine Montagen und Schablonen. Der Film reflektiert sich auch nicht; es gibt keine ironische Brechung, die die Sache erleichtern würde. Wenn Father James im Dorf umhergeht und die verbogenen, verbitterten Seelen befragt, verwandelt sich jeder Smalltalk in ein bissiges Gefecht und wir sind selbst unmittelbar konfrontiert mit rauen, realen Lebenswelten, an denen klerikale Worthülsen wie Hoffnung, Sünde und Vergebung nur noch abperlen. Best Bit. Sonntag.

»Dallas Buyers Club« (Jean-Marc Vallée) Da kam einer dieser Filme, wie Amerikaner sie oft gut hinbekommen: milieugetreue Sozialdramen voller Kulturkolorit, in inniger Verbindung zu ihrer eigenen Geschichte, in diesem Fall zu den Ereignissen aus jener Zeit, als Homosexuelle und sonstige Außenseiter noch nicht in der Gesellschaft angekommen waren und plötzlich die Krankheit AIDS aufkreuzte. Der Film funktioniert – mehr als alles andere – als Geschichtslektion. Was nicht abschrecken soll; sie ist ungemein erhellend, was die zeitgenössische Moral und ausgegrenzte Subkulturen betrifft, hier in interessanter Verquickung mit den Prozessen des pharmazeutischen (Schwarz-)Marktes. Es ist ein Film über das Überleben in Grenzgefilden der Gesellschaft, immer scharf am Abgrund zur absoluten Tragödie. Matthew McConaughey goes all method als ausmergelnder AIDS-Patient, Gewichtsverlust und alles. Der Mann ist einfach gut. Oscar dafür, und auch Jared Leto als Compagnon-Transe räumte einen ab. Selbst das Frisuren-und Maskenteam – ganze 250 Dollar Budget – zack, Oscar. Großes Kino kommt auch mit kleinem Geld aus. Nimm dir ein Beispiel, Deutschland. Best Bit. »We estimate you have thirty days left.«

»Snowpiercer« (Joon-ho Bong) High-concept nennt man in Hollywood diese Art von Film: Als Prämisse steht immer ein ausgefallenes ›Was-wäre-wenn‹-Szenario und darauf werden dann die Protagonisten losgelassen. Man kann diese Filme jemandem oft leicht beschreiben: »Am Anfang sind plötzlich alle Leute blind« oder, in diesem Fall: »Ein Zug mit dem Rest der Menschheit rast über den unbewohnbar gewordenen Planeten«. Was die Sache interessant macht, ist, dass an Bord ein Klassensystem etabliert ist, und die armen Suppen am Ende des Zuges proben den Aufstand gegen die High Society weiter vorn. Mit solch einer Mini-Gesellschaft und all ihren hierarchischen Auswüchsen lässt sich freilich trefflich spielen, und Bong macht das mal surreal-satirisch á la »Brazil«, mal quasi-philosophisch á la »Matrix«, und mal mit »Oldboy«-artigem Gemetzel (Park Chan-wook produzierte). So wälzt sich die Revolte Schritt für Schritt durch die sausende Blechbüchse, in Richtung Zugspitze, wo der sagenumwobene Demiurg Wilford die Fäden zieht. Sicher der originellste, eigenständigste Blockbuster des Jahres. Best Bit. Tilda Swintons Rede: »Be a shoe!«

»The Secret Life of Walter Mitty« (Ben Stiller) Wer ohne Vorwissen in diesem Film landete, wurde ganz angenehm überrascht. Er erreicht vielleicht nicht das Format eines »Forrest Gump«, aber als opulent aufgezogene Geschichte über einen Everyman, der unser aller Ambitionen in einem abenteuerlichen Trip zu verwirklichen die Chance ergreift und am Ende in einem rührenden Twist den Sinn seiner Existenz findet, überzeugt Stillers Adaption des Klassikers von James Thurber (bzw. Remake des Danny-Kaye-Films von 1947) zu großen Teilen, was umso mehr überrascht, als das Projekt viele Jahre lang durch viele Hände gereicht wurde (Spielberg, Carrey, Howard, Wilson, Verbinsky, Myers etc.). Durchweg amüsant und kurzweilig, ist der Film echtes Erlebniskino – haarsträubende Action in außergewöhnlichen Gefilden. Island (hier auch als Double für Grönland) zeigt sich abermals als gern genommene, exotische Kulisse; zuletzt gaben sich hier Ridley Scott (»Prometheus«), Christopher Nolan (»Interstellar«) und Darren Aronofsky (»Noah«) regelrecht die Klinke in die Hand. Best Bit. Das Cover.

»Enemy« (Denis Villeneuve) Das Doppelgängerthema kam 2014 gleich doppelt, beide Male große Literatur im Rücken: Richard Ayoade verfilmte Dostojewski (»The Double«, bei uns bislang nur auf Festivals zu sehen), und Denis Villeneuve verfilmte Saramago, mit Jake Gyllenhaal in zwei wunderbar nuancierten Vorstellungen. Aber ein leichter Film ist das nicht. Das Tempo schleppend, die Stimmung düster, die Farben ausgewaschen, die Musik deprimierend, die Dialoge sparsam – und gewisse surreale Elemente erleichtern nicht gerade das Verständnis. Der Film hat seinen eigenen Kopf, er biedert sich nicht an. Doch wenn man ihn lässt, schleicht er sich in die Gehirngänge ein und verlässt sie tagelang nicht wieder. Denn was, so fragt man sich, was zur Hölle bedeutet das Ende? Best Bit. Das Ende.

»Fruitvale Station« (Ryan Coogler) Ein weißer Uniformierter erschießt einen unbewaffneten Schwarzen – im Hinblick auf die Ereignisse in Ferguson und anderswo konnte ein Film aktueller kaum sein. Er handelt von Oscar Grant III, der am Neujahrstag 2009 auf einer Bahnstation in Oakland sein Leben verlor, und er nimmt das Ende vorweg, in Form von Handyaufnahmen eines Augenzeugen. Die folgenden Szenen beschreiben die letzten 24 Stunden des jungen Mannes, zeichnen ein Bild seines Charakters, seiner Probleme, seines guten Willens. Das geschieht ganz nüchtern, doch das Vorwissen des Zuschauers lädt die Ereignisse mit Bedeutung auf – Alltäglichkeiten werden zum Omen, die Vergeblichkeit von Oscars guten Vorsätzen (und später der Gebete seiner Familie) wecken das Gefühl ohnmächtigen Bedauerns. So ist der Film auch eher eine Klage als eine Anklage. Er spielt nicht einfach die Rassismus-Karte aus, er dokumentiert den Zustand einer Gesellschaft, in dem Unschuldige zu Opfern werden können, und Schuldige – wie in diesem Fall – nach einem knappen Jahr wieder auf freiem Fuß sind. Best Bit. Im Supermarkt.

»Edge of Tomorrow« (Doug Liman) Alles festhalten! Hier kommt eine Achterbahn von Film, die einem einiges abverlangt, vor allem Konzentration: Zwinkert man im falschen Moment, verpasst man womöglich eine Blitz-Attacke dieser fiesen Alien-Biester. Aber wenn’s den Helden verreißt – nicht so schlimm: dann macht es zack, alles auf Anfang, neue Runde, neues Glück. Die Masche mit der Zeitschleife ist ja altbekannt, aber offenbar lässt sich da immer noch erzählerisches Kapital rausschlagen. Der Film schwitzt und kracht, ist ein »Groundhog Day« auf Speed, teilweise sogar genauso lustig. Best Bit. Liegestütze: eins, zwei, wegrollen- und platsch.

*

Blindgänger

»The Giver« (Phillip Noyce) Jeff Bridges? Meryl Streep? Kann ja nur gut sein – denkt man. Doch die Dystopie, die diese Teenager-Bestseller-Adaption entwirft, gerät nicht halb so überzeugend wie die der »Hunger Games«-Serie. Alles kommt mit dem Holzhammer daher, unterfordert selbst das simpelste Gemüt, wirkt linkisch in dem Versuch, eine total wichtige Botschaft zu verbreiten. Glücklicherweise erzählt der Trailer die komplette Geschichte; es reicht, wenn man den sieht.

»Before I Go to Sleep« (Rowan Joffe) Das Beste, was man über diesen Film sagen kann, ist, dass er schrecklich langweilig ist. Er enthält die üblichen Versatzstücke, die Amnesie-Thriller so mit sich bringen, unterlässt es aber, sie spannend oder halbwegs originell zu arrangieren. Wenn er zu seinem seltsam hingeschusterten Ende kommt, wünscht man sich eigentlich nur noch eine kräftige Amnesie – um dann vielleicht das Buch zu lesen, welches besser sein soll.

»Transcendence« (Wally Pfister) Der Hauskameramann von Christopher Nolan wechselt ins Regiefach, na Mensch. Im Interview hat er gemeint, er musste diesen Film machen, selbst auf die Gefahr hin, dass die Leute sagen, er wär Mist. Nun, Wally, niemand musste diesen Film machen. Und ja, er ist Mist. So weitreichend die Themen, die er anschneidet, er kriegt sie nicht zu fassen, stochert in einer flachen Suppe halbgarer Ideen, die nie zueinander finden. Die Action ist lachhaft, die Bilder sind billig. Schade drum, wirklich.

»The Monuments Men« (George Clooney) Nicht wirklich ganz schlecht, fiel Clooneys fünfter Film doch weit hinter den Erwartungen zurück. Warum? Es gelingt ihm nicht, aus der eigentlich tollen Story und der hochkarätigen Besetzung Kapital zu schlagen: Weder entwickelt das Drehbuch eine zwingende Dramatik oder einen Rhythmus, noch bekommen die Akteure etwas Interessantes zu spielen. Es wird eine holperige Parade mit formelhaftem Retro-Charme, entfernt unterhaltsam, aber insgesamt eine Enttäuschung.

»Diana« (Oliver Hirschbiegel) Gute Güte, Herr Hirschbiegel, was ist denn das? Ein Film von erschreckender Harmlosigkeit, seifenopert »Diana« willenlos herum, stellt Naomi Watts in schlimmen Perücken in teure Kulissen, ergeht sich in peinlichem Voyeurismus und vermag einfach nichts – weder die Liebesgeschichte, noch die Facetten von Dianas Persönlichkeit, noch ihre Beziehung zur Öffentlichkeit – überzeugend darzustellen. Aber na ja, Hirschbiegel scheint sich seiner Stärken besonnen und mit »Elser«, nach dem, was man Berlinale-technisch so hört, wieder was Besseres gemacht zu haben.

*

[ veröffentlicht am 20. 2. 2015 ]

(Filmstreifen im Logo © Fabian Kerbusch/DIGITAL-CONNECTOR)