Das Kinojahr 2010

Kinojahr 2010 Logo

 
(Vorwort und Kommentare zu dieser Übersicht hier.)

 
5 Sterne »Inception« (Christopher Nolan) Kalt erwischt hat dieses Husarenstück von Film manch arglosen Kinogänger. Mitdenken? Wie jetzt! »Inception« macht keine Gefangenen. Alles wird nur einmal gesagt, in der zweiten Stunde wird abgefragt. Wer aufgepasst hat, kann sich einloggen in Nolans kühne, weichzeichnerfreie, vierstöckige Traumwelt und mit ihm von Ebene zu Ebene hechten. Rauschhaft kann man die Erfahrung nur nennen; Gleichzeitigkeit wird nicht gedacht, sie wird erlebt – deshalb ist »Inception« in keiner anderen Form als dem Kino vorstellbar. Ein Film-Film, ein Original. Best Bit: Die letzte Einstel­lung. Nicht eine, nicht zwei, sondern drei unerwartete Wendungen. Sehr selten.
Umblätterers ausführliche Kritik …

5 Sterne »A Serious Man« (Ethan Coen, Joel Coen) Es gibt Leute, die halten die Coens für eingebildet. Ja, wirklich. Und sie können diesen Film nicht sehen. Diesen doch warmherzigsten, tiefschürfend­sten und persönlichsten aller Coen-Filme. Tragisch ist das. Tragisch wie das Schicksal von Prof. Larry Gopnik, unserem Protagonisten, der gebeutelt wird von einem Potpourri garstiger Unglücksfälle, beruflich, privat, gesundheitlich. Hat all das Unbill eine tiefere Ursache? Larrys Sinnsuche bei denen, die vorgeben, Antworten auf alle Lebensfragen geben zu können, gerät zum Fiasko, und das ist letztlich aufschluss­reicher als es den Anschein hat. Vom ominösen Prolog bis zum rätselhaften Ende sitzt jeder Wortwechsel, jeder Charakter ist von ausgesuchter Sonderbarkeit, jede Szene kompromisslos köstlich. Kann nicht jeder Film ein Coen-Film sein? Best Bit: »Sy Ableman?!«
»A Serious Man« in der Coen-Retrospektive.

5 Sterne »The Social Network« (David Fincher) Was vermeintlich allenfalls Stoff für eine dieser schönen »Spiegel«-Reportagen hergege­ben hätte, wird unter den Händen von David Fincher zu einem der faszinierendsten Filme des Jahres. Mit präzisem Blick erfasst er die Milieus der Harvard-Clubs, der Informatik-Nerds, der Trendsetter und Entrepreneure und erzählt von der Macht juveniler Schaffenskraft im Zeitalter des Internets: Aus einer neckischen Idee wird ein Milliarden­geschäft. Aaron Sorkins brillantes Script eröffnet über die Rahmen­handlung gleich zweier Anhörungen unterschiedliche Perspektiven auf diese Entwicklung, die ohne Verluste freilich nicht abgeht; redliche Ratgeber sind Mangelware, kranker Ehrgeiz zerstört Loyalitäten. Dass Entfremdung und Einsamkeit der Preis des Erfolgs sein können, ist ja ein Klischee, aber selten hat es so überzeugend Gestalt angenommen wie im leeren Blick der sozial recht minderbemittelten Zuckerberg-Figur. Best Bit: »As for the charges, I believe I deserve some recognition from this board.« – »Er, I’m sorry?« – »Yes.« – »I don’t understand.« – »Which part?«

5 Sterne »Up in the Air« (Jason Reitman) ›Topical‹ nennen die Amerikaner so einen Film, also in etwa ›aktuelle Themen betreffend‹, und tatsächlich hat »Up in the Air« seinen Finger am rastlosen Puls der Zeit: Rezession, Personalabbau, Outsourcing. Die Menschen dieser Zeit beschreibt der Film mit sicherem Gespür – wie Ryan Bingham, den Entlasser im Außendienst, eine Seele auf Durchreise, ohne Budget für emotionale Investitionen. Wie Natalie Keener, die naive Ehrgeizlerin, die seinen Job umzumodeln sich anschickt. Und wie Alex Goran, die geschäftsreisende Gleichgesinnte, die so ungebunden nicht ist wie sie scheint. Es ist verblüffend, wie viele Facetten Reitman dieser Konstellation abzugewinnen vermag, und dabei verkauft er seine Satire ohne Parodie, sein Drama ohne Pathos, seine Liebe ohne Kitsch. Best Bit: Ryan erhält im Flieger seine lang ersehnte ›Ten Million Mile Card‹. Chief Pilot Maynard: »So, where you from?« Ryan, regungslos: »I’m from here.«

5 Sterne »A Single Man« (Tom Ford) Na klar ist Tom Ford stil­sicher. Aber dass der Star-Designer nicht nur den schönsten, sondern auch einen der besten Filme des Jahres drehen würde, damit hatte niemand gerechnet. Gut aussehen ist die eine Sache – und alles und jeder in diesem Film sieht gut aus – doch die aparte Ästhetik ist nicht bloßes Schauwerk, sondern nicht weniger als die in Bilder gegossene Pein einer wunden Seele. Jede Einstellung von »A Single Man« verheiratet Stil und Emotion, ist auf frappierende Weise exquisit und expressiv zugleich. Colin Firth spielt – absolut bravourös – den Mann von Traurigkeit, der, getroffen von einem immensen Verlust, hinter einer ›Savile Row‹-Fassade um Fassung ringt – erfolglos. Sein Rendezvous mit dem Tod ist für den Abend anberaumt. Doch der Tag ist lang … Best Bit: Die Brille.

5 Sterne »El secreto de sus ojos« (Juan José Campanella) Wo war dieser Film hergekommen, der unserem »Weißen Band« den Oscar vor der Nase weggeschnappt hat? Ein wenig widerwillig haben wir ihn uns angeschaut, und siehe da: ganz großes Kino. Ein Allerwelts-Ermittlungskrimi, denkt man zwar erst, aber dann zieht die Geschichte Kreise, entwickelt nachgerade epische Größe. Ein ungelöstes Verbrechen überlagert sich mit einer unerfüllten Liebe, und die Thriller- und Romanzenklischees, die das normalerweise auf den Plan ruft – sie bleiben aus. Offenbar mühelos balanciert Campanella Gegenwart und Retrospektive, injiziert an den richtigen Stellen eine Prise eigenwilligen Humor und verankert das Geschehen auch noch im historischen Kontext argentinischen Politikdünkels. So straff die Dramaturgie, so minimalistisch das Schauspiel – ein Film aus Fleisch und Blut. Seine Themen – Gerechtigkeit, Verlust, Genugtuung, verpasste Chancen – entfalten eine tiefe Resonanz, und am Ende mag man kaum hoffen, dass der Schluss diesem Gehalt wird gerecht werden können. Aber er tut es. Best Bit: Die Szene im Fußballstadion.

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4 Sterne »Fantastic Mr. Fox« (Wes Anderson) Es stimmt, die Geschichte entstammt einem Kinderbuch von Roald Dahl. Trotzdem ist »Fantastic Mr. Fox« ein Wes-Anderson-Film geworden, ein wasch­echter, ja vermutlich gar ein essenzieller. Andersons schräger Humor funktioniert als Trickfilm einfach mal sehr gut (»The Life Aquatic« wäre so womöglich ein guter Film geworden); die Half-Speed-Stop-Motion allein macht das Skurril-Soll voll. Dazu noch Clooney & Co. an den Mikros, die textilen Landschaften, die launigen Dialoge, die drolligen Details. Best Bit: Dieses herrliche Opossum mit den Spiralaugen.

4 Sterne »Bad Lieutenant: Port of Call – New Orleans« (Werner Herzog) Vieles an diesem Projekt hatte Anlass zum Argwohn gege­ben: Herzog und ein Cop-Thriller? Herzog und ein (Quasi-) Remake? Herzog und Cage? Das Merkwürdigste aber: die Rechnung ging auf. Ein fiebriger, flirrender Trip von Film, mit einem typischen gehetzten Herzog-Helden in seinem Zentrum. Herzog soll Nicolas Cage gern mit einem deutschtümelnden »Let the pig out!« angespornt haben, augenscheinlich mit Erfolg. Der Mann spielt wie der Teufel; Kritiker beschworen postwendend Erinnerungen an den Kinski-Irrsinn alter Tage herauf. Best Bit: »Shoot him again.« – »What for?« – »His soul is still dancing.«

4 Sterne »The Kids Are All Right« (Lisa Cholodenko) Ein lesbisches Paar, ihre zwei Kids, deren biologischer Vater – diese Konstellation birgt ein paar Fettnäppchen, gerade im Hinblick auf die rigide Moral gewisser amerikanischer Kreise. Dieser Film allerdings trifft den Ton, und das ohne großes Trara; er bewegt sich so leichtfüßig und ehrlich durch die familiären Neurosen unserer Zeit, dass man gar nicht umhin kann, von seinem lebensbejahenden, offenherzigen Impetus einge­nommen zu sein. Moore, Bening und Ruffalo bewohnen ihre Charaktere regelrecht, das Drehbuch schanzt ihnen wunderbare Szenen zu, aus denen sie etliche wahre Momente herausspielen. Best Bit: »They hire straight women to play gay.«

4 Sterne »Let Me In« (Matt Reeves) Kennt wer noch die legendären Hammer Studios? Frankenstein! Dracula! Christopher Lee! Nun, es gibt sie wieder, und mit »Let Me In« machen sie gleich ihren vielleicht besten Film. Das ist kompromissloser Grusel der altmeisterlichen Art, wie beim »Exorzisten« damals, ohne Gimmicks, ohne Ironie, eine klamme, unheilschwangere, aber geerdete Spannung mit wohldosier­ten Schocks. Neben den Twilight-Filmen wirkt diese Variation des Vampir-Mythos ausnehmend intelligent, und sie ist es auch. Ein Um­stand freilich, den sie der schwedischen Vorlage verdankt: Der Film ist ein Remake. Aber Matt »Cloverfield« Reeves bringt eigene, inspirierte Impulse in seine Version. Und ein guter Film ist ein guter Film, Remake hin oder her. Oder möchte jemand schlecht von Cronenbergs »The Fly« oder Herzogs »Nosferatu« reden? Best Bit: Wie im Original: die im wahrsten Sinne atemberaubende Unterwasserszene.

4 Sterne »Io sono l’amore« (Luca Guadagnino) Im Winter von Mailand beginnt die Geschichte, reserviert und exquisit. Im Sommer von Sanremo endet sie, impulsiv und sinnlich. Dazwischen ein emotionales Crescendo, die Befreiung einer Seele aus dem Gefängnis einer Familie. Es ist Tilda Swintons ätherische Präsenz, die diesen Film zur Delikatesse macht, auch wenn Musik und Melodrama hier und da etwas vorschmecken. Best Bit: Antonio serviert die russische Suppe; Edoardo zählt eins und eins zusammen.

4 Sterne »The Visitor« (Thomas McCarthy) In Deutschland unglaublich treffend »Ein Sommer in New York« betitelt, handelt dieser ruhig erzählte Film von einem des Alltags überdrüssigen College-Professor und einem illegalen Immigranten, den er eines Tages in seiner Wohnung antrifft. Eine unwahrscheinliche Freundschaft bahnt sich ihren Weg, allerdings ohne die Rechnung mit dem Staat gemacht zu haben. Als moralisches Pamphlet tritt »The Visitor« allerdings nicht auf, und das ist sein größter Trumpf. Richard Jenkins, sonst auf charismatische Nebencharaktere gebucht, glänzt mit 60 Jahren in seiner ersten Hauptrolle. Best Bit: Prof. Vale trommelt in der U-Bahn.

4 Sterne »Shutter Island« (Martin Scorsese) Dass dieser Film seine Wirkung nur beim ersten Mal richtig entfaltet, ist sein einziger Nachteil, aber das haben Mystery-Geschichten wohl so an sich. Ansonsten hat Scorsese viel Spaß in den Gothic-Gefilden von Shutter Island. Die Regie ist von unausgesetzter Intensität, der Schauer-Score fährt einem in die Eingeweide, die Leinwand ist gesättigt von sinistrem Pathos. Und Leonardo DiCaprio – frappierenderweise wie in »Inception« im Traum von seiner toten Frau heimgesucht und mit der Realität nicht ganz im Reinen – liefert eine phänomenale, fiebrige Vorstellung. Best Bit: Die viel diskutierten letzten Worte: »Which would be worse, to live as a monster or to die as a good man?«

4 Sterne »The Messenger« (Oren Moverman) Patriotisch, peinlich, pathetisch – so hätte dieses Gefallenendrama werden können. Wurde es aber nicht, der Erstling von Moverman bleibt nüchtern, wirft einen verständigen Blick auf den undankbaren Job der Todesbotschafter und ihre Begegnung mit Hinterbliebenen. Die potenzielle Klischee-Untiefe der Liebesgeschichte wird gerade noch umschifft, Samantha Mortons feiner Darstellung sei Dank. Best Bit: Das Briefing im Diner: »Never say stuff like lost or expired or passed away … we need to be clear, we need to say killed or died.«

4 Sterne »Exit Through The Gift Shop« (Banksy) Ok, hier haben wir eine Doku über Street Art, die dieser Banksy, dessen wirklicher Name Robin Gunningham sein soll, von einem Thierry Guetta übernommen hat, der den Film eigentlich drehen, aber dann als Mr. Brainwash irgendwie lieber selbst Kunst machen wollte. Ob das alles tatsächlich so passiert ist und ob Mr. Brainwash authentisch ist – keiner weiß es. Ist aber auch egal. Der Film zeigt den Ausverkauf des Untergrunds: Wie manch andere radikale, innovative, subversive Kunst wird Street Art vom Kunstzirkus vereinnahmt, wird hip, wird teuer. Inspiration, Integrität? Ach was, Erfolg braucht kein Talent, der Kunde kauft alles. Rundheraus bloßgestellt wird die Kunst-Schickeria von Banksy indes nicht; wer will auf einem Markt von Ready-Mades, Rehashes und Rip-Offs schon die wahre Kunst identifizieren können. Best Bit: Banksys Aktion in Disneyland.

4 Sterne »Fish Tank« (Andrea Arnold) Neben »Precious« und »An Education« das andere beeindruckende Frauenschicksal im letzten Kinojahr. Eine Coming-of-Age-Geschichte in einer Essex-Plattenbau­siedlung, ein widerspenstiges, 15-jähriges Mädchen im nicht eben warmen Schoß einer lädierten Familie. Alle um sie herum verantwor­tungslos, egoistisch, inkompatibel. Aber die Mutter hat einen neuen Freund … vielleicht wird alles besser. Britischer Sozialrealismus at its best. Best Bit: Connor stellt Mia im Feld, ohrfeigt sie, dreht sich um und geht.

4 Sterne »Un prophète« (Jacques Audiard) Harte zweieinhalb Stunden sind das, die uns Audiard da zumutet, ein raues, dreckiges, unsentimentales Knastdrama ohne Ausbruchkönige oder Vogelzüchter. Ums nackte Überleben geht es, um Hierarchien und koloniale Rollen­muster, und später entwickelt sich der Film – während man eigentlich eine Art Läuterung des Protagonisten erwartet – zu einer GoodFellas-artigen Gangstersaga. Best Bit: Malik in der Flughafen-Security.

4 Sterne »The American« (Anton Corbijn) Drei Filme nur will er drehen, der Herr Corbijn, dies ist der zweite, und er spaltet die Kritiker. Die einen halten sein getragenes Tempo, seine kontemplative Ästhetik für prätentiöses Retro-Euro-Gekünstel, die anderen für die folgerichtige Form einer subtilen, existenziellen Materie. Mag sein, dass die Krittler sich von dem völlig abwegigen Trailer haben ins Bockshorn jagen lassen, aber die Klasse des Films ist unübersehbar. Allein Clooneys nackte, minimalistische, aber seelenvolle Darstellung des ermattenden Hitmans ist das Eintrittsgeld wert. Best Bit: Jack im Auto, am Ende. Dann der Schmetterling.

4 Sterne »Somewhere« (Sofia Coppola) Reihenweise in Ohnmacht gefallen sind sie in Venedig, als sie des neuen Werks von Frollein Coppola angesichtig geworden waren. Das muss man nicht. Aber sie hat die Gabe, Gefühle per Film zum Ausdruck zu bringen, ohne sie auszusprechen. Sie übersetzt sie in Bilder, in Rhythmen, und irgendwie kommen sie beim Zuschauer an. Eine Geschichte braucht sie gar nicht (aus einem Forum: »Why is this movie called ›Somewhere‹?« – »Because that is where they left the script.«). So zeigt sie den komplett mit Abgussmasse bedeckten Kopf ihrer Hauptfigur, eines in lustloser Dekadenz erstarrten Filmstars, und weiß genau, wie lange sie die Einstellung stehen lassen muss. Sie schneidet erst, nachdem das Bild seinen Inhalt transzendiert, nachdem seine Bedeutung sich von lustig und skurril über trostlos und trivial bis sinnbildlich und traurig verwandelt hat. So zu filmen versucht heute kaum noch wer. Und obwohl bereits auch Stimmen laut werden, die Sofia Coppola einer Masche bezichtigen – wer soll denn bitte sonst solche Filme machen. Best Bit: Der Schatten eines Lächelns am Ende.

4 Sterne »Toy Story 3« (Lee Unkrich) Man glaubt es nicht, wenn man’s nicht selbst gesehen hat, aber Spielzeug kann einen erwachsenen Menschen zum Weinen bringen. Und zum Lachen, und überhaupt zu jeder Gefühlsregung, deren er fähig ist. Wie mühelos dieser Film wirklich alle Register zieht, ist erstaunlich. Kein Kritiker konnte ein schlechtes Haar an ihm finden, obwohl sie alle gründlich gesucht haben. Und Zuschauer landauf, landab, selbst stirnrunzelnde Mainstream-Nörgler, kamen nicht umhin, ihnen beizupflichten: »Toy Story 3« ist einfach mal sehr gut. Best Bit: Buzz gerät in den ›Spanish Mode‹.

4 Sterne »The Last Station« (Michael Hoffman) Kenner werden bartstreichend zu Bedenken geben, dass der Film der Philosophie und dem Spätwerk Tolstois wenig Raum lasse und die Kluft zwischen Aristokratie und Bauernvolk überhaupt nur geringe Beachtung erfahre. Also, nicht profunder Grübelei, sondern ganz irdischen Impulsen überlässt der Film die Zügel, beobachtet den Winter einer Liebe, den Frühling einer anderen. Er findet Drama in jedem Dialog, Dellen in jedem Charakter. Plummer & Mirren geben Schauspielklassen viel Stoff. Komplett im Osten Deutschlands gedreht übrigens. Best Bit: Tolstoi, ungehalten ob der opernhaften Allüren seiner Frau: »You don’t need a husband, you need a Greek chorus!«

4 Sterne »Monsters« (Gareth Edwards) Ein bescheidener Hybrid aus »Cloverfield«, »District 9« und »War of the Worlds«, dreht sich die Geschichte von »Monsters« weniger um ihr fantastisches Element (außerirdische Cephalopoden haben sich in Mittelamerika eingenistet) als um das Auskommen der Menschen unter extremen Bedingungen. Die Amerikaner versuchen die Kreaturen auszuräuchern, Kollateral­schäden in Kauf nehmend, während Passagen durch die ›Infected Zone‹ von korrupten Mexikanern teuer verkauft werden – auch einem Fotojournalisten und seiner Schutzbefohlenen, deren kreuzgefährliche (und emotionale) Reise wir verfolgen. Für ein paar Groschen wurde dieser Film gedreht, mit zwei Schauspielern, zwei Leuten Crew, ohne richtiges Drehbuch. Und dafür: Hut ab. Best Bit: Der Kraken auf der Tankstelle.

4 Sterne »Precious« (Lee Daniels) Ein Problemfilm. Über ein dickes Mädchen, über eine kaputte Familie, über Missbrauch, Armut usw. Und Mariah Carey spielt mit. Ob man sich den antut, das überlegt man sich. Dabei zeigt der Film, dass Hollywood auch ein Bewusstsein für die sozialen Untiefen des Landes hat, was der sogenannte Mainstream manchmal vergessen lässt. Aber Amerika macht immer noch unge­schminktes, großes Kino über sich selbst. Best Bit: Dieses Scheusal von Mutter.

4 Sterne »Lebanon« (Samuel Maoz) Der erste Libanon-Krieg aus der Perspektive einer Handvoll junger Soldaten in einem versprengten israelischen Panzer. Was man sieht, sieht man durch die Zielvor­richtung – die eingeschränkte Perspektive lässt die morbide Faszination an der Schönheit des Krieges, der man sich in Filmen wie »Apokalypse Now« kaum entziehen kann, gar nicht erst aufkommen. Es regieren Dreck und Lärm, Angst und Verwirrung; der Wahnsinn des Töten-oder-getötet-Werdens überfordert die Rekruten total – vom Zuschauer ganz zu schweigen. Zwanzig Minuten Applaus gab es in Venedig, dazu den Goldenen Löwen. Best Bit: Der Kommandant rasiert sich.

4 Sterne »The Ghost Writer« (Roman Polanski) Die Geschichte reißt keine Bäume aus, aber ein Politthriller von der Stange ist der neue Polanski nicht. Es ist einer dieser Filme, an die man sich später erinnert wie an einen intensiven Traum. Völlig unaufgeregt und bar jeder manipulativer Winkelzüge entwickelt Polanski das Geschehen, aber zwischen die Bilder kriecht ein Gefühl dräuender Paranoia. Die winterliche Tristesse von Martha’s Vineyard tut ihr Übriges (verständ­licherweise nicht dort gedreht, sondern auf Sylt). Best Bit: Die flatternden Manuskriptseiten.

4 Sterne »Anvil! The Story of Anvil« (Sacha Gervasi) Nein, von Anvil haben wir noch nicht gehört. Warum nicht? Das zeigt diese phänomenale, hochgelobte Rockumentary über Kanadas vergessenste Metalcombo. Phänomenal deshalb, weil Gervasi es schafft, sich in der Band einzunisten und die Kameradschaft und die Beharrlichkeit, die Leidenschaft und die Frustration der Jungs aus erster Hand greifbar zu machen. Und so wird aus »Anvil!« neben dem wahrscheinlich besten Film über Rock’n’Roll überhaupt auch eine erhebende und inspirierende Geschichte über Lebensentwürfe und Träume. Best Bit: »Family’s important shit, man!«

4 Sterne »Moon« (Duncan Jones) Wir hatten gedacht, solche SciFi-Filme drehen sie nicht mehr, aber hier atmet der Geist von Asimov und Lem, von Dick und Bradbury. Duncan Jones‘ Debüt »Moon« handelt von Identität und Leben, von Bewusstsein, Erinnerung und Sinnsuche – unser innerer Kosmos, draußen im All denkt sich offenbar am besten darüber nach. Und viel braucht es nicht: ein paar Kulissen, Sam Rockwell, einen Kevin-Spacey-Roboter, und Sam Rockwell. Alles für schlappe fünf Millionen Dollar. Michael Bay hat Träume, die mehr kosten. Best Bit: Sam gelangt zu dem Unfallfahrzeug, findet den Mann im Raumanzug, wischt den Staub vom Visier und – !

4 Sterne »Five Minutes of Heaven« (Oliver Hirschbiegel) Schwere irische Akzente, nicht minder schwere Thematik – dieses Dokudrama schmeißt sich nicht eben ans Publikum ran. Konsequenterweise ging es praktisch völlig unter; zu Unrecht. In Teilen entwickelt die Geschichte um einen ehemaligen UVF-Untergrundkämpfer, der vor 33 Jahren einen Katholiken ermordet hat (authentisch) und sich vor laufender Kamera mit dessen Bruder treffen soll (fiktiv), den enervierenden Druck der Konfrontation, wie ihn Filme wie »Frost/Nixon« oder »Doubt« hatten. Es geht um das Ringen von Rache und Vergebung, von tradiertem Hass und später Reue. Große Leistungen von Neeson und Nesbitt. Best Bit: Der finale Schlagabtausch in Lurgan.

4 Sterne »The Town« (Ben Affleck) Dieser geschickt gestrickte Heist-Thriller, wie »Gone Baby Gone« in den schäbigen Gefilden von Boston angesiedelt, bestätigt zwei Dinge: Erstens, dass Ben Affleck ein exzellenter Regisseur ist – abermals steuert er unter dem Deckmantel einer harten Gangster-Story eine menschliche, moralische Fein­mechanik. Und zweitens, dass Jeremy Renner ein Top-Schauspieler ist – sein Hitzkopf Coughlin ist von unausweichlicher Präsenz. Best Bit: Das Ende von Drahtzieher Fergie (Pete Postlethwaite in seiner vorletzten Rolle).

4 Sterne »Sin Nombre« (Cary Fukunaga) Ein Drama um mexika­nische Banden und entbehrungsreiche Emigranten-Treks, keine leichte Kost. Behutsam unterfüttert mit Westernmotiven, behält das Debüt des Kaliforniers Fukunaga, der wohl sogar eine zeitlang mit den Gangs lebte, eine unerschrockene Wahrhaftigkeit. Man verlässt das Kino bewegt und dankbar, dass man nicht in dieser Ecke der Welt geboren wurde. Best Bit: Die Szenen auf den Dächern der Züge. Schöne Bilder, bei allem Elend.

4 Sterne »Cyrus« (Jay Duplass, Mark Duplass) ›Mumblecore‹ nennt sich diese ultrarealistische, halb-improvisierte Low-Budget-Sparte amerikanischen Indie-Kinos, die seit einigen Jahren die Festivals bereichert. Die Duplass Brothers, Mumblecore-Pioniere, fügen diesem Konzept in ihrer ersten Studio-Produktion wieder etwas Prägnanz hinzu, ein wenig Dramaturgie und Politur, und heraus kommt einer dieser überraschenden, großen kleinen Filme. Perfekt besetzt und gespielt; man hat das Gefühl, jedes andere Ensemble hätte hieraus einen ganz normalen schlechten Film gemacht. Best Bit: John auf der Party seiner Ex.

4 Sterne »The Road« (John Hillcoat) Hitchcock hat einmal gesagt, er verfilme keine große Literatur, denn wozu: Das Meisterwerk sei ja schon da. Aber allen, die Cormac McCarthys Pulitzer-Gewinner nicht gelesen haben, mag die Kinofassung doch eine Ahnung von der schier biblischen Größe seiner Endzeitvision verschaffen. Eine ungenannte Katastrophe, die Welt im Trauma, nichts als tote, leere Ödnis – dieser filmgewordene Grabgesang ist sicher nichts für depressive Naturen. Allerdings hat das Zurückgeworfensein auf den Kampf um die nackte Existenz bei all den Gute-Laune-Geschichten etwas angenehm Ernüchterndes. Best Bit: Robert Duvall als ›Old Man‹.

4 Sterne »How to Train Your Dragon« (Chris Sanders, Dean DeBlois) Manch Papa konnte sich glücklich schätzen, wenn Sohne­mann ihn in diesen Film mitnahm, denn holla! was für ein Feuerwerk. Die Story nicht so Pixar-mutig vielleicht, die Ausführung aber genauso inspiriert. Best Bit: Diese unfassbar lustigen Drachen – am gernsten in 3D.

4 Sterne »Please Give« (Nicole Holofcener) Von den Independent-Filmen der ›Slice of Life‹-Sparte ist dies 2010 vielleicht der beste gewesen. Eine Handvoll bessergestellter New Yorker, wohltuend unvollkommen, wurschteln sich durch Berufliches und Privates, tarieren zwischen Eigennutz und Edelmut. Ein Urteil erlaubt sich der Film nicht – was gut ist. Ohne Bedarf für einen nennenswerten Plot oder drama­tische Höhepunkte, lebt »Please Give« von der Kollision komplexer Charaktere, bleibt sardonisch-trocken im Ton und fühlt sich – eine seltene Kinoerfahrung – wunderbar echt an. Best Bit: Kate, stets zwanghaft wohltätig, bietet einem Mann auf der Straße Essen an; der aber wartet auf einen Tisch im Restaurant.

4 Sterne »Crazy Heart« (Scott Cooper) Natürlich kennen wir die Geschichte – ganz ähnlich war das doch erst letztes Jahr im »Wrestler«. So aufregend ist der Film auch nicht erzählt, ja fast unoriginell und vorhersehbar kommt er daher. Und Country-Musik, nun ja. Aber da ist noch etwas. Unmerklich wächst der Film zu etwas Größerem zusammen; da ist ein tief empfundenes Verständnis für seinen Protagonisten, unsere Loyalität radiert Vorbehalte letztlich aus. Verantwortlich dafür ist hauptsächlich einer: Jeff Bridges. Best Bit: Bad verliert Buddy im Mini-Mall.

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1 Stern »Skyline« (Colin Strause, Greg Strause) Ok, »Skyline« mag üble Dialoge haben und eine flache Story, er mag sich schamlos bei allen Invasionsfilmen der letzten Jahre bedienen und mit einer Tonne CGI die unterirdischen Schauspielleistungen zu übertünchen versuchen, aber auf der anderen Seite, äh, also auf der anderen Seite, also, tja.

1 Stern »The Tourist« (Florian Henckel von Donnersmarck) Immer mal wieder, vielleicht einmal im Jahr, kommt ein Film raus, der uns überrascht, ein Film, an dem einfach alles stimmt: Die Geschichte ist originell, die Charaktere sind gut ausgearbeitet, die Stars hervor­ragend aufgelegt, das Timing stimmt, die Spannung ist da, die Witze zünden, und das Ende ist richtig cool. »The Tourist« ist nicht dieser Film. Vielleicht nicht der Totalausfall, den manche Kritiker gesehen haben wollen, aber schon schlimm.

1 Stern »Clash of the Titans« (Louis Leterrier) Also, die hatten 125 Millionen, die hatten Liam Neeson, Ralph Fiennes und Sam Worthington, die hatten CGI und 3D und jede Menge akkumuliertes Kino-Know-how für das Remake einer Harryhausen-Klamotte von vor dreißig Jahren. Und sie machen trotzdem den schlechteren Film – auch eine Leistung. Leider war der schludrige Götterschinken erfolgreich, eine Fortsetzung ist beschlossene Sache. Beim Zeus!

1 Stern »The Wolfman« (Joe Johnston) Und noch ein Remake-Fehlschuss. Tadellos besetzt eigentlich, und mit Rick Baker den besten Make-up Artist am Start, begeht der Film den Fehler, seine nostalgische Gothic-Geschichte mit eimerweise Blut und Splatter zu garnieren. Spannung kommt nicht auf, und die Subtexte der Legende, von denen die 1941er Version noch etwas verstand, glänzen durch Abwesenheit. Am gruseligsten ist noch Anthony Hopkins, einen Apfel essend, ansonsten gibt es billige Erschreck-Effekte im Minutentakt. Boo!

1 Stern »Alice in Wonderland« (Tim Burton) Warum sind wir enttäuscht? Weil Tim Burton draufstand, aber kein Tim Burton drin war, sondern nur Disney. Lewis Carrolls launige Geschichte, ein Musterbeispiel der Nonsensliteratur, ein Kultbuch, wird zu einem konventionellen, vorhersehbaren Kindermärchen runtergeputzt. Welches zwar gut aussieht auf der Leinwand, dem aber das Herz fehlt. Gestört hat das keinen, es ist der sechst-erfolgreichste Film aller Zeiten geworden.

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[ veröffentlicht am 26. 1. 2011 ]

(Filmstreifen im Logo © Fabian Kerbusch/DIGITAL-CONNECTOR)