Archiv des Themenkreises ›Interview‹


»Ein goldener Moment in der Geschichte
des deutschen Feuilletons«

Stanford, 23. Februar 2011, 02:57 | von Srifo

Kalifornisch unabgeschiedenes Interview mit HANS ULRICH GUMBRECHT: Über deutsche Zeitungen und ihre Einmaligkeit, über Wiederholungen und Hyperbolik, über nächste Projekte, Widmun­gen von Hans Robert Jauß und Männer in grauen Regenmänteln, die noch mal das Matheabitur kontrollieren wollen

In der Februarhitze gehe ich an hastig radelnden Undergrads vorbei zur Pigott Hall, dem Literaturen-Gebäude der Stanford University. An der Ecke zum Circle of Death, einem zur Pausenzeit umrasten Radlerkreisverkehr, hat Hans Ulrich Gumbrecht sein Büro. Es ist 11 AM, ich habe eine Stunde, klopfe, und unter dem blitzenden Licht des Eckfensters plaudern wir los. Apropos Ausleuchtung: Um die Schönheit und die dunklen Geheimnisse der gesprochenen Sprache zu bewahren, wurde das Transkript nicht redigiert.

»Kann ich das in 12.000 Zeichen
erklären?«

Der Umblätterer: Schaut man auf deine Veröffentlichungsliste, Sepp, fragt man sich: Fühlst du da eine gewisse Verantwortung, dich am deutschen geisteswissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen? Das Verhältnis Zeitungsartikel zu Buch hältst du bei circa 20:1, was zurzeit etwa mit dem Faktor 34 zu multiplizieren ist, um auf das Gesamtvolumen zu kommen.

Hans Ulrich Gumbrecht: Nein, ich spüre keine spezifische Verantwortung für das deutsche Feuilleton. Ich denke aber, dass nicht nur die Quantität sondern auch die Qualität der deutschen Feuilletons im Moment international einmalig ist. Ich würde sagen, die vier, fünf besten deutschen Tageszeitungen plus Wochenzeitungen, also nicht der »Spiegel«, aber die »Zeit«, sind wirklich völlig einmalig. Nicht nur, weil es auf Englisch kein ›Feuilleton‹ gibt.

Ich bin einmal im Jahr zwei Wochen in Paris, und dann kaufe ich mir »Le Monde«, »Figaro«, »Libé«, und das kannst du nicht vergleichen. Ich würde aber nicht nur sagen, dass international alles runtergekommen ist, nein, es ist einfach ein goldener Moment auch in der Geschichte des deutschen Feuilletons. In den Zwanzigerjahren oder so –, oder wenn man sagt, »oh, das war in den Fünfzigern besser«, nein, war es nicht. Es ist unheimlich gut. Was zum Teil damit zu tun hat, dass Journalisten wie Frank Schirrmacher oder Gustav Seibt, die früher automatisch Universität gemacht hätten, dachten, es sei interessanter. Finanziell interessanter, als Lebensform interessanter.

Für mich war es aber nie so ein Plan, dass ich gesagt habe, ich will jetzt das und das machen. Es interessiert mich selbst aus mehreren Gründen. Einer ist sozusagen sportlich, also wie jetzt dieser Jauß-Text für die »Zeit«: Kann ich das in 12.000 Zeichen erklären? Manchmal denke ich, das geht nicht, aber dann versuche ich es und finde es interessant.

Zweitens freut es mich natürlich, dass es mir über diese Medien gelungen ist, nicht nur ein Wissenschaftler zu sein, sondern auch ein öffentlicher Intellektueller. Andreas Kablitz der mich vor einigen Wo­chen bei einem Workshop in Köln vorgestellt hat, sagte drei Sachen: »Er ist ein Romanist, immer noch, er ist ein Philosoph mittlerweile geworden«, auch in dem Sinn, dass in Philosophieseminaren meine Sachen zitiert werden, und drittens, »ein öffentlicher Intellektueller, und das hat in der Germanistik niemand geschafft, und in der Romanistik einer, das war Ernst Robert Curtius«, und das hat mich ziemlich stolz gemacht.

Das heißt, ich mache das nicht für deine Generation, ich mache das für mich. Ich denke, dass ich einer von ein paar war in Deutschland, Hörisch wäre auch so jemand, die eine größere Nähe zwischen dem Feuilleton – und nicht nur Feuilleton, es kann ja auch das »Philosophische Quartett« sein, Sloterdijk sowieso – und den Geisteswissenschaften geschaffen haben. In dem Sinn, dass das wahrscheinlich das Feuilleton nicht besser, aber komplexer gemacht hat. Ich schreibe ja jetzt doch nicht genauso, wie jemand, der eine journalistische Karriere gemacht hat. In der Hinsicht fühle ich keine Verantwortung, es ist ja wirklich im emphatischen Sinn auch nicht mehr mein Land, ich möchte eigentlich mehr hier investieren.

Der Umblätterer: Aber du schreibst ja schon viel, wirklich sehr viel, so viel wie wenige andere, die nicht angestellte Journalisten sind.

Gumbrecht: Ja, richtig, das ist eben der sportliche Ehrgeiz. Irgendjemand hat mal geschrieben, dass ich einer der wichtigsten Stichwortgeber in der deutschen Kultur der Gegenwart wäre, das fand ich etwas hyperbolisch, aber toll. Klar, das interessiert dich, da hast du einen Ehrgeiz, da kommst du in Debatten rein, ich hatte so eine Debatte letztes Jahr gehabt mit Kaube, den ich gern mag, also Kaube meinte, Geisteswissenschaften seien Wissenschaften, und ich denke das nicht, und schon hast du ein Follow-up. Oder meine Sport-Sache, da habe ich nicht irgendeiner Sportredaktion in Deutschland erzählt, »also ihr müsst aber jetzt anders schreiben«, aber die schreiben tatsächlich anders als vor 15 Jahren, and I think I was part of that.

»Würden Sie was für die ›Geisteswissen-
schaften‹ schreiben?«

Der Umblätterer: Das geht schon zur nächsten Frage, die die erste zuspitzt, wenn man sich nämlich die Personen anschaut, die du schon genannt hast, deine intellektuellen Freunde, Karl Heinz Bohrer und Peter Sloterdijk, oder auch Henning Ritter und Rüdiger Safranski, Frank Schirrmacher …

Gumbrecht: Bei Ritter ist es genau umgekehrt.

Der Umblätterer: Du meinst …

Gumbrecht: … umgekehrt, also wenn man der Sohn von Joachim Ritter ist, kann man natürlich keine akademische Karriere haben, Ritter hat bei Verlagen gearbeitet, dann die FAZ-Sache gemacht, großartig gemacht. Und wenn du ihn heute siehst, kann er überall schreiben, er ist einer der großen Intellektuellen im Land, aber Ritter hat mittlerweile auch einen Dr. h. c., und ich denke, mit Recht. Bei Karl Heinz Bohrer ist es ja biografisch gesehen auch ähnlich.

Lomo-Serie, Florian Fuchs und Hans Ulrich Gumbrecht at Stanford

Der Umblätterer: Oder es gibt auch Schüler von dir im Feuilleton. Du hast zwar gesagt, Verantwortung fühlst du nicht so richtig, aber de facto hast du ja inhaltlichen Einfluss. Eben die Sportjournalisten, die jetzt anders schreiben. Stellst du das hinterher fest und sagst, »Ach, die schreiben ja jetzt anders, das wollt ich ja jetzt gar nicht so, ist ja lustig«, oder ist das mit in den Ehrgeiz eingeflossen irgendwann?

Gumbrecht: Ehrgeiz ist ja immer so ein Wort, was ganz furchtbar klingt, aber das kannst du schon schreiben. Um es so zu formulieren, in Interviews werde ich auch immer gefragt, wie ich das akademisch alles so geplant habe. Aber vielleicht bin ich deshalb auch immer in so katastrophischen Situationen, ich bin kein Mensch von langen Planungen, also ich weiß zum Beispiel, dass ich im Sommer dieses Latenzbuch fertig schreibe, und ich weiß, dass ich wahrscheinlich als nächstes Buch eine Diderot-Biografie schreibe, ein großes Buchprojekt, und das hat mit Lebensende, also mit meinen 62 Jahren zu tun. Das sind Bücher, die ich wirklich noch schreiben will, aber ich plane nicht so langfristig.

Ich hätte nicht sagen können, dass ich mich irgendwann entschlossen hab, ich muss jetzt nach Amerika gehen. Martin Seel hat mal geschrieben, es gehört zur agency dazu, die Fähigkeit sich bestimmen zu lassen von Situationen und Gelegenheiten. Und, ja doch, das war Gustav Seibt, den kannte ich, weil er ein Freund von einem Schüler von mir war, und er war Assistent bei Ritter, und der fragte im Auftrag vom Ritter, als die grade angefangen haben mit der Geisteswissenschaften-Seite in der FAZ, »würden Sie was für die ›Geisteswissenschaften‹ schreiben?« Das habe ich natürlich nicht geplant, das meine ich mit keiner Verantwortung.

Klar möchte ich, dass gut geschrieben wird. Ich möchte z. B. bei bestimmten Debatten, dass die eine Seite gewinnt und die andere nicht, aber ich habe keinen Masterplan, was denn mein Beitrag für die Geisteswissenschaften sein sollte. Eine gute Metapher, die Humberto Maturana immer gebraucht hat, ist der Drift vom Segelboot: Ich hab schon immer eine Ahnung, wo ich hin möchte, aber nicht langfristig, und deswegen meine ich, ich folge keiner Verantwortung.

Eine Analogie ist, dass Sportlern ja immer angemutet wird, sie sollten role models sein, aber das ist nicht, warum man Sport macht. Dass dann irgendwelche Sportler role models sein könnten, ist ja schön, und wenn ich einen Einfluss auf eine bestimmte Richtung nehmen kann, die mir sympathisch ist, ist mir das auch Recht, aber ich könnte dir jetzt nicht sagen, welches denn der nächste Schritt wäre, wo ich möchte, dass das deutsche Feuilleton hingeht.

Der Umblätterer: Du warst 2004 bei einem Vierergespräch dabei, mit Frank Schirrmacher, Henning Ritter und Martin Meyer.

Gumbrecht: Genau.

Der Umblätterer: Damals hast du es ähnlich formuliert …

Gumbrecht (nimmt ein schmales Buch von einem Stapel, »Warum soll man die Geisteswissenschaften reformieren?«): Das hast du, oder?

Der Umblätterer: Nee?

Gumbrecht: Ja dann gebe ich dir das jetzt, das ist das Weihnachtsgeschenk des Präsidenten der Uni Osnabrück, das Foto, das da drin ist, ist das FAZ-Foto von dem Vierergespräch.

Der Umblätterer: Ja, ich habe den Artikel hier, da ist das drin.

Gumbrecht: Nee, ist ein anderes Foto, aber selbe Serie, die Uhr ist leider Gottes stehen geblieben, die haben eine sehr elegante Uhr.

»What was he thinking!«

Der Umblätterer: Jedenfalls sagst du da genau dasselbe über dein Interesse, was den Einfluss auf das Feuilleton angeht. Was sich daran anschließt, ist eine Frage nach dem Gegenwind, den es dann gibt. Du hast im »Freitag« gerade etwas über Risikodenker geschrieben, und die Community, die beim »Freitag« immer sehr lebhaft antwortet …

Gumbrecht: Ja, Wahnsinn.

Der Umblätterer: Die meisten dort haben sich über deinen Artikel beschwert und sagen, »Ihnen nehme ich das natürlich nicht ab, Herr Gumbrecht, dass sie Risikodenker sind«. Und in der »Welt« gab es auch eine Antwort …

Gumbrecht: Vom Feuilletonredaktionschef.

Der Umblätterer: … der das ähnlich sah. Würdest du sagen, um es mal so zu formulieren, die kalifornische und die deutsche intellektuelle Lebenswelt können nur im Dissenz zueinander leben? Du hast im Interview mit der »Welt« Anfang November eine Andeutung in diese Richtung gemacht.

Gumbrecht: Du hast wahrscheinlich auch den Artikel in der »Zeit« gelesen von vor drei, vier Jahren, dort heißt es, meine Reputation und mein Talent sei, immer Meinungen zu spalten. Ich sage irgendwas, und dann sind ein paar Leute stark dafür und, wie bei dem Text über riskantes Denken, andere sagen, »Nein, absolut nicht«. Ich kann nicht sagen, dass ich das bewusst mache oder kultiviere, aber ich merke, dass das eine Wirkung ist, die ich habe.

Zum Beispiel kriege ich größtenteils, wie die meisten hier, bei den class reviews close to einer Idealnote von den Studenten. Aber nach einem Seminar, das ich grade gemacht habe, bei dem ich dachte, es war unheimlich gut, sehe die Grafik der Bewertungen und sage, »Was, das ist ja furchtbar!« 60 Prozent der Studenten sagen ganz explizit, das sei das beste Seminar, das sie in Stanford je gemacht haben, und die anderen sagen, »What was he thinking!«.

Ich kultiviere das nicht, aber ich würde sagen, z. B. so eine Sache wie der Jauß-Text, der bald in der »Zeit« kommt, oder die Sache im »Freitag«, dass das mittlerweile zu mir als Produkt gehört. Die Zeitungen wissen, ich schreibe irgendwas zu so einem Thema, und da kriegen sie eine Menge Reaktion, und das ist es natürlich, was ein Medium interessiert. Es ist ja dem »Freitag« Wurst, ob die Leute beistimmen oder nicht.

Den Unterschied zwischen hier und Deutschland kann man gut sehen, wenn man sich z. B. hier die Division of Literatures, Cultures, and Languages (DLCL) in Stanford anschaut, da finde ich es bemerkenswert, wenn man sagt, es sind 40 faculty members, da gibt es junge Persönlichkeiten und a couple of big guys, die alten, Girard und Serres, oder nur Robert Harrison und mich. Wenn das ein deutsches Seminar wäre, wäre es, statt zusammenzuwachsen, schon längst in zwei Teile gespalten, und es gäbe eine Menge Leute, die miteinander nicht können, nicht zusammen in einer Kommission sein könnten usw.

Das finde ich bemerkenswert hier: Du kannst verschiedene Meinungen haben, du kannst beständig drüber streiten, produktiv streiten, but that’s normal. Das ist in Deutschland, finde ich, undenkbar. Und ich überlege immer, warum mir Deutschland oft auf die Nerven geht, und es ist letztlich das, dass in dem Moment, wo man in Deutschland merkt, dass es einen Dissenz gibt, ziehen alle den Schwanz ein oder du kriegst einen Streit.

Ich meine z. B. schon wenn ich etwas sage, was kontrovers ist, heißt das ja nicht, dass ich nicht den guten Grund der anderen Meinung sehe, aber man kann ja auch mal sagen, das ist wahr. Und du siehst ja die Reaktionen z. B. im »Freitag«, also alle sagen wie furchtbar und wie kann ich das sagen. I mean, in the first place I can say that … Aber noch mal zu deiner Frage: Ich würde sagen, was die Leute hier wählen würden, wenn sie das deutsche Spektrum hätten, oder was die Deutschen wählen würden, also our kind of people, wenn sie hier lebten, would not be so different. Die meisten Deutschen würden hier auch Obama wählen und würden sagen, »wäre schön, wenn er noch ein bisschen linker wäre«, irgend sowas. That is not so different.

Die Differenz, die vielleicht, durch die Tatsache, dass ich in Kalifornien bin, in Deutschland provokant ist, ist, dass ich nicht mehr gewöhnt bin und das vielleicht auch kultiviere, in der Hinsicht strategisch zu sein. Es war typisch von deutschen Freunden, hier zu sagen, um Gottes willen, wie werden die Deutschen auf den Jauß-Text reagieren. Well, I’m interested but I really don’t care. Why should I? For Christ’s sake.

»Streitkultur« oder so

Der Umblätterer: Das nächste hat damit gleich zu tun, nämlich mit kalifornischer Abgeschiedenheit. Und zwar schreibst du, ich habe mir da das erste, was du 1989 in der FAZ über Kalifornien schreibst, angekuckt … Und zwar machst du da, vor 22 Jahren, eine Rundreise von Berkeley über Stanford zu Hayden White nach Santa Cruz. Damals gab es noch diesen lustigen Begriff des Post-Poststrukturalismus, was auch immer der war oder ist, und du sagst, was Hayden White dir damals davon erzählte, würde in Deutschland immer noch als neokonservativ disqualifiziert werden.

Letztlich konterkarierst du beide Positionen – Kalifornien und Deutschland – und schreibst, »Aber im Gegensatz zu den deutschen Apologeten der Aufklärungstradition« – hast du die grade wieder als deutsche Haltung zitiert, wäre die Frage – »hält White grade nicht an dem Universalanspruch des Postulats fest, daß Wissenschaft ›politisch‹ und überhaupt (ernste) ›Wissenschaft‹ zu sein habe. Man könnte sich fragen, ob dieser Verzicht [auf den Post-Poststrukturalismus] in Deutschland eine Folge jener intellektuellen Abgeschiedenheit ist, die – allerdings unter amerikanischen Bedingungen – in Santa Cruz gerade zu dem umgekehrten Ergebnis, nämlich der Inflation des politischen Anspruchs geführt hat.« Die Frage ist also die nach der jeweils spezifischen intellektuellen Abgeschiedenheit in Deutschland und in Kalifornien, besteht die noch?

Gumbrecht: Das ist komplex, das finde ich interessant, weil ich das jetzt nicht mehr so sehe wie damals. (überlegt) Ob sich das wirklich geändert hat oder ob ich mehr kapiert habe über die Umstände hier, ist schwer zu sagen, einen Unterschied sehe ich weiterhin in der schon erwähnten Diskussionskultur hier. Die finde ich hier in Stanford positiv, und die ist nicht überall so, an der Cornell University, NY, ist es wirklich nicht so. Wenn das hier funktioniert, dann, habe ich den Eindruck, funktioniert das, weil sich die Leute als citizens verstehen. Bis in eine discussion sind sie citizens, also nicht, dass du was beitragen musst zu den USA, eher in einem Aufklärungssinn, wenn man will. Wie überhaupt in diesem Land, wenn es gut klappt, diese Aufklärungstradition …

Der Umblätterer: Eine gemeinsinnliche Stimme?

Gumbrecht: Ja so, you meet, like, a town hall meeting, das bedeutet, Leute haben verschiedene Meinungen und man schaut, was rauskommt. Wenn hier in einer Kommission ein Lehrstuhl besetzt wird, dann wird nicht geheim abgestimmt und die Minderheit letztendlich unterdrückt, damit man eine einhellige Meinung nach außen hin abgeben kann, sondern es wird in die Fakultät gegeben zur Diskussion. Denn der Agent, der die Empfehlung an die Universitätsleitung gibt, ist die Fakultät, verkörpert durch die Dekanin. Und da sagt man immer, why should we be unanimous, wenn es mehrere Kandidaten gibt und keiner der Teilnehmer der Kommission findet im schlimmsten Fall keinen von beiden unmöglich, gibt man die Präferenzen heraus. Und dann wird in der Fakultät diskutiert und jeder akzeptiert dann die Meinung, das ist eben ein demokratischer Prozess. Das ist die Illustration von citizenship in meinem Sinn.

Im Gegensatz dazu, und das würde ich für die große Differenz halten, meine Kollegen in Deutschland, die untereinander diskutieren, finde ich, diskutieren nicht als citizens, obwohl sie es immer sagen, oder es heißt dann »Streitkultur« oder so. Sondern sie diskutieren immer als Wissenschaftler. Weil dieser Wissenschaftsbegriff so stark ist, dass man eigentlich Recht haben sollte am Ende. Zum Beispiel wenn befreundete deutsche Professoren mir sagen, dass sie nicht verstehen können, dass ich Paul de Man nicht mag. Dann ist das immer so: »Du bist doch intelligent, du müsstest doch de Man mögen.« Oder: »Am Ende eines Tages wirst du einsehen, dass de Man …«

Der Umblätterer: Also schon noch die »Apologeten der Aufklärungstradition«, die wirken deiner Ansicht nach immer noch?

Gumbrecht: Na gut, ich hab des jetzt deswegen nicht verwendet, weil ich eigentlich, wie ich die Aufklärung verstehen würde, voraussetze, dass andere Leute andere Meinungen haben. Ich meine, im schlimmsten Fall sozusagen, muss man eben abstimmen, es gibt eine Mehrheitsmeinung und die gewinnt dann. Aber es könnte ja auch sein, dass ich, wenn eine Diskussion gut läuft, dass sich was anderes ergibt.

Wenn ich sehe, dass 60% meiner Kollegen, 70%, jemanden wollen, den ich nicht wollte, dann würde ich nicht sagen, die Meinung der Kommission muss dominieren, weil ich meine, das ist jetzt einmal so festgelegt, dass die Fakultät als Kollektiv den Vorschlag an den Dekan macht, verstehst du. Da würde ich aber nicht sagen, »Ja, aber eigentlich haben sie Unrecht gehabt«, sondern da würde ich sagen, ich habe eine Meinung gehabt, die sich als exzentrischer herausgestellt hat, als ich dachte. Ich kann argumentieren, warum ich sie hab, ja, so wie ich ja auch nicht erwarte, dass ein konservativer Bekannter von mir mich eines Tages überzeugt, dass George W. Bush wirklich der beste Präsident war.

Der Umblätterer: Diese Selbstevidenz der Wahrheit.

Gumbrecht: Ja.

Der Umblätterer: Dann eine ganz praktische Frage: Ich weiß, dass du viele Kontakte hast zu Journalisten, steuern diese Kontakte auch deinen Zeitungskonsum? Liest du im Internet? Hier in der Bibliothek kommen die Sachen ja immer sieben Tage später an. Wie läuft das mit deiner Feuilletonlektüre?

Gumbrecht: Nein, also ich lese nur jeden Tag den Sport in der »New York Times«, das stimmt wirklich, das ist nicht nur eine Stilisierung. Wenn ich an einem Morgen keine Zeit habe, dann lese ich ihn hier im Büro. Und falls du das als Jux mit reinschreiben willst: Ich war in der 1. Klasse Volksschule unheimlich schlecht, und das war das Jahr, als Deutschland die Fußball-WM gewonnen hat, und meine Eltern sagten: »Wenn du jetzt lesen kannst, dann kannst du immer Sport lesen.« Und da habe ich angefangen, über Fritz Walter in der »Würzburger Mainpost« zu lesen.

Also den Sport lese ich regelmäßig. Zum Beispiel fahre ich deswegen in Deutschland immer 1. und nicht 2. Klasse im Zug, weil es da for free FAZ, »Süddeutsche« und »Welt« gibt. Und wenn ich Zeit hab, ich mein ich find das sehr angenehm zum Lesen, aber ich verfolge das nicht, weil ich auch denke, nothing happens if I don’t know. Außer wenn mir jetzt jemand sagt, da ist was Interessantes, vor allem, wenn mir jemand sagt, da hat jemand auf dich reagiert. (lacht) Oder so, wie du mir letztens wegen deines Umblätterer-Artikels die Philosophie-Ausgabe der »Zeit« kopiert hast, das finde ich interessant. Auch wieder von der Idee her, dass die akademische Welt, also die Geisteswissenschaften, näher an das Feuilleton gerückt sind und die »Zeit« so ein Thema macht über Philosophie. Das möchte ich dann gerne lesen. Aber jetzt nicht, weil ich denke, ich muss informiert sein, das interessiert mich wirklich. Aber sonst verfolge ich nichts regelmäßig außer Sport.

»I had but one idea in my life.«

Der Umblätterer: Noch eine letzte Frage zu deiner Feuilletontätigkeit. Und zwar, weil du so viel schreibst, so viele Interviews gibst. Allein schon, wenn man nur sieht, was aus den letzten zehn Jahren im Internet zu finden ist. Da sind ja ganz oft Sachen bei, die sich wiederholen. Was sagst du dazu, stört dich das im Nachhinein?

Gumbrecht: Du meinst, dass ich immer dasselbe sage?

Der Umblätterer: Diese Stilisierung, um die es gerade ging, und gleichzeitig diese Präsenz, die du hast. Zum Beispiel diese Sportgeschichte, die du erwähnt hast, die würde man mindestens zehnmal finden. Bist du da irritiert?

Gumbrecht: Nö, also, erst mal würde ich meinen, bin ich vergleichsweise nicht so schlecht. Ich kann schon ein paar Sachen relativ kompetent. Und das würde ich rein als eine Marktsache sehen. Das mit dem Sportthema ist wahrscheinlich deswegen so, weil es relativ neu ist, so über Sport zu reden. Bredekamp hat das mal in der NZZ in einer Rezension über das Sportbuch geschrieben. Das fand ich natürlich toll von Bredekamp, »so hat noch niemand über Sport geschrieben«, ganz positiv und hyperbolisch gemeint, aber du könntest das ja auch deskriptiv meinen, so über Sport zu reden. Das letzte, was ich zu dem Thema gemacht habe, läuft grade, mit der FIFA und dem DFB im Vorlauf für die Frauenfußball-WM. Ich hab ein ganz langes Interview gegeben, warum ich Frauenfußball heute ästhetisch schöner finde. Um das zu erklären, muss ich ein paar Sachen wieder erklären, die in einem Buch stehen. Wie sollte ich nicht?

I can for example claim and am proud of it, ich hab im Leben noch kein Seminar zweimal gehalten, es gab auch keins mit noch mal demselben Titel. Das bedeutet aber nicht, dass, wenn ich, sagen wir mal, in einem Lyrikseminar nicht Sachen sage, die ich schon gemacht habe. How could I? I get your point, und das ist mir immer etwas peinlich, das ist vielleicht eine gute Antwort, man muss sich aber dran gewöhnen.

Und es ist wichtig, dass das völlig counterproductive ist, wenn man das nicht macht. Denn mich freut es z. B., dass der DFB und grade die Frauen darauf aufmerksam geworden sind, wenn ich da jetzt den Punkt gut machen will und erklären will, warum es Gründe gibt, Frauenfußball heute ästhetisch besser zu finden, muss ich bestimmte Sachen erklären. Und wenn ich die nicht erkläre, weil ich denke, das gibt es ja schon irgendwo, verstehst du, es gibt da so eine gewisse Arroganz, man erklärt das dann nicht mehr. Ich sehe sowas auch bei Kollegen, »das hab ich ja schon in dem Artikel von 1993 geschrieben« oder so, und das geht einfach nicht.

Der Umblätterer: Das klingt ähnlich wie deine Kritik an der Wahrheitsliebe, dieser Drang zur Originalität der Wahrheit: Nur einmal ist man origineller Denker und darf es sein und dann ist die Idee bereits abgetreten.

Gumbrecht: Ich habe, kenne und verstehe den Ehrgeiz. Hayden White hat mal gesagt, das habe ich in »Unsere breite Gegenwart« zitiert, und es gefällt mir unheimlich: »I had but one idea in my life, but hey, most people had none.« Ich würde sagen, das mit der Präsenzsache, that I can claim. There is something that’s made a difference, and that’s associated with me. Ich möchte also nicht mein Leben damit beschließen, dass ich nur noch Präsenz mache, und ich möchte auch nicht dauernd sagen, »Stimmung, ja, das hat mit Präsenz zu tun«. I mean, I can show the genealogy, aber es ist nicht das 27. Präsenzbuch, was ich gemacht habe. Oder »Unsere breite Gegenwart« oder jetzt das Latenzbuch, klar, es ist eine Sequenz, aber ich hab einen Ehrgeiz, dass das schon etwas anderes ist, insofern verstehe ich diesen Druck. Aber ich denke immer, vorauszusetzen, dass alles, was du irgendwo gesagt oder publiziert hast, ja irgendwie available ist und deswegen nicht mehr gesagt werden muss, das funktioniert nicht.

Der Umblätterer: Für einen Feuilletonisten allemal.

Gumbrecht: Ich will noch eine Sache sagen, das ist ein großes Problem bei Dissertationen, weil Leute oft glauben, was sie schon mal gesagt haben oder was schon irgendwo steht, da muss man da nur eine Fußnote machen. Das ist nicht immer gut, du musst manchmal Dinge noch mal schreiben. Dann kann man sagen, also für alles weitere siehe da und da. Aber bei zwei von drei Dissertationen gibt es einen Punkt, wo ich sage, nein, also hier musst du zwei Seiten einfügen, weil ich weiß, was du sagen willst, aber das Argument ist nicht rund, wenn das da nicht steht.

Der Umblätterer: Noch ein paar kurze Fragen.

Gumbrecht: Okay.

Der Umblätterer: Schnellschussfragen.

Gumbrecht: Gut, so was mache ich gern.

Der Umblätterer: Ein Kolloquium mit deinen fünf Wunschgästen – wo und wer?

Gumbrecht: Fünf Wunschgäste … (Es klopft.) Ja?

(Adrian Daub, Assistant Professor of German, der nächste Bürobesucher, kommt herein.)

Gumbrecht: Ein Interview, we are almost in the final stretch. Du kannst dich gern beteiligen. Die Frage war, ein Kolloquium mit fünf Leuten, die ich einladen würde.

Der Umblätterer: Wo und wer.

Gumbrecht: Also, im Humanities Center hier im Sommer, wenn nichts los ist. Wen möchte ich einladen, also Sloterdijk immer, der ist im Kolloquium sehr, sehr gut. Dann vielleicht Harold Bloom, dann noch Martha Nußbaum, ich möchte einladen Adrian Daub und dich.

Adrian Daub: Ich komm auf jeden Fall. (Auf dem Tonband Gelächter.)

Der Umblätterer: Ich will Euch nicht aufhalten.

Gumbrecht: Nein nein, komm, mach, es ist ja Schnellschuss.

Der Umblätterer: Es gäbe auch noch eine ganze Seite mit …

Gumbrecht: Mach kurz Schnellschüsse.

Der Umblätterer: Die nächste hat mit dem Tisch, an dem wir sitzen, zu tun, bzw. mit dem, was auf ihm steht: Dr Pepper oder Coke?

Gumbrecht: Ja, das hat sich geändert, normalerweise Diet Dr Pepper, das ist richtig, in recent for some reason I like Zero Coke, ich bin im Moment in so einer Schnellphase, jetzt habe ich gern das mit Lime, hier, Coke Light Lime.

Adrian Daub: Das überrascht mich jetzt auch ein bisschen.

Gumbrecht: Ja ja, eigentlich Dr Pepper, ich meine, man mag das weiter, ich weiß nicht, eine Übergangsphase.

Der Umblätterer: Du hast einen Jeep Wrangler ’87, richtig?

Gumbrecht: Nee, ’89.

Der Umblätterer: Hast du den gekauft, als du hier angekommen bist?

Gumbrecht: Nee, nicht gleich, da hatte ich kein Geld.

Der Umblätterer: Dann geht die Frage nicht, dann überspringen wir die.

Gumbrecht: Du willst wissen, ob das wirklich wahr ist, dass das aus der Erinnerung an die GIs war, die Väter von meinen Klassenkameraden in der Volksschule waren.

Der Umblätterer: Wahrscheinlich will ich das wissen, ja.

Gumbrecht: Ja, das ist richtig. Unmittelbar als wir ankamen, habe ich kein Geld gehabt.

Der Umblätterer: Dein Anathema?

Gumbrecht: Also ein Thema, über das man überhaupt nicht reden soll? (überlegt) Na ja, da haben wir schon vorhin drüber geredet, wie soll man die Geisteswissenschaften in Zukunft verändern, sozusagen, programmatisch. Das ist okay im Sinn dieses Drifts, dass man nur reagieren kann auf das, was passiert, aber so ein »Das sollen sie eines Tages werden«, das bitte nicht.

»Ich bin auch kein Max-Frisch-Fan
je gewesen.«

Der Umblätterer: Welches der Memorabilia in deinem Büro hast du hier, weil du dachtest, du vergisst vielleicht seine Herkunft und nicht das, was es darstellt oder abbildet.

Gumbrecht: Ja, das ist die Todesanzeige von meinem Mathematiklehrer. Weil, das war immer ganz furchtbar, ich hab mir immer gedacht, dass ich saudumm bin, weil, ich meine, in Mathematik konnte ich nur gut sein, wenn ich auswendig gelernt habe vor den Klassenarbeiten in Bayern. Der hat ganze lange gebraucht, bis er gestorben ist, hatte auch den Namen Wohlleben, und jetzt ist hier die Todesanzeige von Herrn Wohlleben.

Der Umblätterer: (Blick zur Pinnwand.)

Gumbrecht: Das ist nicht nur, aber auch ein memento mori, aber auch ein Hinweis darauf, dass ich vielleicht doch nicht so schlau bin, wenn ich da auf Herrn Wohlleben kucke. Ich hatte wirklich immer einen Albtraum. Ich kann, weil ich so wenig schlafe wahrscheinlich, mich nie an Träume erinnern.

Aber an einen Traum kann ich mich immer erinnern, und der hat damit zu tun, dass ich dann ein ganz glorreiches Matheabitur geschrieben habe. Aber ich habe mir das selber nie zugetraut und die Geschichte ist, ich kann sie kurz erzählen. Also, ich sitze hier, und es kommen so Männer mit grauen Regenmänteln rein und sagen (bayrischer Akzent): »Guten Tag, Herr Professor, wir sind vom bayrischen Kulturministerium und wollten Sie noch mal aufsuchen, denn bevor die Abiturarbeiten von 1966 geshreddet«, wie heißt das auf Deutsch, vernichtet, »vernichtet werden, wolln mia no ma senn, es ist nämlich Zweifel aufgekommen, ob das mit rechten Dingen zugegangen ist mit ihrem Mathematikabitur.«

Und dann haben sie hier das Matheabitur von 1966, und ich sitze hier und komme zunehmend ins Schwitzen, und nach vier Stunden kommen die zurück und sagen: »Ja, gar nix, das ham wir uns gedacht. Würden sie jetzt bitte mit uns zum Präsidenten kommen, weil Sie sind nicht nur kein Professor mehr, Sie sind auch kein Doktor, und Sie haben nicht einmal ein Abitur.« Im besten Fall wache ich dann auf, im schlimmeren Fall wache ich auf, wenn ich bei Hennessy [dem Präsidenten von Stanford] bin, im schlimmsten Fall wache ich auf, wenn ich Ricky [seine Frau] anrufen und ihr erzählen muss, »that’s it«.

Der Umblätterer: Okay, und die letzte Frage: Welche ist die zurzeit in deinem Kopf präsenteste Widmung in einem deiner Bücher, an dich oder nicht an dich.

Gumbrecht (überlegt murmelnd).

Der Umblätterer: Weil ich weiß, die sind alle voller Widmungen, die hier stehen.

Gumbrecht: Ich kann dir das sagen, wenn du die wahre Antwort willst, weil ich grade über Jauß etwas schreibe, und da habe ich natürlich meine ganzen Jauß-Bücher hervorgeholt, und der hat mit seiner Ameisenschrift, die klein aber lesbar war, eine Widmung geschrieben, und ich hätte nicht gedacht, dass das so schlecht ist. In »Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik«, da steht drin, »Für Isa und Hans Uuhlrich …«, langgezogenes U, hat er immer gesagt, der konnte Sepp nicht sagen, weil er irgendwie … »Für Isa …«, Isa war meine erste Freundin, die war Psychiaterin, »Für Isa und Hans Uuhlrich, da hermeneutisch gleichermaßen betroffen – von Ihrem Hans«. Und diese Kombination von first name und Sie und »Isa und Hans Uuhlrich«, und dieses »da hermeneutisch gleichermaßen betroffen«, weil er kapiert, dass der Psychiater auch was mit Hermeneutik zu tun hat, das fand ich sowas von … Das geht mir also leider nicht aus dem Kopf. Ich würde das gern shredden. Ich seh das auch vor mir, da hat er immer dann Hans Robert, und dann so ein ganz langes ›J‹ … na ja, ich muss das, glaube ich, aus dem Buch rausreißen.

Der Umblätterer: Okay, das war’s.

Gumbrecht: Die anderen in meinem Kopf sind jetzt auch alles Jauß-Widmungen. Zur Habilitation hab ich ein klar von ihm schon gelesenes Exemplar des zweiten Bandes von Max Frischs Tagebuch bekommen. »Zum schönen Ereignis vom 20. Juni 19…«, wann war das, »19…74«, den hatte er also schon gelesen gehabt. Ich bin auch kein Max-Frisch-Fan je gewesen. Okay. (Seine Sekretärin Margaret kommt herein, mit Papieren.) Okay, okay.

Okay, okay. Ich gehe ins Freie, um das Eckrund von Pigott Hall herum, quer über den Circle of Death und zu meinem zweiten Morgenkaffee.
 


Verrat an Ernst Jünger?

Leipzig, 3. Dezember 2010, 00:32 | von Paco

Ein Herbstinterview mit Tobias Wimbauer. Über die Jünger-Forschung und Twitter, über Aliens in Sachsen-Anhalt, über Bio­kost und die Popliteratur, und über Anrufe von Rolf Hochhuth

Vor einem Jahr haben wir versucht, das Phänomen Wimbauer zu beschreiben. »Wie aus dem aufsteigenden Ernst-Jünger-Forscher ein twitternder Biokoch wurde«, behaupteten wir, »das ist eine der schärfsten Volten der bundesrepublikanischen Geistesgeschichte.« Und vor drei Wochen, am 13. November, haben wir ihn nun mal besucht, auf dem Waldhof Tiefendorf in Hagen-Berchum.

Trotz neuestem Update des Kartenmaterials versagt das Navi schon früh. Wir haben aber die obligatorische Wegbeschreibung dabei, die Wimbauer jedem schickt, von dem er auch tatsächlich besucht werden will. Sie hat exakt so viele Zeilen wie ein Sonett und schwankt stilistisch zwischen Gebrauchstext und Barocklyrik.

Irgendwann sind wir da. Wir werden begrüßt und mit den 90.000 hier gehorteten Büchern bekannt gemacht. Auch Silvia Stolz-Wimbauer ist da, und sofort beginnt ein Gespräch, das vom »Frühstück«, der ersten Mahlzeit des Tages um 13 Uhr, bis zum Nachtessen dauern wird. Auf der Anrichte liegen die WAZ, die SZ und obenauf die FAZ. Und da fangen wir doch gleich mal damit an.

Jünger-Forschung in Demeter-Schürze

Der Umblätterer: Tobias, nach der exklusiven Vorabrezension der FAZ zu deinem »Burgunderszenen«-Aufsatz und nach deinem Artikel in derselben Zeitung zum Celan-Brief an Jünger dachten wir alle, du würdest der neue investigative Hausautor der »Zeitung für Deutschland«, inklusive jährlichen Interviews zur Lage der Nation. Inzwischen scheinst du vor allem damit beschäftigt zu sein, deinen täglichen Biospeiseplan zu vertwittern. Ist das schriftstellerische Glückseligkeit?

Wimbauer: Alles was in der FAZ von mir kam, hatte ich denen angeboten und es wurde ausnahmslos gedruckt. Aber ich wurde nie ernsthaft nach mehr gefragt. Oder höchstens so verklausuliert, dass ich das nicht gemerkt habe. Aber es war dann auch die Zeit der Feuilletonistik vorbei, das Antiquariat nahm mich mehr und mehr in Beschlag und für Rezensionen und dergleichen blieb kaum Luft.

Der Vergleich mit meinem Abendessentwittern hinkt, denn kochen und essen tu’ ich sowieso. Davon ein Foto mit einem Zweizeiler hochzuladen ist eine Sache von ein paar Sekunden. So fix war meine Artikelproduktion nicht. Schriftstellerische Glückseligkeit stelle ich mir anders vor. Aber wenn Glückseligkeit ist, dass das Leben stimmig sei. Dann ja. Es war zuvor nie so richtig wie in den letzten Jahren. Aber das hat weder mit Essenspics oder der FAZ zu tun.

Der Umblätterer: Einen Scoop gab es ja noch. 2008 folgte, wiederum in der FAZ, die Aufdeckung der »Gärten und Straßen«-Varianten. Jünger hatte eine Version seines Tagebuchs für die Zensur präpariert. Was kommt von dir als Nächstes in Sachen Jünger-Forschung?

Wimbauer: Solche Treffer lassen sich ja nicht unbedingt planen. So etwas wie die »Burgunderszene« entsteht aus einem Aha-Moment heraus, für anderes ist die Zeit einfach richtig. Den Celan-Brief hatte ich schon seit ’97 oder ’98 in der Schublade und hatte ihn ja auch schon in Artikeln zitiert. Dass das dann in der FAZ diskussionsträchtig wurde und auch noch ein – gleichwohl recht schwaches – Buch als Gegenreaktion zeitigte, war freilich nicht abzusehen.

Ähnlich dann bei den »Gärten und Straßen«-Varianten. Ich wüsste noch das ein und andere, das sich gut verpacken und verkaufen ließe, aber im Moment ist mir nicht danach, und zum Teil braucht es noch Zeit, bis es gut durchgegoren und servierfertig ist. Jüngerianisch kommen von mir in nächster Zeit also allenfalls bibliophile Ephemera im Blog, Notizen zu Einbandvarianten und andere Quisquilien. Aber wenn mich etwas anspringt, kann es schon sein, dass ich mal wieder eine Nacht durcharbeite und anderntags einen Artikel fertig habe.

Bilderstrecke

Der Umblätterer: Wie du auf Jünger kamst, hast du ja schon mehrfach geschildert: Ein von Horst Janssen gemaltes Jünger-Porträt hat dich in der Freiburger Buchhandlung zum Wetzstein für sich eingenommen, dann hast du irgendwann das »Tigerlilien«-Stück in der 1938er Fassung des »Abenteuerlichen Herzens« gelesen und peng! Von Haus aus bist du ja aber eher anthroposophisch geprägt, dein Vater ist der einschlägige Autor Herbert Wimbauer. Wie ging das zusammen?

Wimbauer: Ja, ich komme aus einer durchanthroposophisierten Familie. Allerdings mütterlicherseits. Drei Generationen Waldorflehrer, Demeter-Berater, Biodyn-Bauern, Eurythmusen, Beuys-Kumpels. Väterlicherseits ist es nur mein Vater selbst, der einen ziemlichen Stapel anthroposophischer Bücher verfasst und unzählige Vorträge gehalten hat, der allerdings als Autor verstummt ist.

Jünger passt da ganz vortrefflich. Allein sein Blick auf das Wohlgeordnete in der Welt (Jünger nannte das ungefähr: die Einheit im Mannigfaltigen erkennen), das Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte, sei es körperlich (eben nicht der Körper als Maschine, vom Geist getrennt), die Anschauung der Natur und Mitwelt, da sind sich Jünger und die Anthroposophen sehr nahe. Das unter den Anthros bekannteste Jünger-Buch ist übrigens »Lob der Vokale«. Der lautmagische Zugriff passt.

Der Umblätterer: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet insgesamt 23 Publikationen deines Vaters. Die erste ist im einschlägigen Verlag Die Kommenden erschienen, die restlichen im Selbstverlag. Hast du die alle gelesen?

Wimbauer: Nein. Ich habe einzelne gelesen, aber nicht alle. Das hängt damit zusammen, dass ich früher dachte, dass ich sie ohnehin nicht verstehen würde, oder dass mich die Themen zwischenzeitlich nicht interessierten. Und mittlerweile bräuchte ich mehr Distanz, um sie lesen zu können. Außerdem habe ich heute einen eher praktischen Zugang zur Anthroposophie, während er bei meinem Vater rein theoretisch war, ohne praktische Konsequenz für sein Leben. Es sind übrigens mehr Bücher erschienen, als die DNB verzeichnet. Er hat von einigen offensichtlich keine Pflichtexemplare eingereicht.

Wimbauer hat übrigens tatsächlich eine grüne Demeter-Schürze angelegt. Inzwischen serviert er einen Schoko-Marzipan-Kuchen. Und in Abständen hagelt es immer mal wieder indoktrinierende Biofood-Reden. In der Küche hängen Lithografien und Radierungen von Kubin. Auch eine Lithografie von Arno Breker: »Da oben, die hässliche da!«

»Der Waldgegner«

Der Umblätterer: Thomas-Mann-Experten sehen meist auch aus wie Thomas-Mann-Experten. Walter-Benjamin-Forscher sind irgendwann Walter Benjamin. Von einem Ernst-Jünger-Forscher würde man eigentlich erwarten, dass er außer dem »Stahlgewitter«-Autor höchstens noch Gómez Dávila liest und Computer und vor allem Ad-hoc-Medien wie Twitter meidet. Wo ist der Zusammenhang zwischen deinen Verdiensten im EJ-Umfeld und dieser pausenlosen Twitterei? Auf deiner Ersthomepage waldgaenger.de (ein Kommentator nannte sie ja mal »blindgaenger.de«) hast du dich über Jahre vor allem deiner akribisch geführten Bibliografie gewidmet. Diese Textarbeit ist jetzt in alle möglichen Social-Media-Kanäle diffundiert. Eigentlich ja das Gegenteil des Jünger’schen »Waldgangs«.

Wimbauer: Jünger hatte am Internet Freude. Sein letzter Sekretär, Georg Knapp, hat ihm bei sich zu Hause das Netz gezeigt, und Jünger googelte (oder altavistate, oder was man ’96/’97 so machte, da gab es Google ja noch nicht) sich selbst und war kindlich vergnügt an all dem, was er von und über sich sah. Twitter ist das Echolot der Gegenwart, der verehrte Walter Kempowski hätte seine wahre Freude daran gehabt, die ungefilterte Gleichzeitigkeit vom twitternden Afghanistansoldaten bis hin zur Familienfeier in Kleinsonstwasnochhausen. Übrigens, »blindgaenger.de« ist mir neu, wer sagte das denn?

Der Umblätterer: Das haben wir vor geschätzten zehn Jahren mal in deinem Gästebuch gelesen und als in weiten Teilen berechtigt angesehen, hehe.

Wimbauer: Ich hatte mal eine ernsthaft empörte Mail von einem Kunden: Sich »Waldgegner« zu nennen, sei doch unerhört!

Ernst Jünger beim Heckeschneiden

Der Umblätterer: Du zitierst in deinen Texten und Äußerungen häufiger aus deinem Tagebuch. Inzwischen hast du diese täglichen Aufzeichnungen eingestellt. Wann hast du eigentlich damit angefangen und wann und warum damit aufgehört?

Wimbauer: Ich habe mit 18 oder 19 die Tagebücher der Jahre davor gelesen und verbrannt, und das war gut so. Ich habe dann ab dem Monat, in dem ich zur Bundeswehr kam, konstant Tagebuch geführt. Das verebbte erst so 2007, als ich nur noch sporadisch Zeit dafür hatte, weil mich das Antiquariat so in Beschlag nahm. Danach kommen nur noch statistische Notizen.

Der Umblätterer: »Statistische Notizen«? Was soll das sein?

Wimbauer: Stimmt, das klingt jetzt wie ein Werk aus dem OULIPO-Umfeld, ist aber ganz unliterarisch gemeint: Umsatz, Bestandszahlen, Sportzeiten und Gewicht.

Der Umblätterer: Haben Twitter und Facebook, haben deine verschiedenen Blogs das Tagebuch komplett ersetzt? Stilistisch ist das ja ein himmelweiter Unterschied.

Wimbauer: Twitter und Facebook sind kein Tagebuchersatz. Das sind zwei Kommunikationsplattformen für uns, auf denen wir mit Freunden, Lesern und Kunden in Kontakt bleiben. Und wieso reibt ihr euch so an meiner Twitterei, ich hab doch weitaus schlimmere Sachen gemacht.

Der Umblätterer: Richtig! Auf YouTube hüpfst du zu Wagnerklängen mit dem Spaten durch den Rosengarten oder mit dem Kochlöffel in die Küche. Ist das einfach ein »I don’t care« deinerseits, eine Aufforderung zum Fremdschämen?

Wimbauer: Haha. Beides. Vielleicht ein »Fuck you« in Richtung einer bestimmten Erwartungshaltung. Fremdschämen, ja mei, das Rosenhüpfvideo ist schon dämlich, haha. Beides ist eigentlich eine Spätfolge des »Jünger beim Heckeschneiden«-Videos.

Der Umblätterer: Du hattest da euern ehemaligen Nachbarn beim Heckeschneiden gefilmt, und der sah dann am Bildschirm genau wie Jünger aus.

Wimbauer: Das Ganze habe ich dann mit Fragezeichen versehen ins Netz gestellt: »Ernst Jünger beim Heckeschneiden?« Und rasch kamen Mails von zum Teil prominenten Jünger-Spezialisten, dass das ja gar nicht Jünger sein könne, weil es in Wilflingen an der Oberförsterei ja gar keine Rotbuchenhecke gebe. Als ich dann aufklärte, dass das ein Jux war, löste das Heiterkeit aus. So verbissen gehe man an so etwas ran. Als ob es von irgendeiner Relevanz wäre, ein Video zu kennen, in dem Jünger 20 Sekunden lang eine Hecke schneidet.

Aliens in Sachsen-Anhalt

Der Umblätterer: In der SZ hat Marc Felix Serrao neulich berichtet, dass im Zuge der Sarrazin-Debatte ein kleines Heft des neurechten Instituts für Staatspolitik zum Amazon-Bestseller geworden ist. Du hast ja ein paar Monate als Vorstandsmitglied am Institut verbracht, auf einem alten Rittergut in Schnellroda. In der ersten Nacht auf dem Rittergut hast du von Aliens geträumt, die aus Kühlschrankeiern schlüpfen, wie du in deinem Band »Lagebericht« berichtest.

Wimbauer: Dieser Traum ging noch weiter. Die Aliens hatten nämlich prächtige Vaginas im Gesicht.

Der Umblätterer: Was wäre eigentlich, wenn du heute immer noch beim Institut für Staatspolitik wärst?

Wimbauer: Wenn ich heute noch beim IfS wäre? Ich hätte mich auf der Querfurter Platte schon totgesoffen. Vielleicht, keine Ahnung. Es hätte mir jedenfalls nicht gut getan.

Der Umblätterer: Warum bist du eigentlich ursprünglich da hingegangen?

Wimbauer: Da muss ich ein bisschen ausholen. Wir hatten das IfS gerade gegründet, mit dem Arbeitstitel »Reemtsma-Institut von rechts«, die von mir benachwortete Ausgabe von Mohlers Jünger-Buch »Die Schleife« war eben bei Antaios erschienen, soweit also die äußere Lage.

In Freiburg war ich völlig im Eimer. Die Universität machte mich halb irre, es ist nicht so angenehm, in Riesenvorlesungen zu sitzen und seinen Soziophobien nachzuhängen. Da gab’s von mir mehr Vermeidungsstrategien als Stundenplan. Ich konnte damals nicht damit umgehen und habe in der Regel destruktiv reagiert, und es war ein Nullpunkt erreicht gewesen. Ich musste mir auch eine neue Wohnung suchen, und das ist in Freiburg eine teure Sache.

Das Studium zu schmeißen, war rasch entschieden (und damit ging es mir richtig gut). Ich hatte mich dann in Berlin bei der »Jungen Freiheit« als Redakteur beworben und gleichzeitig mit Götz Kubitschek über eine Perspektive in Verlag und Institut gesprochen. Er redete mir die JF aus, und so zog ich nach Schnellroda.

Der Umblätterer: Wieso bist du dann recht schnell wieder da weg?

Wimbauer: Aus unterschiedlichen Gründen. Es war zunächst mal schwierig, aus einer, sagen wir mal: Freundschaft auf Augenhöhe in ein Arbeitsverhältnis zu treten. Und als sich dann irgendwann die Frage stellte, ob Silvia ihre Arbeit in Hagen aufgeben und nach Schnellroda ziehen soll, wo, freundlich formuliert: der Arbeitsmarkt überschaubar ist, oder ob ich nach Westfalen zu ihr ziehe, war das rasch entschieden.

Der Umblätterer: Was hast du damals erwartet beim Umzug nach Sachsen-Anhalt?

Wimbauer: Erst mal weg von Freiburg. Ich hab das vor anderthalb Jahren im Blog mal formuliert: »Auf der Suche nach ein/zwei Daten in alten Tagebüchern festgelesen, die Bände 1998 bis 2001 quergeblättert. Das Gesuchte nicht gefunden, viel aber wiedererkannt und mit einem Frösteln fremd gefunden. Diese merkwürdigen Freiburger Zustände, die vielen Fragezeichen, das Blindtasten, die Unruhe. So sehr mein Herz an Freiburg hing, so froh war ich, als ich die Kisten packte und mit einem gemieteten klapperigen LKW mit all den Büchern und Habseln aufbrach.« Die Frage nach der Erwartung muss ich also mit einer Richtung beantworten: nicht zu etwas hin, sondern von etwas weg.

»Sein altes Vorurteil gegen Schiller«

Der Umblätterer: Gunther Nickel hat ja seine Besprechung der Neuausgabe des »Personenregisters« verbunden mit dem Vorwurf »erheblicher Wissensdefizite« und dem Ratschlag: »Vielleicht (…) hätte er sein Studium doch besser beenden sollen.«

Wimbauer: Ja, haha.

Der Umblätterer: Du hast dann in Wuppertal einen zweiten Anlauf genommen und eine Weile weiterstudiert, was denn genau?

Wimbauer: Neuere deutsche Literaturwissenschaften, Sprachwissenschaften des Deutschen und Soziologie.

Der Umblätterer: Allerdings wieder nicht bis zum Abschluss. Statt jetzt aber mit einer Suggestivfrage zu kommen: Was fandest du am nicht beendeten Studium richtig gut?

Wimbauer: Das Studium war mir kein Bedürfnis. Ich dachte nur: Wenn ich schon Silvia auf der Tasche liege, kann ich wenigstens einen Doktor machen. Was ich da richtig gut fand? es gab in den Seminaren von Rüdiger Zymner richtig gute Diskussionen, etwa zu Paul Celan. Ich habe bei Klaus Lichtblau und Martin Endreß einige Texte kennen gelernt, die mir nach wie vor welterklärend wichtig sind. Und ich habe mein altes Vorurteil gegen Schiller überwunden, der war mir von der Schule versaut worden, und da las ich alle Dramen wieder – und fand die ziemlich gut.

Der Umblätterer: »Dort überwand er sein altes Vorurteil gegen Schiller«, gute Güte, ein Satz wie aus einer ZDF-Doku.

Wimbauer: Richtig, darunter mach ich’s ja nicht. Übrigens, zur zitierten Besprechung von literaturkritik.de muss ich noch was Lustiges anmerken. Anfangs wurden die Bücher, an denen ich irgendwie mitgewirkt habe, auf literaturkritik.de lückenlos besprochen, zum Teil sehr positiv. Als ich später nicht mehr für die »Junge Freiheit« und ähnliche Organe arbeitete, habe ich dann selbst auf literaturkritik.de publiziert, aber nachdem ich mich in einem Interview von meiner politischen Vergangenheit distanziert hatte und klarstellte, dass ich heute kein Rechter mehr bin, gab es plötzlich auf literaturkritik.de einen Rezensionsstopp.

Der Umblätterer: Kann es nicht sein, dass die das abgelehnt haben, weil du inzwischen selbst Autor bei denen warst?

Wimbauer: Na ja, der »Lagebericht« und die Neuausgaben meiner Jünger-Bücher wurden gegenüber den Rezensenten mit genau dem lustigen Argument abgelehnt, dass ich ja mal Autor der »Jungen Freiheit« war.

Der Umblätterer: Die Gründe für deine frühere Laufbahn hast du ja letztes Jahr im sogenannten »Samenstau-Interview« beschrieben: »Es wäre albern, wenn ich leugnete, dass ich eine Rechtskurve hingelegt habe damals, aber es wäre ebenso albern, das heute noch richtig zu finden. Mit Anfang zwanzig ist die Mischung aus Größenwahn, Samenstau und grandios überzogenem Konto ein politischer Beschleuniger, und mit Anfang zwanzig ist wohl jeder irgendwie radikal, oder nicht?« – Das Ganze findet sich auch umfassend abgebildet in dem Wikipedia-Eintrag über dich. Übrigens ist der Künstler Erik Niedling ein Bewunderer dieses Artikels, wie er uns neulich sagte. Und zwar deshalb, weil man merke, dass du ihn nicht selber geschrieben hast.

Wimbauer: Am Interessantesten ist aber die Diskussionsseite, deren Länge die des eigentlichen Artikels um ein Vielfaches übertrifft.

Wimbauer und die Popliteratur

Der Umblätterer: Dort wird vom Benutzer »Hoch auf einem Baum«, einem Wikipedia-Urgestein, schon sehr früh verwundert festgestellt, dass du eine »gewisse Ader« für Popkultur hast, für Max Goldt und Houellebecq-Gedichte zum Beispiel. Das allgemeine Staunen setzte sich dann fort, als 2008 deine Erzählung »Lagebericht« erschien. Eigentlich hätte man ja etwas Jüngereskes erwartet oder zumindest ein Oswald-Spengler-Zitat als Motto. Stattdessen ist die Story, die locker im Antiquariatsmilieu angesiedelt ist, die reine Kolportage, ohne große sprachliche und stilistische Ambitionen. Dein Protagonist, der Ex-Schöngeist Manuel, gibt sich auf, kündigt alle Verlagsverträge usw., kokst sich die Birne weg und hat, um Angela Merkel zu zitieren, »nicht sehr hilfreiche« Gewalt- und Erotikfantasien.

Wimbauer: Das Buch hat kaum jemanden interessiert. Wir haben 19 Stück mehr verkauft als Gordon Brown von seinem letzten Buch, aber das waren ja auch nur 32 Exemplare. Die Veröffentlichung hatte trotzdem ein paar Folgen. Zwei Menschen, die ich zu meinen engsten Freunden zählte (ich bin mit dem »Freundesbegriff« sparsam umgegangen, seitdem erst recht), sind ziemlich übel über mich hergefallen, warfen mir »Verrat an Jünger« vor und zeterten: »So etwas darf nicht veröffentlicht werden!« und dergleichen mehr.

Das war sehr lehrreich. Beide waren mehr oder minder Förderer und wenigstens einseitig Vertraute, in ständigem Austausch. Im Rückblick sortiert sich das. Es gab dann noch Absurditäten mit schriftlichem Entduzen und anderen Sperenzchen. Das Lustige ist, dass beide all die Texte im Buch schon lange kennen konnten, aber nicht kannten, sie hatten die Privatdrucke und Manuskripte jeweils von mir bekommen. Der eine Bekannte zum Beispiel habe meine literarischen Texte stets weggeworfen, um, wie er wörtlich schrieb, damit »unseren Briefwechsel nicht zu belasten«.

Ich komme aber unterm Strich gut weg: Ich habe zwei Geschäftspartner verloren, die beiden aber einen Freund. Ich habe nicht ergründen können, worin der »Verrat an Jünger« bestand. Dass ich Eigenes publiziere? Schlimmer wäre doch gewesen, ich hätte Erzählungen geschrieben, die im Jünger-Sound raunen würden, so ein Marmorklippenwohlklang wie bei den Parodisten: »Zwischen den Zähnen eine Faser vom Blumenkohl. Brassica oleracea botrytis. Gedanke: So tragen wir alle die Vergangenheit in uns.« Das wäre doch absurd gewesen und peinlich.

Der Umblätterer: Der Rezensent der »Jungen Freiheit« hat dich als Popliteraten beschimpft, und ein Hang zu einem gewissen Anspielungstrash ist ja nicht zu verleugnen, von Böhse-Onkelz-Anklängen über eine Rimbaud-Allusion bis hin zum Schopenhauer-Zitat findet sich ja so einiges an. Und am Ende war alles nur eine Art »Truman Show«. Wenn man es positiv formulierte, wäre das eine Karikierung von Profilierungsversuchen durch Namedropping, und wir hoffen mal, dass das so gewollt war, hehe. Auf jeden Fall ist »Lagebericht« das Gegenteil von Jünger’schem Epigonentum, von dem bei dir offenbar alle und jeder, wir ja auch, ausgegangen sind.

Wimbauer: Nun ja, ich bin keine Litfaßsäule und also geht das mit dem Verrat an Jünger ins Leere. Zumal ich ja nie ein kritikloser Jünger-Propagandist war, obwohl das offensichtlich bei einigen so rübergekommen ist. Eins haben die beiden bei mir jedenfalls versaubeutelt: Mein Begriff von Freundschaft ist völlig desolat geworden. Das verüble ich ihnen ebenso sehr wie all die Energie, die ich in den Austausch gesteckt hatte. Vielleicht eins noch. Über das Europareisebuch von Mark Twain schreibt Helmut Wiemken, Twain schreibe über »Europa, um Europa zu überwinden«. Vielleicht ist das mit meinen Jünger-Studien ja ähnlich. Inzwischen kann ich ihn – nach einem ziemlichen Overkill vor einigen Jahren – aber wieder lesen. Und finde ihn ganz großartig.

Inzwischen ist es Zeit fürs Abendessen geworden: vegetarische Lasagne mit Béchamelsauce. Wimbauer vergisst beim Reden fast die übliche Biofood-Dokumentation und kann nur noch ein Reststück fotografieren. »Jede Hauptmahlzeit wird getwitpict«, sagt er. Wenn einmal ein Bild aus der Foodporn-Kollektion ausbleibe, werde sofort protestiert: »Wo bleibt das Essenspic!«

Der Umblätterer: Als wir vor kurzem begonnen haben, das Drehbuch für einen Dokumentarfilm »Ernst Jünger in Leipzig« zu schreiben, haben wir dich gefragt, ob du eventuell als Experte auftreten würdest. »In den nächsten Jahren komme ich aber wohl kaum nach Leipzig, sodass wir die Idee auf ziemlich später verschieben müssen«, hast du zurückgemailt. Verreist du generell nicht mehr, ist der Waldhof Tiefendorf das Endziel der diogenesischen Suche nach Autarkie?

Wimbauer: Wir verreisen höchst ungern. Es ist meist auch organisatorisch schwierig. Ein paar unserer Katzen müssen mehrmals täglich Medizin bekommen, dazu bedarf’s schon einiger Übung. Dann kostet mich jede Fahrt sonstwohin das Dreifache an Zeit mit Nacharbeit im Antiquariat und es geht eben ganz viel wertvolle Zeit mit Fahrerei flöten, die man mit Arbeit verbringen könnte, oder auch nur einem Spaziergang, mit Rosenschneiden oder, ganz abwegig, mit der Lektüre eines Buches. Hinzu kommt, dass man in Hotels oder Pensionen nie bequem liegt, die Kissen komisch sind, und auf die Qualität der Lebensmittel hat man nur mit Umständen Einfluss. Anders gesagt: Urlaub ist eine Stunde im Garten. Wir fahren einmal im Jahr zum Jünger-Symposium, das reicht. Kleine Ausflüge machen wir: Wir besuchen gern die Konzerte von bestimmten Künstlern, wenn sie in der Gegend sind. Aber nichts, wo wir nicht in derselben Nacht wieder daheim wären.

»Das Mädchen 125«

Der Umblätterer: Um deinen Antworten hier mal ein bisschen die epische Breite zu nehmen: ein paar Moritz-von-Uslar-Lockerungsübungen. Du hast ja auch irgendwo mal erwähnt, dass Uslar dein Lieblingsfeuilletonist ist.

Wimbauer: Ja, hab ich! Weiter!

Der Umblätterer: Zwei Lieblingsfilme?

Wimbauer: »Das Irrlicht« von Louis Malle. »Ein Herz und eine Krone« von William Wyler.

Der Umblätterer: Eine Lieblingsserie?

Wimbauer: »Die Sopranos«. Dabei hab ich wesentliche Erkenntnisse fürs Antiquariatswesen gewonnen.

Der Umblätterer: #CatContent! Wie lauten die Namen eurer sieben Katzen?

Wimbauer: Herr P., Oma Alfred, Robert, Casimir, Harald, Der Deuser, Bruno.

Der Umblätterer: Sind die nach irgendwas geordnet?

Wimbauer: Ja, wie die Bücher: nach Farbe und Größe.

Der Umblätterer: Der beste fiktionale Text von Jünger?

Wimbauer: »Ortners Erzählung«.

Der Umblätterer: Und Silvia, deine Lieblingsbücher von Jünger?

Silvia Stolz-Wimbauer: »In Stahlgewittern«, »Feuer und Blut«, »Auf den Marmorklippen«.

Der Umblätterer: Hilfe! Echt?

Silvia Stolz-Wimbauer: Ja!

Der Umblätterer: Und was geht gar nicht?

Silvia Stolz-Wimbauer: »Eumeswil« finde ich ganz furchtbar.

Der Umblätterer: Tobias, der für dich wichtigste Ernst-Jünger-Forscher?

Wimbauer: Bei Helmut Lethen hatte ich die meisten Aha-Momente.

Der Umblätterer: Dein Lieblingsschreibfehler im ZVAB?

Wimbauer: »Das Mädchen 125«. Auch immer wieder gut ist die Autorangabe »Lenin Riefenstahl«.

Der Umblätterer: Wo wurden die Fotos mit euch und Sibylle Berg aufgenommen?

Wimbauer: Wir kannten uns vom Twittern. Dann waren wir mal in Bochum bei einer Lesung von ihr und saßen danach noch zusammen.

Der Umblätterer: Und worüber habt ihr euch mit ihr unterhalten?

Wimbauer: Über Katzen und vegetarisches Kochen.

Der Umblätterer: FAZ oder SZ?

Wimbauer: Beide.

Der Umblätterer: Das gilt nicht.

Wimbauer: Doch.

Der Umblätterer: Wieso zählst du, wie oft in den Restaurantkritiken von Jürgen Dollase der Begriff »Textur« vorkommt?

Wimbauer: Der »Textur«-Zähler ist eine Hommage an den Autor. Dollase muss das übrigens mitbekommen haben. Einige Zeit war er sehr, sehr sparsam mit der »Textur«. Das hat sich dann aber bald wieder gegeben.

Der Umblätterer: Kennst du einen Ernst-Jünger-Witz?

Wimbauer: Natürlich. Was ist der Unterschied zwischen Jesus und Wilflingen?

Der Umblätterer: Keine Ahnung.

Wimbauer: Wilflingen hatte nur einen Jünger!

Der Umblätterer: Unser erster Jünger-Witz und schon so ein Kracher.

Wimbauer: Noch einen?

Der Umblätterer: Äh, lieber nicht. Erzähl doch stattdessen bitte noch schnell die Anekdote, wie Liselotte Jünger mal sauer auf dich war und zur Strafe Rolf Hochhuth deine Telefonnummer gegeben hat.

»Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier!«

Wimbauer: Ja, Liselotte Jünger war offensichtlich mal böse auf mich. Das kam schon mal vor, nach der Sophie-Ravoux-Geschichte zum Beispiel. Die Scharte hatte ich dann aber mit dem Celan-Brief wieder ausgewetzt. Jedenfalls mutmaße ich das, denn eines schönen Tages, es muss 2000 oder 2001 gewesen sein, klingelte plötzlich das Telefon und Rolf Hochhuth war dran. Ich halte nicht sehr viel von seiner Lyrik und den Dramen, aber es ist doch nicht irgendwer.

Er habe meine Nummer von Liselotte Jünger bekommen, weil er mit drei Jünger-Zitaten nicht weitergekommen sei und ich die sicherlich wisse. Und er finde mein Jünger-Register so toll und habe ein Paket mit Büchern als Dankeschön gepackt, das er mir bald schicken wolle. Das erste Zitat konnte ich ihm aus dem Stegreif sagen, beim zweiten war’s eine Briefstelle von Wolfgang Jünger, die Ernst Jünger in den »Strahlungen« zitiert, und zum dritten sagte ich ihm: »Das klingt nicht nach Jünger, das habe ich nie gehört. Aber ich notiere es mir und wenn ich bei meinen Lektüren darüber stolpere, sende ich Ihnen den Beleg.«

So weit, so gut. Zwei Tage später klingelte das Telefon: »Wimbauer.« – »Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier, haben Sie das dritte Jünger-Zitat gefunden?« – »Ich finde ja nicht, dass das nach Jünger klingt, das habe ich nie gehört. Aber ich notiere es mir und wenn ich bei meinen Lektüren darüber stolpere, sende ich Ihnen den Beleg.« Nach ein paar Tagen wiederholte sich das (»Und, haben Sie das Zitat gefunden?«) und dann bin ich nicht mehr rangegangen, wenn die Nummer von Grenzach-Wyhlen angezeigt wurde.

Ein halbes Jahr später klingelte wieder das Telefon, die Nummer hatte ich nicht mehr präsent und ging also ran: »Wimbauer.« – »Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier, ich bin auf der Suche nach einem Jünger-Zitat!« Und er erzählte mir abermals, wie toll er mein Jünger-Register finden würde und dass er ein Paket mit Büchern für mich dastehen habe. Das Zitat war das von vor einem halben Jahr. Also sagte ich mein Sprüchlein: »Ich finde ja nicht, dass das nach Jünger klingt, das habe ich nie gehört. Aber ich notiere es mir und wenn ich bei meinen Lektüren darüber stolpere, sende ich Ihnen den Beleg«.

Dann kam seine angekündigte Post. Ein Reclamheft mit Hochhuth-Porträt in Goethe-mit-Lorbeerkranz-Manier vorne drauf und einer freundlichen Widmung. Ich zog dann aus Freiburg weg und habe nie wieder von ihm gehört. »Ah, Herr Wimbauer, Hochhuth hier!« ist bei uns aber zum geflügelten Wort geworden. Das zweite Zitat fand ich dann als Motto bei einem seiner Theaterstücke gedruckt. Den gefälschten Freisler-Brief hat er wohl noch bis heute als echtes Dokument in seinen Äußerungen zu Jünger. Nun ja.

Der Umblätterer: Frau Stolz-Wimbauer, Herr Wimbauer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Könnten wir bitte noch etwas von dem Tiramisù haben?

Es geht in den vielen Stunden auch um noch ein paar andere Themen, meist angetrieben durch einen hervorgezückten Band aus den Antiquariatsregalen. Zwischendurch posiert Wimbauer mit gezogener Pistole (einer Röhm RG 9) und dem Band »Tristesse Royale«, der Biowein fließt in Strömen.

Es scheint hier also tatsächlich alles irgendwie zusammenzupassen. Jünger und Twitter. Antiquariat und Popliteratur. Biokost und Stahlgewitter.

Tristesse Royale!
 


Kulturtipp gone mad:
Interview nach dem »Matussek«-Marathon

Münster, 26. Oktober 2010, 19:45 | von Paco

In den vergangenen fünf Monaten hat Philipp Spreckels kontinuierlich jeden Morgen eine Folge »Matussek« gesehen, alle bisherigen 151 Folgen des gefeierten Videoblogs von Spiegel Online, das Matthias Matussek dort seit 2006 betreibt. Gestern trafen wir uns in Münster zu einem Gespräch, im »fyal«, unweit des Doms.

Der Umblätterer: Philipp, die Marathonläufer-kommt-ins-Ziel-Frage: Wie fühlst du dich nach 151 Folgen »Matussek« am Stück?

Spreckels: Geschafft, aber glücklich. Wobei nun der Entzug einsetzt, weil ich auf dem Ist-Stand bin und so schnell keine neuen Folgen nachkommen. Das ist ja immer so nach solchen extremen Serien-Erfahrungen. Als ich damals in kürzester Zeit alle Altfolgen von »Battlestar Galactica« aufgeholt hatte oder neulich »Mad Men«, stand ich vor demselben Problem: Ich musste auf die Fortsetzung plötzlich warten. Beeil dich mal, Matussek, wann kommt endlich Folge 152!

Der Umblätterer: Wieso hast du dir eigentlich systematisch alle »Matussek«-Folgen gegeben?

Spreckels: Morgens beim Kaffee lese ich normalerweise SPON und andere News-Seiten, auch Blogs usw. Am besten passen zum Frühstück aber kurze Videos, und »Matussek« ist da eine gute Sache, weil die Folgen nicht zu lange dauern, vier, fünf, sechs Minuten. Ich bin keiner, der sich morgens 50 Minuten lang eine Folge »Mad Men« ansieht. Auf die Idee kam ich übrigens, als ich bei euch auf den »Matussek«-Episodenführer gestoßen bin. SPON selbst ist ja in Sachen »Matussek« nicht so gut sortiert, die haben da nur diesen endlosen ungeordneten Feed, in dem auch mal Folgen fehlen.

Der Umblätterer: Es hat mir sofort eingeleuchtet, alle Episoden chronologisch nacheinander ansehen zu wollen. Matussek beginnt ja irgendwann, wiederkehrende Elemente einzuführen. Beim Wandern im Harz sammelt er das »Ding« auf, dieses unförmige geklöppelte Etwas, das er dann als Figur behandelt und immer mal wieder aufkreuzen lässt. Leider wurde das »Ding« später auf mysteriöse Weise entführt und ist bis heute verschollen.

Spreckels: Nicht zu vergessen das Handpuppenensemble: Goethe und Mephisto. Das sind tatsächlich handelnde Personen, erst die machen aus dem Videoblog eine Fortsetzungsserie.

Der Umblätterer: Man könnte eine ganze »Matussek«-Mythologie aufstellen, unter Umständen reichte das dann sogar für eine mittelgute Masterarbeit.

Spreckels: Genau, das ist fast vergleichbar mit »Harry Potter« oder Fantasyromanen. Matussek erweitert die Welt, wie wir sie kennen, um eine neue Realität, in der Blogger die Stars sind. Das sind quasi alles Elemente, die sich bisher in unserer Welt versteckt gehalten haben, und auf einmal tritt die unheimliche Fiktivfirma Blogging Enterprises Inc. auf. Ganz langsam entfernt sich die ursprüngliche Realität immer mehr in Richtung Fantasy, bis es komplett abdreht und Goethe auf einmal Kanzlerkandidat ist.

Der Umblätterer: Und Blogging Enterprises bricht wegen der Finanzkrise an der Börse ein. Die Storys werden immer angetrieben durch ausgewählte Ereignisse des Weltgeschehens. Matussek hat ja einen Pool an Lieblingsthemen, an denen er sich zuvörderst abarbeitet. Er hat sich als nachweislich verrücktester Kulturkonservativer und katholischster Comedian Deutschlands etabliert und bespielt seine ureigenen Themen auf ganz hohem Eigentlichkeitsniveau.

Spreckels: Ja, die erste Debatte um Sarrazin zum Beispiel, Oktober 2009, das »Lettre«-Interview, die »Kopftuchmädchen«, das war ja medial dann nach ein paar Tagen ziemlich abgegrast, bei ihm kommt es noch wochenlang an vorderster Blogfront vor.

Der Umblätterer: Das sind die Episoden mit Hasan Cobanli, dem er zum Beispiel zeigt, wie man richtig Weihnachten feiert (»Advent mit dem Kopftuchtürken«, Folge 135).

Spreckels: Das ist einfach sehr gut, auch der von Matussek immer wieder ehrerbietig angesprochene Hasan mit seinem perfekten deutschtürkischen Singsang. Gleich zu Anfang fragt er Matussek: »Darf ich dü zu dir sagen?« Als jetzt diese neue Sarrazin-Debatte begann, war ich übrigens mit dem »Matussek«-Schauen gerade bei der alten Sarrazin-Debatte angekommen, das passte zufällig ganz genau, ein schöner Spiegelungseffekt.

Der Umblätterer: Könntest du dir eine »Matussek«-Edition auf DVD vorstellen? Wenn man jetzt mal von fünf Minuten durchschnittlicher Folgenlänge ausgeht, wären das bis jetzt ca. 750 Minuten Material, also zwölfeinhalb Stunden Kulturgeschichte und Entertainment 2006–2010.

Spreckels: Ja, unbedingt. Ich wäre in dem Fall auch für Bonusmaterial, das ein paar Aspekte des »Matussek«-Universums näher beleuchtet, ich will Making-ofs.

Der Umblätterer: Das Making-of ist doch eigentlich schon drin in jeder »Matussek«-Episode.

Spreckels: Vielleicht, ja. Aber ich will auch bisher offene Fragen beantwortet haben: Wer war eigentlich dieser Goethe?

Der Umblätterer: Hehe, genau. Das komplette »Matussek«-DVD-Set wäre übrigens schon jetzt bedeutend länger als das legendäre achtstündige »Abécédaire« von Deleuze und dabei mindestens auf dieselbe mythologische Art komisch. Dabei hat das Ganze ja unter dem langweiligsten aller vorstellbaren Genretitel angefangen, als »Kulturtipp«. Es hieß ja lange noch so, dabei war es schon bald eher Kulturtipp gone mad.

Spreckels: Früher habe ich beim SPON-Surfen die Hinweise auf »Matusseks Kulturtipp« immer ausgeblendet. Gute Güte, »Kulturtipp«! Du klickunwürdigstes aller Worte! Irgendwann hat mich dann ein Freund beschwört: Kuck es trotzdem! Dem hab ich dann nachgegeben.

Der Umblätterer: Die Überschreitung des »Kulturtipp«-Genres beginnt ja so richtig erst nach Matusseks Demission als Kulturchef des »Spiegels«, Anfang Dezember 2007.

Spreckels: Der große Eklat. Und die bange Frage: Was wird aus dem Videoblog? In der Folge direkt nach der Entlassung war er dann mit Hellmuth Karasek in der »Spiegel«-Kantine und hat Spiegeleier gebraten. (»Matussek kocht!«, Folge 57)

Der Umblätterer: Ja, es ging weiter, das Videoblog war und ist sein Pakt mit der Öffentlichkeit. Ein Glück. Es gibt nichts Vergleichbares, das haben auch die Konkurrenten eingesehen.

Spreckels: Genau, in der Folge kurz vor Weihnachten 2009 kommen sie alle zu ihm, zum Treffen der »Anonymen Blogger«: Kai Diekmann, Harald Martenstein, Alan Posener. (»Das Bloggen ruiniert meine Ehe«, Folge 136)

Der Umblätterer: Vor zweieinhalb Wochen lief übrigens die 150. Folge. Im Gegensatz zur 50. und 100. wurde die nicht extra gefeiert, was ist da los?

Spreckels: Tja, schade, so ein Jubiläum auszulassen. Aber vielleicht ist die Message: Ich muss kein Jubiläum mehr feiern, jede Folge ist ein Event.

Der Umblätterer: Die Jubiläen sind ja auch immer ganz plötzlich da. Manchmal kam wochen- oder sogar monatelang keine neue Folge, und dann ging es weiter, als ob nichts gewesen wäre, und wieder waren 50 Folgen um.

Spreckels: Nach der langen Pause Anfang 2009, vier Monate kein »Matussek«, dachte ich bei der ersten Neufolge, das sei jetzt ein Schauspieler, der Matussek spielt. Für mich gab es diese zeitliche Unterbrechung ja nicht, und auf einmal war es wie wenn man einem Bekannten begegnet, den man fünf Jahre nicht gesehen hat, er sah ganz anders aus.

Der Umblätterer: Das wäre jetzt was für den Kommentartrack der DVD.

Spreckels: Ich hätte da noch eine Sache, die dringend kommentiert werden müsste. Und zwar scheint im SPON-Archiv eine Folge gelöscht worden zu sein, man kann sie sich nicht mehr ansehen, Folge 104: »Die Schlacht der Giganten – Teil 2«.

Der Umblätterer: Stimmt, der Link ist tot. Das war übrigens wieder eine Folge mit Michel Friedman als Diskussionspartner. Und jetzt ist das Video »nicht mehr verfügbar«, ohne Angabe von Gründen. Ich hatte Matussek deswegen auch mal gefragt, als Antwort kam eine lange, sehr poetische Mail mit naturgewaltigen Schilderungen jüngster Erlebnisse, ein Ablenkungsmanöver. Die Frage ist also: Wieso schweigt Matussek?

Spreckels: Ja, wieso schweigt Matussek? Rein zufällig scheint irgendeine Folge offline zu sein, so weit, so normal, aber im Hintergrund lauert der Skandal.

Der Umblätterer: Was machst du eigentlich jetzt nach deinem »Matussek«-Marathon?

Spreckels: Das ist die Frage. Es herrscht eine große Leere.

Philipp Spreckels, 25, studiert Geschichte in Münster. Er betreibt die Blogs Epenschmiede und philippspreckels.wordpress.com und ist Mitarbei­ter des Radiomagazins Q History.