Archiv des Themenkreises ›Deutschlandfunk‹


Was vom Tage 1 übrig blieb:
MalinaStories, Barmbek

Hamburg, 1. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 6:30 Uhr.

Los geht’s.

🎶 Maria Antonietta: Abitudini

Wer Malina heißt, muss natürlich hier gewesen sein:

MalinaStories
Hellbrookstraße 61
(Barmbek)

Dort viele Karenzkolleg*innen mit noch kleineren Babys bei relativ üppigen Donnerstagsfrühstücks.

Espresso: €2,30.

Alles hyggelig vintage, mit der Tasse kommt ein kleiner güldener Löffel.

Ich hab 30 Minuten und lese erst mal das Exklusivinterview mit Franca Lehfeldt in der heute erschienenen ZEIT (Ausgabe 36/2022), nicht aus Interesse, sondern weil ich die ZEIT mal wieder von vorn nach hinten durchblättern möchte, und das Interview steht auf Seite 3.

Auf einer Schaukel am Schwalbenplatz schläfrig geschwungen.

Auf dem Wochenmarkt Hartzloh lachen knackfrische Delbarestivale in alle Richtungen.

Mittagsschlafphase eingeläutet mit der Arie »Schafe können sicher weiden« aus Bachs Jagdkantate, uraufgeführt 1713 im Jägerhof zu Weißenfels.

Schnell weiter lesen. In der heutigen SZ ein Interview mit Theresia zu ihrem neuen Roman »Auf See«, darin die interessante Frage: »Was ist denn eigentlich der Weltuntergang? […] Wo findet er statt und vor allem für wen?«

17:30 Essen kochen, im Hintergrund »Kultur heute«, ein paar Fetzen zur Donatello-Ausstellung in der Berliner Gemäldegalerie schaffen es durch das Küchengeklimper. Donatello, Erschaffer des Gattamelata! »The uncrowned king of the equestrian statue«, wie man in BBC-Englisch hinzufügen könnte.

🎶 Albrecht Schrader: Die Zukunft liegt verborgen

Dann White Noise und Schlafen, das ist erst mal alles.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2015

Buenos Aires, 12. Januar 2016, 14:10 | von Paco

»I told you last time it was the last time.«
(Michael Dudikoff, »American Ninja 4«)

Lo and behold! Nach der runden 10. Verleihung unseres Feuilletonpreises »Goldener Maulwurf« im letzten Jahr sollte ja eigentlich Schluss sein. Aber wie bei abgelaufenen britischen Staffeln oder Serien auch immer noch so eine Weihnachtsfolge nachkommt, gibt es hier noch einen 11. Goldenen Maulwurf, und zwar mit allem üblichen Tsching­de­ras­sa­bum! Die Wahrheit ist aber, dass das deutschsprachige Feuilleton des abgelaufenen Jahres 2015 wieder so skandalös gut war, eben immer noch das beste der Welt, dass wir nicht umhin kamen, wieder unseren Goldpokal springen zu lassen. Und der wurde diesmal sogar charakterstark redesignt und sieht so aus (tausend Dank an Ruth!):

Der 11. Goldene Maulwurf

Nicht nur, weil in Buenos Aires grad Hochsommer ist, herrschte wieder allerbeste Laune bei den Jurysitzungen. Und diesmal war die Bestimmung des Gewinners oder der Gewinnerin des 11. und endgültig letzten Maulwurfsgoldes intern auch nicht so umstritten wie in den Jahren zuvor. Nun: Der Gewinner und letzte Preisträger ist: Fabian Wolff. *tsching­de­ras­sa­bumbumbum* Sein zur Jahresmitte auf »ZEIT Online« erschienener Artikel »Oh, Tolstoi ist im Fernsehen« über und gegen den TV-Serien-Hype des Bildungsbürgertums ist ein solcher Wahnsinnshammertext.

Die anderen Texte sind natürlich auch Gold (und wie immer angeblich nicht gerankt, hehe), hier also die vollständigen Feuilleton-Charts mit den 10 besten Artikeln aus den Feuilletons des Jahres 2015:

1. Fabian Wolff (Zeit)
2. Katharina Link (stern)
3. Katja Lange-Müller (SZ-Magazin)
4. Jan Böhmermann / Andreas Rosenfelder (Facebook / Welt)
5. Regina von Flemming (Russkij Pioner)
6. Peer Schmitt (junge Welt)
7. Clemens Setz (SZ)
8. Andreas Platthaus (FAZ)
9. Botho Strauß (Spiegel)
10. Stephan Hebel (FR)

Ihr könnt auch gleich auf die ganze Seite mit den Laudationes klicken. (Die Schlussredaktion lag bei Josik und mir.)

Und nun ist es also endgültig vorbei mit den goldgewandeten Maulwürfen, jippie! Anlässlich des Feuilletonjahrs 2005 nahm der Golden Mole mit einem Stephan seinen Anfang (der Siegertext von damals ist immer noch superst zu lesen). Und nun nimmt er mit einem Stephan sein Ende, Kreis geschlossen. Demnächst kommt noch ein bisschen mehr Feuilletonstatistik nach.

Para siempre jamás,
Paco
im Auftrag des
–Consortii Feuilletonorum Insaniaeque–
 


Ende der Berichterstattung

Berlin, 16. März 2015, 00:46 | von Josik

Man läuft einfach von zuhause aus zum Funkhaus von Deutschlandradio Kultur und landet dann beim Gespräch mit Matthias Dell nach ungefähr drei Sätzen irgendwie gleich bei Helmut Böttiger. Der hat nämlich vor ein paar Tagen ein herrliches Zitat von damals rausgehauen, aus den Siebzigern oder so, als die Feuilletonchefs sich auch von ihren Chefredakteuren nicht haben hineinreden lassen: »Da gab es auch die Parole ›Redigieren ist Faschismus‹.« Die riesigen Lettern dieser Parole sind inzwischen aber offenbar wieder von den Wänden der meisten Feuilletonredaktionen abgenommen worden.

Danach haben wir noch ein paar Namen gedroppt, die im strengen Sinn eigentlich nichts miteinander zu tun haben, z. B. Christian Wulff und Ulrich Matthes (oder Bernd Matthies), weiß der Himmel, wie wir auf die nun wieder gekommen sind. Und dann kam auch schon Christine Watty um die Ecke gebogen, es ging treppab treppauf durch irgendwelche Labyrinthe bis ins Studio Nummer soundsoviel. Und um es kurz zu machen: Unser Gespräch über Raddatz kann man noch mal als mp3 nachhören, außerdem stand am 1. März unser FJR-Nachruf in der FAS, und hier sind noch mal unsere groooßen FJR-Festwochen. Und damit beendet der Umblätterer nun also seine langwierige Raddatz-Berichterstattung, herzlichen Dank.
 


Feuilletonpressegespräch

Göttingen, 14. Oktober 2014, 15:10 | von Paco

Wie schon Harald Staun in der FAS vom 29. Juni 2014, S. 40, schrieb: »Das Radiofeuilleton im Deutschlandradio Kultur, das nach seiner Programmreform seit Montag nicht mehr zu hören ist, muss mit sofortiger Wirkung wieder eingeführt werden. Sonst.«

Ja, sonst. Das gilt insbesondere für das »Feuilletonpressegespräch«, das bis inklusive 19. Juni 2014 immer nach den 10-Uhr-Nachrichten lief, also um ca. 10:07 Uhr. Doch von nun an: Kein vor Feuilletonlust schnaufender und schmatzender Jens Jessen mehr! Kein gestochen scharf kommentierender Andreas Platthaus mehr! Kein Peter Korfmacher mehr mit Neuem und Altem aus Leipziger Oper und Gewandhaus! Kein Adrian Prechtel mehr mit seinem »Servus aus München« für die gute Laune! Letzter Gesprächspartner war an besagtem 19. Juni vor knapp vier Monaten Andreas Fanizadeh von der taz.

In diesen speziellen morgendlichen Telefongesprächen ging es immer um das Feuilleton als Gesamtzusammenhang. Die »Zeit«, die FAZ, die »Süddeutsche«, die »Welt«, der »Spiegel«, der »Tagesspiegel«, die LVZ, die taz, die Münchner »Abendzeitung«. Ab und zu Luxusformate wie »Sinn und Form« oder »Das Gedicht«. Kurz den Aufmacher durchsprechen, dann ein bisschen umblättern und noch ein, zwei weitere Artikel anreißen.

Dieser Gesamtzusammenhang, das Feuilleton als breite Gegenwart, als täglich neu verfasster Großroman, bildet sich in der gedruckten Zeitung aber nicht mehr unbedingt ab, die rasante technologie­getriebene Diversifizierung lässt sich thematisch, stilistisch und personell einfach nicht mehr komplett auffangen und abbilden. Das hat jetzt nichts mit der Programmreform beim Deutschlandradio zu tun.

Da ist es auch lächerlich, einen der wirklich erbosten verwunderten Hörer besänftigen zu wollen mit so einer Antwort: »Das Feuilletonpressegespräch wird es weiter geben – künftig in der Sendung ›Kompressor‹ (montags bis freitags von 14.00 bis 15.00 Uhr), allerdings nicht mehr täglich, sondern 2–3mal pro Woche in der Rubrik ›Das Lesen der Anderen‹.«

Nun, 14 bis 15 Uhr ist wirklich keine Zeitungszeit. Vom schrecklichen Titel des Schrumpfformats ganz zu schweigen. Dagegen ›Feuilletonpressegespräch‹, so ein grauslig-schönes doppelfranzösisch-deutsches Kompositum!
 


Zur FAS vom 21. September 2014:
Besuch in der Redaktion!

Berlin, 26. September 2014, 19:07 | von Paco

Wir saßen oben in der Kantine vom Deutschlandradio Kultur am Hans-Rosenthal-Platz, es gab einmal Pommes Weltkrieg für alle (Ketchup, Mayo, Senf) und Göttke sagte, dass ihr schlecht werde vom SZ lesen. Also jetzt nicht schlecht wegen der Inhalte oder Schreibe, sondern wegen der kleinen Schrift und dem geringen Durchschuss, das ergebe so Moiré-Effekte beim Draufkucken und davon werde ihr eben schlecht und deshalb lese sie wieder mehr FAZ im Besonderen und die FAS im Speziellen.

Diese Einzelmeinung ließen wir alle nicht unkommentiert und sprachen dann doch auch weiter über die SZ und da jetzt auch über Nico Fried, denn der schreibt doch super Sachen in letzter Zeit und wahrscheinlich auch schon davor, und Montúfar meinte, er wolle bald einen schwärmerischen Aufsatz über Nico Fried verfassen, und darauf müssen wir nun eben warten.

Eigentlich wollte ich aber etwas anderes erzählen. Nämlich ich war am Wochenende auf eine Hochzeit in Weimar eingeladen, Weimar-Blankenese sozusagen, und in der Zubringerregionalbahn hatte nun wiederum ich mal wieder zwei Stunden Zeit, das FAS-Feuilleton als integralen Gesamttext komplett zu textminen. Wobei ich in dieser Bahn aus Platzgründen neben einer stark tätowierten Internetbloggerin sitzen musste, die auf ihrem 18"-Laptop Blogeinträge las, die sie für den Offlinegebrauch gespeichert hatte und nun einzeln in den Firefox reinlud. Die nicht geladenen Grafiken und JavaScripte erzeugten diese typischen Fehlerartefakte, bei deren Anblick man sofort erschrickt, weil man denkt, dass plötzlich das Internet wieder abgeschafft wurde, und ich musste aber auch aus beruflichen Gründen ständig wieder heimlich auf ihren Screen lugen und versuchte dabei, ihre verschiedenen Special Interests zu erraten.

Nach einer Weile schlug ich dann doch lieber vorsichtig die FAS auf. Das ging trotz der Kleinraumbüroatmosphäre ganz gut und dann ging es auch für mich los. Und passenderweise wurden Josik und ich gerade für diese Woche in die Berliner Mittelstraße eingeladen, um bei der FAS Blattkritik zu üben, also umkreiste ich auch Stellen mit einem Stift, den mir die Internetbloggerin dankenswerterweise auslieh. Inzwischen schaute sie auch rüber zu mir und freute sich so über die Bilder in der FAS, dass ich ihr am Ende die Zeitung einfach komplett und inklusive meiner weiträumigen Anstreichungen da ließ. Die maßgeblichen Stellen hatten sich sowieso in mein Hirn gebrannt.

Tigersprung von 99423 Weimar nach 10117 Berlin und in die Mittelstraße 2–4. Am Fahrstuhl, mit dem man dort nach oben und später wieder nach unten fährt, erwartete uns Volker Weidermann. Und das ist das Schöne, dass man gleich zum Beispiel begeistert über die dreibändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Rudolf und Marie Luise Borchardt reden kann. Dies ist ein guter Ort, dachte ich sofort, im selben Tonfall dachte ich das, wie Joachim Gauck einmal sagte: »Dies ist ein gutes Deutschland.«

Und so ging es weiter, zumindest am Anfang der Redaktionssitzung. Claudius Seidl äußerte sich angenehm aufgebracht zur angeblich letzten Raddatz-Kolumne in der »Literarischen Welt« und verriet uns dann noch die geheimen Entstehungsbedingungen der »Suada« (vgl. »Die Suada der FAS ist so was wie Der Umblätterer in gut.«), die natürlich wieder in der aufkommenden Buchmessenbeilage erscheinen wird. Dann lachten wir mit Cord Riechelmann über eine Stelle aus der Wochenzeitung »der Freitag«, über die wir bald noch Näheres berichten werden. Und dann wurden wir gebeten, Blattkritik zu üben, und da Claudius Seidl ein Exemplar des aktuellen Feuilletons via Volker Weidermann und Harald Staun zu mir spielte, war ich nun dran, und das klang ungefähr so:

Okay, der Opener, Helene Hegemann über »Romeo & Julia« am Hamburger Thalia Theater mit der boah-ey-Überschrift: »Warum haut mich dieser Abend so um?« Als Nächstes schreibt die Hegemannfrau wahrscheinlich für heftig.co, aber das soll gar nicht kritisch gemeint sein, denn das liest sich trotzdem schön weg, und wenn die Textstelle kommt »Fortsetzung auf Seite 42«, dann liest man sofort am angegebenen Ort weiter!

Auf Feuilletonseite 2 hier dann also Harald Stauns Interview mit diesen vier ost-west-südlichen Schriftstellern: mit Junot Díaz, Pankaj Mishra, Priya Basil und Dinaw Mengestu, von denen Ersterer den längsten Wikipedia-Artikel hat. Es geht in dem Zehn-Augen-Gespräch ja um den Westen, meinen und deinen Westen, um den problematischen Ruf dieser kapitalistischen Himmelsrichtung, na ja, aber super.

Dann nächste Seite Andreas Kilb über Christian Petzolds »Phoenix«, super. Und Volker Weidermann über Botho Strauß‘ neuen Hundertseiter »Herkunft«, in dem es so offen um dessen Vater zu gehen scheint, dass man sich wie ein »Leser-Stalker« vorkomme, super. Und Antonia Baum über Celo & Abdi, ähnlich angelegt wie neulich Olli Schulz‘ Besuch bei Haftbefehl, aber in der poetischen Ausführung viel besser als Schulz.

(Antonia Baum hat auch mal eine Reportage gemacht: »Der Kampf gegen Paco«, deswegen wollte ich mit meinem Lob vorsichtig sein, konnte dann aber nicht mehr an mich halten.)

Weiter, Boris Pofallas Bericht von der Berlin Art Week, genau so muss so was klingen, das konkrete Ungefähre so eines Rundgangs summt an jeder Stelle aus dem Text, super. Und ich hab dann sogar die Anzeigen-Sonderveröffentlichung mitgelesen, wo hier ein Interview drin ist über Selfpublishing, mit Wolfgang Tischer, den ich noch von ganz früher kenne, Neunziger, Mailingliste Netzliteratur. Oh, hab ich da gedacht, aha. Dann hier Julia Enckes Interview mit Ulrich Raulff über die Siebziger, und alles, was Raulff da so gesagt hat, hat sich aufs Schönste mit all dem vermischt, was ich während der letzten 15 oder so Jahre noch so alles von Raulff gelesen und gehört habe.

Dann Cord Riechelmanns Text über die jüngsten Bewegtbilder von Michel Houellebecq, wo ja der schöne Satz drinsteht: »In Frankreich hat man einfach mehr Erfahrungen im Umgang mit den derangierten Körpern von Intellektuellen.«

(Und ich erwähnte noch das Tom-Schilling-Interview von Julia Schaaf, das aber im Ressort »Leben« stattgefunden hat. Jedenfalls lässt dort der bekannte Schauspieler seinem Hass auf Comics jeglicher Art freien Lauf, was auch sofort eine DPA-Meldung nach sich zog, super.)

Und jedenfalls lobten und affirmierten wir, wie es der Grundsatz des Umblätterers immer gewesen ist, und dann waren wir fertig und alle konsterniert. Das war wahrscheinlich keine Blattkritik, sondern eine Blattaffirmation.

Und wo Danilo Scholz neulich in Sachen FAS schrieb: »Der Sommer ist vorbei, das tut dem Feuilleton gut«, da müssen wir natürlich widersprechen, denn wie der Umblätterer ja seit Jahren nachweist, ist das deutschsprachige Feuilleton immer genau gleich gut. Aber das half jetzt hier niemandem weiter, und die Ödön-von-Horváth’sche Stille, die da eintrat, wurde dankenswerterweise irgendwann durchbrochen, als Johanna Adorján souverän das Thema wechselte und Josik fragte, ob er aus dem Kosovo stammt (was ich selbst seit langem vermute).

Und da wir anlässlich der Fernsehprogrammseite nach Stefan Niggemeier gefragt hatten, wurde uns noch angeboten, ihm etwas auszurichten, was wir aber sofort und unmissverständlich ablehnten. »Richten Sie bitte Stefan Niggemeier nichts aus!« Das sollte wie die Sympathiebekundung klingen, als die sie gemeint war, denn wieso sollte man jemanden, den man so gut findet, mit ausgerichteten Nachrichten nerven wollen. Es kam aber möglicherweise sehr falsch rüber.

Also, um das alles mal zusammenzufassen: Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder zu einer FAS-Redaktionssitzung eingeladen werden.
 


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 23):
»Nizza – mon amour« (2010)

Berlin, 23. Dezember 2013, 08:10 | von Göttke

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 102)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Als ich gestern Abend bei IKEA an der Kasse stand, rannte ein etwa zehnjähriges Mädchen mit französischem Zopf spontan und schnell auf ihren kleineren Bruder zu. »Ich schneck‘ dich jetzt ab!«, rief sie dabei zwei Mal. Während der kleine Junge durch die Luft flog, zauberte mir das »schneck‘ dich jetzt ab« ein Lächeln auf mein genervtes Kassen-Ansteh-Gesicht. Denn, das bringen die Fritz-J.-Raddatz-Festwochen nun einmal mit sich, mir fiel das Radiointerview zwischen Denis Scheck und Fritz J. Raddatz ein, gesendet am 30. August 2011 um 16:10 Uhr im Deutschlandfunk.

Befragt nach seiner schrecklichen Kindheit, antwortete Fritz J. Raddatz da, dass er sich »in fremde, andere Welten, in Gebäude, in Seele und Geist hineinschnecken« könne. »Wie ein Wurm sich in den Apfel hinein bohrt.« Leider weist Denis Scheck sogleich harsch und unterbrecherisch auf Raddatz‘ stellvertretende Verlagsleitertätigkeit mit Anfang 20 hin und lässt ihn das Bild vom »Sich-Hinein-Schnecken« und »Sich-Hinein-Bohren« nicht superlativisch zu Ende ausführen.

Nun gut. Auf nach Nizza. Ab in Raddatz‘ Winter-Cocoon, ins Schmetterlingsmuseum (S. 15), ins Chagall-Museum (S. 17), ins Hotel »Negresco« (S. 21). »Dabei bietet Nizza dem mußevollen Flaneur so unendlich viel Schönes, jene ›Verzückungsspitze der Welt‹«. (S. 26) »Schließlich ist die Stadt ihr eigenes Freilichtmuseum, öffnet dem Bummelnden immer neue Perspektiven.« (S. 89)

Nizza ist so ganz anders als IKEA. Und während ich mich nun in mein aufgewärmtes Essen von gestern wühle, denke ich, wie viel ugandische Schule sich wohl aus diesem schwedischen Hackklöpschen ergäbe, wenn an Raddatz‘ nizzardischer Rechenfrage: »1 Auster weniger = 4 Wochen Schule für ein Kind in Uganda« (S. 59) etwas dran wäre.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Nizza – mon amour. Zürich; Hamburg: Arche 2010. S. 3–118 (= 116 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Der Staatstrojaner — Was davor geschah

St. Petersburg, 11. Oktober 2011, 15:18 | von Paco

»Die Algorithmen müssen in Narration übersetzt werden«, hat Frank Schirrmacher vor einiger Zeit zu Alexander Kluge gesagt. Und exemplarisch wurde das jetzt mal anhand des »Staatstrojaners« getan, inkl. disassemblierten Codeschnipseln über mehrere Seiten hinweg. (Btw, Frank Rieger ist ein begnadeter Algorithmen-in-Narration-Übersetzer.) Die FAS vom letzten Sonntag war aber weit mehr als der Bundestrojaner-Showdown. Sie war insgesamt genommen mal wieder eine Jahrhundert-FAS. Schon der übliche Literaturbeilagenbandwurmtext »Die Suada« trug dazu entscheidend bei, geschrieben wie immer von den wahnsinnigen Archivaren des FAS-Feuilletons. Kurz gesagt:

Die Suada der FAS ist so was wie Der Umblätterer in gut.

Am Samstagmorgen hatte ich allerdings noch keine Ahnung vom Inhalt der morgigen FAS. Da saß ich gerade in der Küche und pulte eine gute Stunde lang ohne übertriebene Hast das Preisschild von einem Buch ab (das ich im Dom Knigi gekauft hatte, dort verwenden sie immer diesen mit Staub und Mikrofasern gestreckten Preisschildkleber noch aus Sowjetzeiten). Während ich das tat, beantwortete Denis Scheck im Deutschlandradio Kultur gerade zwei Stunden lang ausführlich Hörer­fragen. Wie schön! Ich könnte Denis Scheck stundenlang zuhören (guilty pleasure), aber irgendwann war die Sendung vorbei, was gut war, denn ich hatte inzwischen unbemerkt den Buchumschlag fast durchgescheuert.

Und ich musste mich beeilen, ich war nämlich auf der Jelagin-Insel zu einem Spaziergang verabredet, wo es um diese Jahreszeit aussieht wie in einem Rilke-Gedicht:

Im Kirow-Park auf der Jelagin-Insel

Ivan Jelagin, der den schönen Vatersnamen Perfiljewitsch trug, war ungefähr der Joseph Sonnenfels des russischen Zarenreiches, umtriebig und in allem weit ausholend, sodass ihn später keiner mehr auf einen Nenner bringen konnte und er deshalb leichter vergessen werden konnte. Mitten zwischen den Dingen hat er zum Beispiel auch noch Katharina der Großen bei ihren Lustspieldichtungen geholfen. Und dafür und noch für ein paar andere Sachen hat er dann dieses schöne Inselgeschenk erhalten. Den neuen Palast auf seiner Insel hat er allerdings nie gesehen, er stammt aus dem 19. Jahrhundert, einer der sehr vielen Carlo-Rossi-Prunkbauten in St. Petersburg und wie so oft nur eine Ausrede, mal wieder ein gutes Dutzend Säulen zu verbauen. Hier mit der berühmten saftigen Butterwiese davor:

Jelagin-Palais mit Butterwiese davor

Am Nachmittag war ich wieder im Zentrum und traf mich mit Baumanski auf ein paar Pyshki in einer Bäckerei am Ploschad Wosstanija. Viel Neues gab es nicht zu bereden, die FAS war ja wie gesagt noch nicht erschienen, und so entschieden wir uns, warum denn auch nicht, endlich mal für einen Besuch im Polarmuseum in der Uliza Marata, denn die hatten kürzlich ein neues lebensgroßes Eisbärenmodell reinge­kriegt, das auf den Namen Artur hört, und das mussten wir natürlich sehen.

Das Museum ist ja in einem grandiosen alten Kirchenbau unterge­bracht, zweckentfremdet im Namen der gesamtgesellschaftlichen Revolution schon in den 30er Jahren:

Arktis- und Antarktismuseum in St. Petersburg

Beim Reingehen reißt man sofort erschrocken den Kopf nach oben, denn dort schwebt eine originale Schawrow Sch-2, ein Amphibien­flugzeug, dessen Flügel bis weit in die Seitenschiffe der alten Kirche hineinragen. Was für eine unfassbare Installation, unbedingt ansehen! Und auch sonst ist das Polarmuseum in St. Petersburg unbedingt unser Museum des Jahres.

Erschöpft gingen wir nach zweieinhalb Stunden Arktis und Antarktis weiter zum Abendessen in das georgische Spitzenrestaurant in der Borowaja Uliza, Chatschapuri und Chinkali für alle, und einige Zeit später fanden wir uns wie so oft in diesem neuen Artspace »Taiga« an der Dworzowaja Nabereschnaja wieder. Wir trafen dort u. a. den Nightlife-Fotografen Sergey Yugov, der gerade dieses schöne Foto geschossen hatte (© bei ihm):

(c) Sergey Yukov

Irgendwann wurde es unheimlich dort, denn ein paar Leute lobten sehr lang und breit und laut und einen Tick zu offiziell den niederlän­dischen Geheimdienst, er sei der beste der Welt, aus den und den Gründen (»Ich wusste bis vorhin gar nicht, dass es den gibt.« – »Eben!«), und jedenfalls gingen wir dann mit dem berühmten Nightlife-Fotografen noch woanders hin, Richtung Dumskaja, zu dieser Club-Favela mitten in downtown St. Pete.

(…)

(…)

(…)

In den späten Morgenstunden saß ich dann wieder in der Galerie und las bei faz.net mit großer Hingabe die ganzen Artikel über den gehackten Staatstrojaner. Bei einer solchen Informationslage war an Schlaf erst mal nicht zu denken, ich ging also sofort wieder los und besorgte mir die erwähnte Druckausgabe der erwähnten aktuellen Jahrhun­dert-FAS und ging damit wiederum ein paar Pyshki essen und las und las und war nach ein paar Stunden zu müde zum Weiterlesen und ging nach Hause und löste dann zur Entspannung erst mal noch schnell das Kreuzworträtsel in der aktuellen SUPERillu, die mir Josik aus dem Air-Berlin-Flieger mitgebracht hatte.

Usw.
 


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (2/2011)

Rorschach, 15. Juni 2011, 12:17 | von Paco

Wolken.Heim

1. Der Umblätterer @ Deutschlandfunk, vorletzten Sonntag: Inter­view mit Burkhard Müller-Ullrich (auch via Flash und als MP3; die ganze Sendung ist hier). Thematischer Dreischritt: Chinaersatzverkehr, Medienaffirmation, Abenteuer Zeitungskauf.

2. »Manchmal gehört zu einem guten Feuilletonisten auch ein Stück Verantwortungslosigkeit.« (Thomas Steinfeld zu Alexander Kluge)

3. Die Serie zum 100-Seiten-Kanon ist angelaufen. Am Ende soll ein Kanon mit 100 Büchern à 100 Seiten stehen: a.) Einführung ins Projekt. b.) Übersicht über momentan 305 berühmte Hundertseiter (vielen Dank besonders an Thomas Reschke). c.) Interview mit einem 100-Seiten-Fanatiker.

4. Aha, das ganze Appenzell steht voller Trampoline.

5. »Wie, ihr lest keine Lyrik? Seid ihr wahnsinnig?« (Maria Gazzetti in der FAZ)

6. Der Tyndall-Effekt und die deutsche Romantik.

7. Und in diesem Zusammenhang: »MASSAKERMINIATUREN, Teil 5« (= 2011 Edition).

8. Fragile Falafel. 99 Lautgedichte von Günter Grass. Demnächst.

9. »Bis ihn ein fragwürdiger Auftrag selbst zum Gejagten macht.«

 
Was bisher geschah:
 
Vorwort Nr. 1/2011

 


Listen-Archäologie (Teil 7):
Der Medienkonsum des Norbert Bisky

Konstanz, 18. Februar 2011, 18:04 | von Marcuccio

Im DRadio-Programmheft für Februar 2011 gibt es auf der vorletzten Seite (S. 91) ein Kurzinterview mit Norbert Bisky. Letzte Frage: »Welche Medien nutzen Sie sonst noch?« – Antwort:

»NPR Berlin,
Artforum,
Flash Art,
Texte zur Kunst,
nytimes.com,
bild.de,
spiegel online,
Monopol,
Die Zeit,
art,
stern,
Kunstforum International,
QVC,
El País,
L’Officiel Hommes,
taz und FAZ
und im Moment gerade ganz viel Herta Müller und Pasolini.«

(in dieser Reihenfolge, Zeilenumbrüche stammen von mir)
 


Rheinischer Merkur trifft Rheinischen Hausfreund

Konstanz, 29. September 2010, 13:01 | von Marcuccio

Komischerweise kam kein Feuilleton drauf zu sprechen, obwohl es wirklich sehr, sehr nahe lag, als Chefredakteur Michael Rutz genau heute vor einer Woche und einem Tag im Deutschlandradio Kultur (sinngemäß) bestätigte:

Ja, der RM werde als selbstständige Publikation zum Jahresende eingestellt. Und ja, er werde in Form eines »Zeit«-Supplements weitergeführt, als »Schatzkästlein geistiger und geistlicher Inhalte« (mp3).

Schwerer Fall von Dauerassoziation wahrscheinlich, aber seit diesem »Schatzkästlein«-Statement klingeln meine Hebel-Glocken, und zwar so, dass ich an den »Rheinischen Merkur« gar nicht mehr denken kann, ohne den »Rheinischen Hausfreund« notorisch mitzufantasieren. Sprich das Kalendergeschichten-Gesamtwerk des evangelisch-badischen Lehrers und Pfarrers Johann Peter Hebel.

RM-Anzeige (Klicken zum Vergrößern)Der im Radio verkündete Wandel der katholi­schen Wochenzeitung zum »Schatzkästlein« hatte sich symbolisch ja schon mit der Werbe­kampagne ab der zweiten Augusthälfte abge­zeichnet: Auf den vielen Anzeigen in den diver­sen Printmedien (z. B. »Welt« vom 9. Septem­ber, S. 27) sah man ein – ja was eigentlich: Schatzkästlein? Auf jeden Fall einen raumgreifenden Tunnel. Einen 3D-artigen Kubus, austapeziert mit weinrot getünchten »Rheinischen Merkur«-Zeitungsseiten, dazu der Slogan: »Gehen Sie mit uns in die Tiefe.«

Zeitungstotentanz

Ein ganz klein wenig erinnerte das Design der Anzeige an leere Ladenlokale in schlechteren Shopping Malls. Ihr wisst schon: die Läden, die ihr Schaufenster mit BILD-Zeitungspapier zukleben und offiziell behaupten: »Wegen Umbau geschlossen.« Wobei der semiotische Subtext lautet: »An dieser Stelle schon lange Leerstand.« Oder: »Hier wahrscheinlich nie mehr geöffnet.«

Ob der verwaiste Zeitungsverschlag also schon pure Symbolsprache war? Zumindest nach der Entscheidung der Deutschen Bischofs­konferenz wirkt der Zeitungskubus so sackgassig, dass man seine Auskleidung mit RM-Seiten glatt als literarische Ansage lesen muss: Rechtswandig weist »Regent Rotstift« erbarmungslos aufs Ende der Tiefe, und zwar genau dorthin, wo die RM-Titelschlagzeile klagt: »Es fehlen klare Sätze« (auch zur Zukunft des RM?).

Linkerhand liegen »Christ und Welt« am, jawohl, Boden – mithin das einzige RM-Ressort, das ab Januar weiterleben wird, indem es (vorerst) als Supplement der »Zeit« aufgehen soll. Man kennt solche Zeitungsasylgeschichten und ihren Ausgang zum Beispiel vom Schicksal der »Wochenpost« her. Und wünscht schon jetzt: Herzliches Beileid. Der RM-Werbeabteilung aber volle Gratulation zu diesem gelungenen Zeitungstotentanz.

Das feuilletonistische Schatzkästlein

Der eine und einzige RM, den ich mir mal aktiv gekauft habe, ist jetzt fast 10 Jahre alt und enthält eine Art literarisches Quartett, das der RM zur Frankfurter Buchmesse 2000 veranstaltet hat: Kulturredakteurin Christiane Florin diskutierte mit Rainer Moritz, Tanja Kinkel und Jürgen Bräunlein über die Frage:

»Wie viel Talent braucht der Erfolg?« (RM Nr. 44 vom 3. 11. 2000, S. 20).

Im deutschen Literaturbetrieb florierten gerade die Popliteraten und Fräuleinwunder, zeitgleich war Verona Feldbusch auf dem Höhepunkt ihrer Peep- und Blubb-Macht. Und Jenny Elvers war noch keine knallharte Schauspielerin, sondern Synonym für Fragen wie diese:

»Hat auch der Literaturbetrieb seine Jenny Elvers?«

Jürgen Bräunlein, der darauf antworten sollte, hatte gerade »Schön blöd« veröffentlicht, ein Buch über den Medienerfolg der Untalentier­ten. Und Rainer Moritz berichtete von einer »Leihdogge«, die er für ein Autorenfoto-Shooting von Sibylle Berg bezahlen musste.

Wie irre, dieses historische Gespräch heute nachzulesen. Höhepunkt aber diese Antonomasie von Jürgen Bräunlein:

»Für mich ist Benjamin von Stuckrad-Barre der Zlatko der Literatur, auch wenn er eine Zielgruppe hat, die sich für etwas feinsinniger hält.«

Heute kaum noch ohne historisch-kritischen Apparat vermittelbar, aber vor zehn Jahren – TV-Deutschland hatte gerade die erste Big-Brother-Staffel hinter sich – entfaltete ein Zlatko tatsächliche Schlagwort-Qualitäten (»Zlatkoisierung des Fernsehens« u. ä.).

Eine Kalendergeschichte aus dem RM-Feuilleton

Die in feuilletontypischer Zeitgeist-Hybris formulierte Wendung stiftet also eine Erzählung, die letztlich auch nicht anders funktioniert als das »Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes« (zu dem es im Nachwort der Reclam-Ausgabe heißt):

»Gleich vielen großen Erzählern ist Hebel nicht eigentlich Erfinder, wohl aber ein Meister der Darstellung, ein Plastiker des Worts und des Satzgefüges, ein Freund aller Gegenständlichkeit. Passiert doch in seinen Geschichten niemals etwas in einem x-beliebigen Wirtshaus, sondern durchweg in einem ›Schwanen‹, ›Bären‹ oder ›Roten Ochsen‹, ebenso wenig an einem ungenannten Ort, vielmehr in Segringen, Brassenheim oder Mauchen.«

Jetzt warten wir nur noch auf den Germanisten, der das Namedropping der Popliteratur aus der Kalendergeschichte ableitet, irgendeinen ganz Wilden, der Johann Peter Hebel mit Douglas Coupland kurzschließt. Und warum nicht? Es war Coupland, der mal zu Protokoll gab (als ihn Marc Deckert in irgendeinem NEON-Interview mit dem »Tod der Popliteratur« nervte):

»Ich finde Autoren schrecklich, die im Jahr 2003 Sätze schreiben wie: ›Er stieg in seinen Wagen und fuhr zu dem Supermarkt.‹ Nein, es muss heißen: ›Er stieg in seinen Honda Accord und fuhr zu Wal-Mart.‹ Manche Autoren versuchen ihre Literatur für die Ewigkeit haltbar zu machen, indem sie all den oberflächlichen Mist weglassen, der uns umgibt.«

Namentlich konkret und enzyklopädisch aufgeladen geht’s also zu, im RM-Feuilleton mit einem ›Zlatko der Literatur‹ nicht anders als bei Hebel oder Coupland: Dass aber ausgerechnet Coupland, der in bester »Schatzkästlein«-Tradition fürs poetische Gegenteil des x-Beliebigen plädiert, die »Generation X« erfunden hat: Das ist und bleibt mein Lieblings-Treppenwitz der Popliteraturgeschichte.