Archiv des Themenkreises ›Consortium‹


Mit »Lettre« im »Türkenhof«

München, 6. April 2023, 09:00 | von Josik

Nach ich weiß nicht wievielen Jahren habe ich gestern mal wieder Baumanski getroffen. Er war gerade kurz in town und hatte sich ein bayerisches Essen in einem bayerischen Lokal in der Nähe der Stabi gewünscht, also rief ich im »Türkenhof« an und reservierte einen Tisch.

Wir bestellten beide den Klassiker, zwei Weißwürste, Senf, eine Breze, ein Helles. Er fragte mich sinngemäß, was es Neues gebe, ich jammerte ihn kurz voll, dass ich immer noch Probleme mit meinen Stimmbändern hätte, aber eben weil ich Probleme mit den Stimmbändern habe, jammerte ich nur kurz. Ich fragte ihn sinngemäß, was es Neues gebe, und natürlich machte er wie immer so viele Dinge gleichzeitig, dass ich schon beim bloßen Zuhören kaum folgen konnte.

Wenn ich es richtig verstanden habe, langweilen ihn inzwischen solche Bücher, die innen sehr viele Buchstaben enthalten, deswegen hatte er sich, ungefähr so wie damals Lenin, in den Lesesaal der Stabi schubkarrenweise irgendwelche Bände mit sowjetischen Plakaten liefern lassen, die er nun durchblätterte. Ein kleines Geschenk hatte ich ihm auch mitgebracht, nämlich die »Lettre« Nr. 139, ich zeigte ihm den Artikel »Stelldichein in Kiew – Revolutionsversuche in der Ukraine nach dem Ende der Belle Époque« von Philippe Videlier. Baumanski sagte höflich, er könne »die Lettre« wegen ihres albatrosartigen Formats leider nicht mitnehmen, sie habe nicht Platz in seiner Reisetasche.

Ich war etwas konsterniert, aber er löste das Problem auf eine geniale Weise: Er las den Artikel einfach sofort. Damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet, denn nachdem wir uns nun fünfzehn Jahre lang oder so nicht gesehen hatten, gab es natürlich eine Menge Fragen, die ich ihm noch stellen wollte. Baumanski sagte beruhigend: »Ich lese nur quer«, und tatsächlich wurde ich nun im Folgenden Zeuge davon, wie stark er inzwischen in die Querleser-Szene abgedriftet ist: Schon nach wenigen Sekunden hatte er in der zweiten Spalte aus dem Augenwinkel den Satz erhascht: »Trotzki führte eine edle Feder.« – »Aha«, rief er in den Saal hinein, »dieser Autor, dieser Franzose, was ist denn das für ein spinöser Trotzkist!«

Ich fragte Baumanski, ob ich ihn, während er den Artikel gerne querliest, einfach weiter zutexten könne, aber er sagte, und nun zitiere ich ihn wörtlich und in voller Länge:

»Nein.«

Einerseits freute ich mich, dass er damit auch auf meine Stimmbänder Rücksicht nahm, andererseits wusste ich, dass der Artikel 16 (sechzehn) Riesenseiten lang war, denn ich hatte ihn ja schon gelesen. Ich wusste des Weiteren, dass Baumanski einen eng getakteten Zeitplan hatte, und überschlug im Kopf, dass ich, nachdem er die Querlektüre oder Lektüre beendet haben würde, in dreifacher Sprechgeschwindigkeit würde sprechen müssen, um ihm alles das zu erzählen, was ich ihm noch erzählen wollte.

Ich aß betont langsam meine Breze auf, während er nun etwa bei dieser Stelle angekommen gewesen sein dürfte: »Kiew war eine recht angenehme Stadt mit rosafarbigen oder weißen Häusern und grünen Dächern. Man aß kandierte Früchte und Schwarze-Johannisbeer-, Reineclauden- oder Grüne-Johannisbeer-Konfitüre«. Um das zu erfahren, hatte ich neulich in irgendeiner Bahnhofsbuchhandlung beim »Lettre«-Kauf 15 Euro ausgegeben, und obwohl Baumanski als Ukraine- und Reineclaudenkonfitürenexperte das ja wahrscheinlich schon wusste, hatte ich irgendwie gedacht, dass es eine gute Idee wäre, ihm dieses Heft zu schenken.

Er hingegen gab mir zu verstehen, dass ich ihm etwas viel Besseres geschenkt hatte, nämlich nicht das Heft, sondern die Lektüre des Hefts. Konnte man jemandem eine größere Ehre erweisen! Wenn man Leuten ein Buch schenkt, weiß man ja doch nie mit letztgültiger Sicherheit, ob diese Leute das Buch auch lesen werden. Wenn man aber jemandem ein Heft schenkt und der Jemand das Heft sofort querliest, weiß man sofort, dass das Heft quergelesen wurde.

Auf Seite 37, das heißt auf der vierten Seite des Artikels, sagte Baumanski halb empört, halb belustigt: »Ich dachte, es geht um Revolutionsversuche in Kyjiw, aber jetzt ist er noch immer nicht bei seinem Thema angekommen.« Ich wollte etwas sagen, oder nein, ich wollte nichts sagen. »›Oje, oje! Die Revolution! Welch eine große Sache!‹«, rief Baumanski nun wieder in den Saal hinein, eine Stelle auf der fünften Seite rezitierend. Der Herr, der allein am Nebentisch saß und ein Wiener Schnitzel von einem bayerischen Kalb verzehrte, tat so, als ob er es nicht gehört hätte. »›Oje, oje! Die Revolution!‹«, wiederholte Baumanski, »was ist das für ein Schreibstil! Wer ist dieser Autor!« Er tätigte diese Ausrufe, wie der Name schon sagt, mit Ausrufezeichen, ich hörte es genau.

Es gab nun tatsächlich ein gravierendes Problem, wir hatten die Weißwürste und die Brezen aufgegessen, ich durfte nicht sprechen, aber Baumanski hatte noch elf unendlich lange Seiten zum Querlesen vor sich. Baumanski hatte noch elf unendlich lange Seiten zum Querlesen vor sich, deshalb bestellte er ein Schokosouffle. Ich war auch nicht satt, wollte aber, um meine Individualität zu unterstreichen, nicht schon wieder das gleiche bestellen wie er, deshalb bestellte ich Apfelkücherl.

Also es war so, Schokosouffle und Apfelkücherl waren die einzigen beiden Desserts auf der Karte, und eigentlich widerte mich das Wort Apfelkücherl an, ein entsetzlicher Ekel ergriff mich, wer denkt sich so einen scheußlichen Diminutiv aus, außerdem ist das Wort Apfelkücherl auch ziemlich schwierig auszusprechen, vor allem wenn man Probleme mit den Stimmbändern hat.

»Lenin stampfte in Zürich mit den Füßen« (Seite sechs). Die Apfelkücherl schmeckten überraschend gut, sogar mein Bier hatte ich dann endlich ausgetrunken. Man denkt, Apfelkücherl und ein Helles, das passt doch überhaupt nicht zusammen, stimmt aber nicht, man kann beides sehr gut parallel zu sich nehmen. Baumanski blätterte um, eine sonderbare Erregung bemächtigte sich seiner, »Danach erschien die Sozialdemokratische Arbeiterpartei der Ukraine, zu der Wolodymyr Wynnytschenko und sonderbarerweise auch Simon Petljura gehörten«, zitierte er, Baumanski schrie nun geradezu in den Saal hinein: »Das war überhaupt nicht sonderbar, dass Petljura der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei angehörte!!! Das war nicht sonderbar, sondern das war ganz normal!!!!«, und korrigierte dergestalt den Autor, der allerdings, wie ich in der letzten Dreiviertelstunde genau beobachten konnte, im »Türkenhof« keineswegs anwesend war.

Baumanski schlug plötzlich das Heft zu und sagte, Polizist sei in Mexiko kein angesehener Beruf, er sei neulich in Mexiko gewesen, ein Polizist habe ihm irgendwas sagen wollen, woraufhin sich sofort umstehende Einheimische um ihn, Baumanski, geschart hätten, die den Polizisten weggejagt haben. Wir mussten los, weil Baumanski eine Verabredung mit den sowjetischen Plakaten hatte. Ich begleitete ihn noch bis zur Stabi, wo wir uns verabschiedeten, und auf dem Nachhauseweg überlegte ich die ganze Zeit, wie um Himmels willen er nun von Philippe Videliers Artikel auf diese Polizistenanekdote gekommen war, bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel: Ach ja, natürlich, auch Trotzki ist ja einmal, genau wie Baumanski, nach Mexiko gereist.
 


Dickere Bücher weil »Verwesungspanik« (Sibylle Berg)

Berlin, 28. August 2022, 21:15 | von Paco

Ok, ein kleiner Beitrag aus unserer Materialsammlung zu einer Theorie des literarischen Textumfangs. Demnächst mehr dazu in unserem Aufsatz »Ein Quantum Literatur«, der bei Springer Nature erscheint (siehe auch unsere Sammlungen zu Hundertseitern und Tausendseitern).

Also, in der »Fest & Flauschig«-Folge »Im geheimen Unterwasser-Sexschloss von Sibylle Berg«, online gestellt am 14. Mai 2022, geht es zentral um Sibylle Bergs neuen Roman »RCE. #RemoteCodeExecution« (Kiepenheuer & Witsch 2022). Das Gespräch ab Minute 30:28:

Olli Schulz: Woher kommt das, dass irgendwann – muss ich echt mal fragen –, bei Schriftstellern und Schriftstellerinnen im Laufe der Zeit die Bücher immer dicker werden und man eigentlich… Ich erinnere mich noch an eines deiner ersten Bücher, »Der Mann schläft«, das deutlich dünner war… Weil man immer mehr Informationen hat, weil man immer mehr recherchiert, oder weil man immer mehr so’n Lebenswerk abliefern muss?

Jan Böhmermann: Oder Sibylle ist einfach mächtiger als der Lektor geworden.

Olli Schulz: Nee, ich finde – das ist wirklich mir aufgefallen –, dass deine Bücher mit der Zeit immer umfangreicher werden.

Sibylle Berg: Ja, das ist… Ich glaub, das ist Verwesungspanik. Dass du einfach dich versuchst irgendwie ans Leben zu krallen und »orrr, was ich euch unbedingt vor meinem Abgang noch sagen will«…

 


»Das einzige, was man überhaupt noch lesen kann«

Hamburg, 3. Februar 2022, 10:43 | von Dique

Irgendein Redakteur erzählte mir neulich, dass Christian Kracht seine Zeitung gelobt habe, und insbesondere das Feuilleton darin. Das sei das einzige, was man überhaupt noch lesen könne. Und ich sagte nichts und freute mich aber sehr, weil es mich an eine ähnliche Geschichte erinnerte.

Und zwar lebt Christian Kracht ja immer irgendwo anders, einmal aber wohnte er ganz konkret in Italien, genauer in Florenz. Das hatte damals irgendjemand erzählt oder ich hatte es irgendwo gelesen, jedenfalls hatte ich es irgendwie im Hinterkopf, als ich dann selbst in Florenz war.

Wir übernachteten in einem Apartment mit Blick über die Piazza della Repubblica vis à vis zum Caffè Gilli. Diese Nähe nutzten wir aus und tranken jeden Morgen einen Kaffee an der dortigen Bar. Meine spanische Begleiterin hatte natürlich keine Ahnung, wer Christian Kracht ist, als ich ihr beiläufig, ein bisschen verträumt in die Gegend schauend, von dem »autor suizo« erzählte, den ich so gern lese und der gerade in Florenz lebt, supuestamente.

Denn manchmal spürt man ja, dass man etwas Nebensächliches doch kurz erzählen sollte, weil es gleich noch eine Rolle spielen könnte. So auch hier.

Neuer Morgen, neuer Trip an die Bar des Gilli. Und dann trat die berühmte Regisseurin Frauke Finsterwalder, die Ehefrau von Christian Kracht, ins Café, stellte sich neben uns und gab eine Bestellung auf. Ich war weder ihr noch ihrem Mann je persönlich begegnet, doch erkannte sie sofort, und da sie zwei Getränke bestellt hatte, war mit einem weiteren Gast zu rechnen.

Zu meiner Begleiterin sagte ich leise, believe it or not, aber neben dir, das ist die Frau des »autor suizo«, den ich neulich erwähnt habe, »ya sabes, el que se mudó a Florencia hace poco«.

Kurz darauf trat dann auch tatsächlich Christian Kracht hinzu. Wir hatten in einer unwichtigen Sache einmal korrespondiert, und ich wusste, dass er Paco kannte, und als dessen Freund stellte ich mich kurz vor, nachdem ich zwei Schritte in Richtung der Kracht-Finsterwalders unternommen hatte.

»Oh ja, Paco vom ›Umblätterer‹«, sagte Kracht, »ganz wunderbar. ›Der Umblätterer‹ ist ja das einzige, was man überhaupt noch lesen kann.«

Wir lachten alle sehr laut, ein Lachen, das ich meiner Begleiterin später nicht wirklich erklären konnte, und unterhielten uns noch einen Moment. Die Tochter der beiden war wohl gerade im Kindergarten und spielte eine Biene in einer Kinderaufführung oder so ähnlich, und da wir auf dem »Umblätterer« gerade unser Panorama des Hundertseitigen Buches angestoßen hatten, erwähnte Kracht, dass »Faserland« ja quasi auch nichts anderes als ein Hundertseiter sei.

Na ja, und so zieht Christian Kracht nun durch die Lande und erzählt allen, dass ihre Publikationen und Schreibereien ja überhaupt die einzigen seien, die man noch lesen könne, und hält sich damit die Welt vom Hals.
 


Kuchen und Gebäck in und um Palma

Palma, 13. Februar 2021, 14:42 | von Dique

Sonne ist Trumpf auf Mallorca und das macht noch jeden Lockdown, na ja, vielleicht nicht zum Kinderspiel, aber immerhin erträglicher. Die Bäckereien sind geöffnet und bis Mitte Januar konnte man sogar noch im Außenbereich der Cafés und Restaurants Platz nehmen. Jetzt gibt’s alles nur noch para llevar (zum Mitnehmen) und man kann dann im Gehen essen, auf einer Bank (ich weiß nicht mal, ob das erlaubt ist) oder am besten gleich wieder zu Hause in der Lockdownfestung.

Ich bespreche hier jetzt drei Gebäcke und einen Kuchen. Alle vier haben gemein, dass sie durch relative Einfachheit bestechen, aber eben sehr gut schmecken. Auf der Insel bekommt man sie in nahezu jeder Bäckerei, man sollte aber in jedem Einzelfall ein bisschen schauen, ob man vernünftige Ware geboten bekommt, und vor allem im Falle der Ensaïmada ist es extrem wichtig, dass sie sehr oder zumindest einigermaßen frisch ist.

Ensaïmada de Mallorca

Die Ensaïmada ist ein Schmalzkuchengebäck, den kleinen deutschen Schmalzkuchen, die man auf jedem Rummelplatz oder Weihnachtsmarkt in Deutschland findet, geschmacklich nicht unähnlich. Sie wird also in Schmalz ausgebacken und wie beim deutschen Schmalzkuchen steckt im Namen ebenfalls das Wort Schmalz drin (auf Katalanisch ›saïm‹). Die klassische Ensaïmada ist untertassengroß, zwei Finger dick und mit Puderzucker bestreut, und wenn sie gut gemacht ist und einigermaßen frisch, dann ist sie weicher als eine Feder. Sie ist so leicht und weich, dass man fast den Eindruck bekommt, man beiße in ganz frischen, warmen Schnee, wenn es so was geben würde. Es gibt zig Varianten der Ensaïmada, pizzagroße Versionen, mit Creme oder Schokolade gefüllt usw. usw., was vielleicht irgendwie verständlich, aber nicht wirklich sinnvoll ist. Man kann auch in Barcelona Ensaïmadas essen oder in Madrid oder Salamanca, aber die besten Ensaïmadas gibt es auf Mallorca, denn dort kommen sie nun mal her. Meine Lieblingsadresse in Palma ist das »Ca’n Joan de s’Aigo« in der Carrer del Baró de Santa Maria del Sepulcre (es gibt noch zwei weitere Locations). Das wunderschöne alte Café ist tendenziell ein Kandidat für das Kaffeehaus des Monats, aber aktuell kann man sich leider eh nur vor den Laden stellen und Zeitung lesen.

Cremadillo de Crema

Ich habe noch nie Blätterteig gemacht, aber behaupte trotzdem mal, dass ein Cremadillo eigentlich ein ganz einfaches Gebäckstück ist. Kreisrunder Blätterteig wird mit Vanillecreme gefüllt, in der Mitte gefaltet, mit Zucker bestreut oder bestrichen (das ist hier ja kein Rezept, ich vermute nur, dass es irgendwie so gemacht wird) und dann gebacken. Durch das Backen karamellisiert der Zucker leicht und gibt den Cremadillos ihre schöne, golden-braun glänzende Oberfläche. Mein persönliches Highlight ist das Durchbrechen der karamellisierten Zuckerschicht, gefolgt von dem Geschmack der weichen Vanillecreme. Für Ensaïmadas sind die traditionellen Bäckereien normalerweise eine gute Adresse, für Cremadillos verfestigt sich bei mir der Eindruck, dass sie in kleinen, unscheinbaren und ein bisschen ausgebombt aussehenden Bäckereien tendenziell besser sein können. Eine Gefahr ist das Over-Engineering: Ich finde, dass Cremadillos ein bisschen ungleich aussehen müssen, an der einen Stelle mal ein bisschen dunkler karamellisiert, hier und da mal eine Blase geworfen usw. Wenn sie aussahen wie gemalt, wurde ich bisher oft enttäuscht. Einer meiner Favoriten liegt ein bisschen abseits, »Sa Tahona Mallorquina« in Badia Gran, in der Nähe von Llucmajor. Aber Achtung, die Cremadillos bei »Sa Tahona« werden nicht jeden Tag gebacken und die aufbewahrten sind maximal der halbe Fun, deshalb am besten samstags um die Mittagszeit hingehen, dann sind sie frisch. Cremadillos gibt es leider auch mit den unterschiedlichsten Füllungen, empfehlen kann ich aber auch hier nur con crema.

Rubiol

Rubiols sind ebenfalls halbkreisförmig und gefüllt, von der Form also dem Cremadillo nicht unähnlich. Doch statt von Blätterteig wird die Füllung von einem einfachen hellen Teig aus Mehl, Ei und Zucker zusammengehalten. Im Grunde würde ich den Teig mit dem eines deutschen Mürbchens vergleichen, er ist allerdings etwas weicher und viel dünner gearbeitet, denn der Rubiol wird ja noch gefüllt. Auch hier gehört der Cremefüllung meine Präferenz, gegenüber Marmelade, Ricotta (okay, das ist schon auch sehr gut) oder Schokolade. Ich komme hier eher von der süßen Seite, aber Rubiols werden auch gern mit herzhaften Füllungen gemacht und erinnern dann vielleicht ein wenig an die argentinischen Empanadas, die ja auch halbmondförmig ausfallen. Eigentlich waren Rubiols mal ein traditionelles Ostergebäck, sind aber mittlerweile das ganze Jahr über zu haben, wenn auch nicht in der gleichen Verbreitungsdichte wie Ensaïmadas. Von außen sehen Rubiols beinahe zu unscheinbar aus, ein bisschen zu weiß, zu schlicht, und man könnte meinen, sie seien ganz trocken, aber all das stimmt nicht. Den besten Rubiol con crema hatte ich bisher in Valldemossa, in der Panadería Pastelería Ca’n Molinas.

Gató Mallorquín de Almendra

Tja, am Ende ist Gató vielleicht doch »nur« Tarta de Santiago ohne Kreuz drauf und eben aus Mallorca. Es handelt sich hierbei jedenfalls auch um einen Mandelkuchen, der wie die Tarta de Santiago eigentlich kein Mehl enthält, sondern überwiegend aus zerriebenen Mandeln besteht. Ich kann den Unterschied also nicht so genau festmachen, der Gató Mallorquín ist nach meinem Eindruck zumeist ein wenig höher, unter der Puderzuckerschicht heller, im Innern feuchter, noch fluffiger und noch weicher. Wie man sofort erkennt, leitet sich der Name dieses wunderbaren Mandelkuchens natürlich vom französischen Wort für Kuchen ab, gâteau, und ist hier auf Mallorca schon seit Jahrhunderten »a thing«, wie San Andreas sagen würde, aber der isst ja keinen Kuchen mehr. Fakt ist jedenfalls, dass das Zeug einfach sehr gut schmeckt, zumindest – wie so oft in diesen Fällen – wenn es jemand gemacht hat, der das auch kann, z. B. bei »Fornet de la Soca«, wo übrigens auch die Ensaïmadas ganz hervorragend sind. In diesen Zeiten ja eigentlich egal, aber hier kann man sowieso nur mitnehmen, es gibt keine Bestuhlung. Man kann aber im kleinen Restaurant direkt daneben nett fragen, einen Kaffee bestellen und dort den mitgebrachten Kuchen essen.
 


Der ermordete Dachdecker

Zu Hause, 8. April 2020, 10:05 | von Paco

Kalter Märzmorgen in Paderborn, die Sonne steht lustlos am Firmament, »als ob ein Pfuscher von Maler sie hingepinselt hätte« (Kotzebue). Also sitzen wir erst mal in der Lobby des Best Western und essen runtergesetzte Hachez-Pralinen.

Ein paar Minuten später laufen wir die Pader hinunter Richtung Schloss Neuhaus. Dort prangt am Dachfirst des Westgiebels ein steinern hingeklumptes »Denkmal für den ermordeten Dachdecker«. Tatzeit: 17. Jahrhundert. Alles Weitere steht in der Ballade »Kurt von Spiegel«, die Annette von Droste-Hülshoff dem Täter gedichtet hat.

Wir lesen uns das Gedicht theatralisch am Handyscreen vor. Highlight – Bruchteil einer Sekunde – der Dachdecker »hört den Knall, und die Kugel noch pfeifen«, also derselbe Moment, den Manet auf seinem Gemälde von der Erschießung Maximilians festgehalten hat.

Am nächsten Morgen beim Frühstück würden wir einer amerikanischen Kollegin über Kurt von Spiegel und seine Tat berichten, woraufhin sie antworten würde: »What an asshole, I hope they punished him hard for that.« (Which they did, davon handelt der zweite Teil von Drostes Ballade.) Aber von dieser zukünftigen Begegnung wissen wir noch nichts, als wir vom Schloss aus mit dem Bus Nr. 8 zurück in die Innenstadt fahren.

In einem Café am Rathausplatz ist dann etwas passiert. Wir sitzen und trinken eine Wasserschorle, während am Nebentisch jemand eine überregionale Zeitung liest. Doch bevor diese Zeitung in unser Leben tritt – denn das wird sie gleich tun – sprechen wir noch über Chamisso und seine Grammatik der hawaiianischen Sprache, über unser Karl-Kraus-Marstheater-Projekt, über die ZDF-Verfilmung von Juli Zehs »Unterleuten«, über Thea Dorn und dann komischerweise auch über Rezzo Schlauch.

Denn zum einen hatte Rezzo Schlauch damals in der Nr. 3 von Christian Krachts sagenhafter Zeitschrift »Der Freund« einen Artikel veröffentlicht, an den wir uns nun zu erinnern versuchen. Zum anderen sieht der Zeitungsleser am Nebentisch ein bisschen aus wie Rezzo Schlauch.

Das Schlauch-Double hat sich in seine Zeitung hineingelehnt, und es sieht ja sowieso meist supergut aus, wenn Leute Zeitung lesen. Was er aber nicht bemerkt, ist, dass sich das erste Zeitungsbuch nach vorn in die idyllische Kerzenflamme zu beugen beginnt und rasch Feuer fängt.

Da brennt dann also tatsächlich vor unseren Augen die Zeitung, und gut brennt sie, das erste Zeitungsbuch ist längst Lohe, und wir von unserer Perspektive aus hören sozusagen »den Knall, und die Kugel noch pfeifen«, und in dem Moment will Rezzo eine Seite zurückblättern, und die Flamme springt ihm ins Gesicht.

Dafür, dass das so ein jäher Kurt-von-Spiegel-Moment ist, geht er erstaunlich schnell und schmerzlos vorüber. Zeitung fällt auf Boden, Feuer wird ausgetreten, Dachdecker hat diesmal überlebt, Kellnerin kommt, routiniert, okay, nicht das erste Mal.

Und ach so, Thomas Kling habe ich oben in der Aufzählung unserer Gesprächsthemen noch vergessen, Thomas Kling und sein Gedicht »Tumulus Muckibude«, das sich einer näheren Betrachtung des Fürstenberg-Denkmals verdankt, das im Dom zu Paderborn steht, und dahin! dahin! machen wir uns nun auf den Weg.

»Aloha! nui nui aloha.« (Chamisso)
 


Moskau vor der Weltmeisterschaft

Moskau, 13. Juni 2018, 11:49 | von Paco

Der 12. Juni, der Tag, an dem Johan Nilsen Nagel in seinem gelben Kostüm in der kleinen norwegischen Hafenstadt anlegt und damit die Handlung in Knut Hamsuns Roman »Mysterien« in Gang setzt, ist nunmehr auch russischer Nationalfeiertag, das Unigebäude ist geschlossen, also bleibe ich erst mal zu Hause und sehe den Film »Relatos salvajes«, lange vor mir hergeschoben, und meine Güte, ich liebe ihn.

Nachmittags machen wir uns auf den Weg zum ВДНХ-Komplex, zur Majakowski-Ausstellung im Pavillon »Arbeiter und Kolchosbäuerin«. Hier noch mal chronologisch das ganze Majakowski-Projekt recappen, dem Wladimir Wladimirowitsch dann durch Selbstmord ein Ende setzte, mit dem genau richtigen Gespür für das Verhältnis zwischen Todeszeitpunkt und Vermächtnis.

In der Metro zeigen sich die ersten WM-Touristen, leicht zu erkennen an ihren leuchtenden Outdoorrucksackmodellen und an den neugierigen Blicken, etwas, das man sonst in Moskau niemals sieht, niemand schaut interessiert einfach so in der Gegend umher, in Moskau herrscht das abgeklärt-desinteressierte Verhalten.

Abends zu einer Geburtstagsfeier in einem Weinlokal in der Nähe der Belorusskaja. Wir bleiben bis Kassenschluss und spazieren dann die paar Kilometer nach Hause, frühsommerliche Nacht, Moskau vor der Weltmeisterschaft. Am Kasaner Bahnhof geht um 3 Uhr morgens die Straßenbeleuchtung aus, der Job wird weitergegeben an die Morgenwolken, die zuckerwatterosa leuchten. Ein paar Schlachtenbummler stehen in ihre ägyptischen Fahnen gewickelt in der Gegend herum. Straßenbahnschaffner mit den typischen Alkoholikeraktentaschen überqueren Straßen. Ein Hotel mit ausladend beflaggter Eingangskuppel zeigt die Nationalfarben aller Teilnehmerländer sowie Indiens.
 


Zwischenfall in Glasgow

auf Reisen, 21. April 2018, 11:32 | von Paco

Am Abend vor dem Briefkastenerlebnis trank und sprang ich noch mit Leuten in der »Park Bar«, die betrieben wird von Vertretern der Hebrideninsel Tiree, und »the guy behind Tyree Gin« war auch da und die Musik sehr akkordeonlastig und der Hauptaufenthaltsmodus war ›Canadian Barn Dance‹.

Ich war also in Glasgow, und am nächsten Morgen hatte ich noch etwas Zeit vor der Abreise und lief gedankenverloren vom Hotel in die Innenstadt und sah unterwegs viele schöne Details, cooler Dachgiebel hier, derbes Frühlingsblumenbeet da, der crazy Blick eines Taxifahrers, ein brennender Briefkasten und so weiter. Wait, ein brennender Briefkasten? Arrr.

Ich war schon vorübergegangen eigentlich, blickte mich aber noch einmal um, und da peitschten Flammen aus dem lichterlohen Briefkasten am Haus einer Wohltätigkeitsorganisation. Ich machte einen Schritt weiter in Richtung Innenstadt, aber mein Körper lenkte mich sanft zurück zum Haus der Wohltätigkeitsorganisation, kurz Bescheid geben wollte ich den Leuten drinnen, und so hielt ich mir die Nase zu und lief in den offenen Eingangsflur, der sich bereits mit stechendem Rauch gefüllt hatte.

Am Ende des Flurs war aber nichts, keine Tür, niemand zu sehen, es führte nur eine enge Wendeltreppe nach oben. Nachdem ich drei Stockwerke lang keinerlei Eintrittsmöglichkeit oder so vorfand, verlor mein Vorsatz deutlich an Grundlage. Denn zu weit war ich schon vom brennenden Briefkasten entfernt, als dass er noch irgendetwas zu tun haben könnte mit meiner Position im Wendeltreppenhaus.

Ganz ganz oben dann doch eine Tür, dahinter ein flauschig gestalteter Empfangsraum. Sofort war eine Mitarbeiterin zur Stelle, knallblaues T-Shirt mit dem Logo der Organisation drauf. »Sorry to drop in like this«, sagte ich, »but I think your letterbox is burning.«

Die Mitarbeiterin, die anderthalb Köpfe größer war als ich, wiederholte fragend meine Aussage. Da wir in Schottland sind, wurde aus »burning« ungefähr so etwas wie »burmy«, also fragte sie: »The letterbox is burmy?« Diesen Satz hörte ich, immer im Wechsel mit Ausrufe- und Fragezeichen dann noch mehrmals.

Andere Mitarbeiterin, gleiches T-Shirt, kommt herbeigelaufen: »The letterbox is burmy!« – »The letterbox is burmy?« – »The letterbox is burmy!!!«

Weiterer Mitarbeiter, selbes Spiel.

Und noch einer, und noch einer, bis die Nachricht den Obermitarbeiter erreichte, der nun eine Entscheidung fällen musste. Zusammen mit der ersten Mitarbeiterin ging ich die endlose Wendeltreppe nach unten, in die sich der elende Rauch bereits vorgearbeitet hatte.

Die Mitarbeiterin hatte einige Ausdrücke negativer Überraschung parat, »oh shit« und so was. Sie zog sich das T-Shirt über die Nase, SpongeBOZZ-Style, und näherte sich der Flamme, die immer noch aus dem Briefkastenschlitz rausfauchte. Erst da bemerkte ich, dass sie eine Kaffeetasse mitführte, die sie erhob und in den Briefkasten entleerte. In diesem Moment kamen weitere blaue T-Shirts aus dem Flurgang, neue Kaffeetassen, und sie beschmissen alle das Feuer mit kaltem Bürokaffee und das war ein Weltrettungsfeeling wie damals das Sandsackwerfen beim Oderhochwasser 1997.

Das große Briefkastenfeuer von Glasgow, es war nach wenigen Minuten gelöscht, und ich ging wieder meiner Wege, hinunter in die Innenstadt.
 


Mitterrand

Moskau, 25. Februar 2018, 12:58 | von Paco

Ich war gestern Abend im Café Puschkin am Twerskoj Boulevard, eingeladen von einem französischen Freund. Ich wusste nicht so richtig, was mich erwartet, und dachte eigentlich, das wär so ein one-on-one und wir updaten uns einfach ein bisschen gegenseitig, weil lange nicht gesehen.

Als ich aber ankam, waren um den Tisch in der Bibliothek insgesamt drei Franzosen und zwei frankophile Russen versammelt, und es wurde also ein schöner französischer Abend, wozu das Café Puschkin ja ursprünglich auch mal gegründet worden war.

Mitten aus einer Diskussion heraus fragte plötzlich jemand, wer eigentlich unsere Lieblingsgestalt in der Geschichte sei, also ein bisschen wie im Questionnaire de Proust, und jedenfalls diskutierten wir dann lange über Robespierre, Napoléon, sogar über Lamartine, davon ausgehend auch über alternative Geschichtsverläufe, und es war eine relativ sinnlose High-Level-Diskussion, aber wir tranken und aßen ja nebenbei auch gute Sachen, und es war ein schönes gesellschaftliches Spiel irgendwie.

Plötzlich ergriff Igor, der die ganze Zeit nichts zu dieser Diskussion beigetragen hatte, das Wort und sagte in die Runde hinein: »Also ich fand Mitterrand ganz gut.«

Und das war so ein unfassbarer Bruch des Kontexts, ein sofort von allen empfundener regelwidriger Sprung durchs Geschichtsbuch, dass das Gespräch indigniert verstummte und eine Minute pausierte, und dann fingen wir langsam an, über etwas anderes zu reden, und kamen nie wieder auf das Thema zurück.
 


Die Spielplatzproduzentin

Aarhus, 31. Oktober 2017, 15:40 | von Paco

In der Bahn vom Flughafen Kopenhagen nach Aarhus traf ich grad zufällig eine Spielplatzproduzentin. Wir kamen wegen etwas anderem ins Gespräch, aber dann stellte sich recht schnell heraus, dass sie Spielplatzproduzentin ist, also Spielplätze produziert. Sie musste nach einer Stunde aussteigen, aber bis dahin hatte ich viel erfahren über Spielplatzarchitektur, gummierte Spielplatzböden, Hexagonschaukeln usw., und wir sind auf jeden Fall weiter in Kontakt, demnächst also mehr über Spielplätze und deren Produktionskette, und China wird natürlich auch eine Rolle spielen, und am Ende ging es sogar um einige Accounting-Details, sodass ich kurz das Gefühl hatte, ich würde jetzt also im Kontor eines dänischen Spielplatzproduzenten arbeiten.
 


Sie sind wohl nicht von hier?

St. Petersburg, 30. Juli 2017, 17:12 | von Baumanski

Dienstagabend, Nieselregen, 14 Grad. Juli.

Eben war ich mit unserem Freund, dem Opernsänger, im Konzert, wir hatten spontan noch günstige Karten für Bruckners Achte bekommen, und weil Gergiev mal wieder eine halbe Stunde zu spät kam – »ein Durchschnittswert«, wie die ältere Leningraderin neben uns grosszügig kommentierte – ist es nun doch schon fast zehn Uhr. Die U-Bahn-Station Teatralnaja, seit zehn Jahren geplant, wird zwar nun pünktlich zur Fussball-WM endlich gebaut, aber momentan ist es immer noch ein gefühlt endloser Fussmarsch zurück ins Zentrum. Aber wir haben ja Zeit, machen noch den Umweg zum Nabokov-Haus, obwohl es dort eigentlich nicht viel zu sehen gibt.

Als wir später in einem Hinterhof etwas trinken, kommen ein paar Filmregisseure dazu. Einer davon beginnt gleich, mich über verschiedene legendäre Schweizer Filme auszufragen, die alle eines gemeinsam haben, nämlich dass ich noch nie von ihnen gehört habe. Nach der halbstündigen Unterhaltung weiss ich aber alles über sie, ausser die Titel, die meinem Gesprächspartner partout nicht einfallen wollen. Dann zeigt er uns die Stelle, wo er damals die Szene in »Golden Eye« gefilmt hat, in der Pierce Brosnan mit einem Panzer durch Petersburg brettert und zwei der ihn verfolgenden Laster durch die Brüstung ins Wasser der Moika stürzen. Bei dieser Gelegenheit erzählt ein anderer der Regisseure, wie Bekannte von ihm in den Neunzigerjahren ihren Rottweiler töteten und verzehrten. »Furchtbare Leute, und das Fleisch war bitter, völlig ungeniessbar.«

Irgendwann, es beginnt bereits wieder zu dämmern, will sich eine von uns an ein Klavier setzen, das mitten auf der Strasse steht. Sofort wird sie von einem mürrischen Nachtwächter zurechtgewiesen, Typ Gopnik, Adidastrainingsanzug und zerdrückte Schirmmütze. »Sagen Sie, was ist das für ein Gebäude?«, frage ich ihn, mehr um von der unangenehmen Situation abzulenken. »Sie sind wohl nicht von hier?«, fragt er zurück, bereits deutlich entspannter. »Das ist die Akademie der angewandten Künste, Baujahr 1885. Schauen Sie mal, die Engel hier an der Strassenlaterne sind thematisch daran angepasst. Die Kirche dahinter wurde noch unter Peter dem Grossen zum Dank für die Siege seiner Flotte über die Schweden gebaut. Die müssen Sie sich mal von innen ansehen.«

Auf dem Heimweg treffen wir noch einen alten Bekannten, der behauptet, er komme eben von einem »intellektuellen Rave« im Generalstabsgebäude, aber ob das auch stimmt? Ausserdem müssen wir sowieso weiter zur Neva, die Тroizkij-Brücke wird um drei nur für ein paar Minuten gesenkt, und wir wollen ja rüber auf die Petrograder Seite, weil mir der Opernsänger unbedingt noch eine Jugendstilfassade am Kamennoostrovskij Prospekt zeigen will.