Archiv des Themenkreises ›Buchbuch‹


100-Seiten-Bücher – Teil 225
Peter Handke: »Wunschloses Unglück« (1972)

Berlin, 30. Mai 2021, 08:17 | von Paco

Innerhalb von zwei Wochen haben mir zwei Personen erzählt, dass Peter Handkes »Wunschloses Unglück« ihr absolutes Lieblingsbuch sei. Um klar zu machen, dass ich nicht trickse, möchte ich betonen, dass es sich um zwei unterschiedliche Personen handelt, die mir das auch unabhängig voneinander mitgeteilt haben.

Seitdem frage ich alle und jede, ob sie das Buch auch gelesen haben. Und alle und jede haben es gelesen. Oft vor 10 oder 20 Jahren zu Beginn der Studienzeit. Einige haben dann auf Masse weitere Handke-Bücher gekauft, und die Backlist ist ja wirklich gewaltig, viele-viele Hundertseiter sind darunter, aber keines der Handke-Bücher hatte je wieder diese Wirkung.

Da ich die Leute auch per SMS mit meiner Frage nerve, erreichte mich eben diese Antwort:

»Es ist das einzige Handke-Buch, das ich hier in meiner kleinen Bibliothek behalten habe, weil ich es als sein bestes und wirklich außerordentliches, ich möchte fast sagen, berührendes Werk in Erinnerung habe.«

Falls ich jemanden vergessen haben sollte zu fragen, bitte meldet euch.

Später werde ich über das alles Genaueres schreiben.

Länge des Buches: ca. 105.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Peter Handke: Wunschloses Unglück. Erzählung. 14. Auflage. Berlin: Suhrkamp 2019. S. 5–89 (= 85 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 224
Doris Viersbeck: »Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens« (1910)

Moskau, 12. Mai 2021, 10:31 | von Paco

Gleich im ersten Absatz von Hedwig Richters neuem Buch »Aufbruch in die Moderne« wird ein anderes Buch zitiert, nämlich die »Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens«, erschienen 1910.

Geschrieben hat es Doris Viersbeck, die 1888 mit knapp 20 Jahren aus der holsteinischen Provinz nach Hamburg kam und dann bis etwa zur Jahrhundertwende bei verschiedenen Herrschaften in Stellung war.

Bis zu ihrer Verheiratung durchlief sie fünf Hamburger Haushalte und geriet dort jeweils an Gebieterinnen, die alle ein eigenes Kapitel bekommen:

  • 1. Frau Möller (die ihren Dienstboten gern wurmstichiges Obst anbietet und ihnen vor allem verbietet, bei der Arbeit zu singen).
  • 2. Frau Sparr (der schlimmste aller Drachen, das Dienstmädchen denkt am Ende sogar an Selbstmord).
  • (Ein zweimonatiges Intermezzo bei der netten Frau Behrens.)
  • 3. Frau Nielson (eigentlich freundlich, entpuppt sich aber nach dreieinhalb Jahren auch als boshaft).
  • 4. Frau Dähn (die beste Stelle, sie bleibt dort fünfeinhalb Jahre).

Es ist ein Hundertseiter par excellence, man liest ihn in einem Rutsch. Geradeaus und schnörkellos geschrieben, ab und zu angereichert mit angenehm verplapperten Anekdoten.

Doris Viersbeck monitort sowohl kleine als auch systemische Ungerechtigkeiten und kündigt im Zweifelsfall lieber, auch wenn sie das in einem Arbeitsfeld, in dem sehr viel vom jüngsten Dienstzeugnis abhängt, immer wieder in prekäre Situationen bringt: »Machen Sie mit mir, was Sie wollen, aber bleiben tu ich nicht« (zu Frau Sparr).

Was aus der Autorin nach 1910 geworden ist, weiß man (glaube ich) nicht. Ihr Lebensbericht hat als historische Quelle aber ein bisschen Karriere gemacht. Bei Hedwig Richter steht im Mittelpunkt der Ausbruch der Cholera-Epidemie 1892 in Hamburg, den beschreibt Viersbeck auf den Seiten 88 und 89 und diese Stelle hat mich dann auch sofort ins Buch gezogen.

Länge des Buches: ca. 203.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Doris Viersbeck: Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens. München: Reinhardt 1910. S. 1–103 (= 103 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 223
Grazia Deledda: »Von der toten Insel« (1905)

München, 21. April 2021, 11:11 | von Josik

Zuerst die Fakten: Die italienische Literaturnobelpreisträgerin Grazia Deledda ist 1936 gestorben, und ein handelsüblicher Backofen von Ikea ist heutzutage nur noch rund 60 cm hoch, etwa 59 cm breit und ca. 55 cm tief. Jetzt zur Fiktion: »Familie Marvu« lautet der Titel einer der insgesamt neun supersten Deledda-Storys, die in diesem Band versammelt sind. Der Schlawiner Badora erzählt den Kindern in der Großfamilie Marvu dort folgende Geschichte:

Ein Klosterbruder besuchte eine verheiratete Frau. Der Ehemann war auswärts. Die Frau und der Mönch essen Abendbrot. »Auf einmal klopft es an der Haustür, und was tut die Frau? Sie schiebt den Klosterbruder und das ganze Essen in den Backofen. Dann macht sie die Tür auf, und ihr Mann kommt mit einem Bekannten herein und fragt: ›Hast du nichts zu essen für uns?‹ Die Frau hatte ein altes gedrucktes Buch; das nimmt sie jetzt und sagt: ›Büchlein, befiehl, daß eine Schüssel Maccheroni erscheint!‹ / Der Bruder schiebt die Schüssel mit Maccheroni aus dem Ofen, und der Mann und sein Freund sperren vor Verwunderung den Mund auf. / ›Büchlein, befiehl, daß eine Schüssel mit Braten erscheint! Und die Schüssel mit Braten kommt‹« (S. 35).

Nachdem sie sich den Magen vollgeschlagen haben, möchte der Bekannte des Mannes, ein reicher Bauer, der Frau das Wunderbuch abkaufen. Sie feilschen ein bisschen. Er bietet hundert Skudi. Sie sagt, sie gebe es ihm nicht für tausend. Er bietet zweihundert. Sie fordert dreihundert. Er gibt ihr dreihundert und geht voller Freude mit dem Buch nachhause. »Die Frau und der Mann gingen ganz vergnügt zu Bett und legten die dreihundert Skudi unter ihr Kopfkissen. Und als sie schliefen, kroch der Bruder aus dem Ofen und kehrte in sein Kloster zurück« (S. 36).

Die Kinder fragen: »Und dann?« (S. 36) »›Nichts weiter‹, antwortet Badora. ›Die Geschichte ist aus.‹ / ›Mama‹, schrie jetzt Diego, ›Mamma mia, Badora erzählt den Kleinen Schweinereien!‹ […] / ›Ja‹, sagte Signor Giovanni, ›das sind doch keine Geschichten für Kinder!‹« (S. 36)

Länge des Buches: ca. 205.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Grazia Deledda: Von der toten Insel. Sardische Dorfgeschichten. Autorisierte Uebersetzung aus dem Italienischen von E. Müller-Röder. Stuttgart und Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt 1905. S. 9–140 (= 132 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 222
Xiao Hong: »Frühling in einer kleinen Stadt« (1936–1941)

München, 20. April 2021, 10:30 | von Josik

Leute, Ihr glaubt gar nicht, wie lange ich eine Hundertseiterin gesucht habe, die von einer Autorin verfasst wurde, deren Nachname mit X beginnt. Alle sagen: Xinran, Xinran. Alle haben mir von ihr erzählt, aber selbst haben sie sie kein einziges Mal gelesen. Denn Xinran schreibt ja immer nur so irre lange Bücher, Zweihundertseiterinnen, Dreihundertseiterinnen, so was halt, aber keine einzige Hundertseiterin, und ich wollte ja nur eine Hundertseiterin lesen.

Dann, nach jahrelanger Suche, passierte das Wunder. Ich traf Ingrid, stellte ihr voller Verzweiflung und ohne jede Hoffnung auf Antwort meine übliche Frage: »Kennst Du zufällig eine Autorin, die ein ca. 100 Seiten langes Buch geschrieben hat und deren Nachname mit X beginnt?«, und sie sagte wie aus der Pistole geschossen: »Xiao Hong!« Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Es war wie Weihnachten, Geburtstag und Beerdigung meines ärgsten Feindes zusammen.

Sofort las ich die fünf Erzählungen, die in diesem Buch versammelt sind. Nun wuchs meine Freude ins Unermessliche, denn alleine in der ersten Erzählung, »Hände«, tauchen folgende Stellen auf: Seite 11: »Hehe«, Seite 15: »hehe«, Seite 20: »Hehe«, Seite 21: »hehe«, Seite 23: »hehe«, Seite 24: »Hehe«, Seite 25: »Sie lachte ihr ›Hehe‹«, Seite 29: »He…he«. Nur ein Ausdruck auf Seite 26 fällt komplett aus dem Rahmen. Dort steht: »haha«.

Länge des Buches: ca. 130.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Xiao Hong: Frühling in einer kleinen Stadt. Erzählungen. Übersetzt und mit einem Nachwort von Ruth Keen. Köln: Cathay Verlag 1985. S. 9–107 (= 99 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 221
Mary Roberts Rinehart: »Keine Spur« (1932)

München, 19. April 2021, 09:55 | von Josik

Dieser superste Krimi trägt nur auf deutsch den Titel »Keine Spur«. Im Original heißt er »Miss Pinkerton«. Das hätte man im deutschen Sprachraum gar nicht verstanden: »Frau Pinkerton«, hä? Im Buch selbst heißt die Privatdetektivin auch gar nicht Miss Pinkerton, sondern Miss Adams. Der Titel »Miss Pinkerton« funktioniert im englischen Sprachraum und insbesondere in den USA trotzdem, denn dort kennt den Namen Pinkerton jedes Kind. Pinkerton ist eine Privatdetektei, die laut Wikipedia 1850 gegründet wurde, 1861 ein Attentat auf den US-Präsidenten Abraham Lincoln vereitelt hat und schließlich auch bei Lucky Luke vorkommt (Band 88: »Lucky Luke gegen Pinkerton«).

Die deutsche Übersetzung von »Miss Pinkerton« ist leider nicht besonders gut, aber vielleicht hat ja jemand von Euch mal Lust, diesen Krimi neu zu übersetzen. Ich habe überlegt, unter welchem neuen Titel man ihn herausbringen könnte. Der Titel »Keine Spur« ist ein bisschen albern, denn dass es erst mal keine Spur gibt, das trifft ja mehr oder weniger auf den Anfang jedes Krimis zu. Es könnte in der Neuübersetzung durchaus ein Titel sein, in dem – genau wie im Original – auch ein Name vorkommt. Nur gibt es leider keine Privatdetektei, die in Mitteleuropa ähnlich berühmt ist wie Pinkerton in den USA. Es gäbe aber sicher die Möglichkeit, auf fiktionale Figuren zurückzugreifen. »Frau Derrick« würde allerdings nicht funktionieren, auch »Frau Schimanski« würde nicht funktionieren, denn sowohl Derrick als auch Schimanski sind ja keine Privatdetektive, sondern Beamte. Doch gibt es glücklicherweise einen megaberühmten literarischen Privatdetektiv. Also, was haltet Ihr von: »Frau Brenner«?

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Mary Roberts Rinehart: Keine Spur. Klassischer Krimi. Übersetzt von Julia Koppel. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein Verlag 1979. S. 3–128 (= 126 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 220
Adele Schopenhauer: »Haus-, Wald- und Feldmärchen« (1844)

München, 17. April 2021, 22:01 | von Josik

Das Hausmärchen ist toll, das Waldmärchen ist fantastisch, aber das Feldmärchen ist der Hammer. »Ein wunderlich aussehender Literat«, heißt es da, »hatte die arme Grisette dann und wann besucht. Man wußte nicht, was er für ein Landsmann, es kannte ihn auch niemand näher; nur erzählte man, daß er der Verfasser der artigen Vaudevilles sei, die eben in Paris en vogue waren und sehr gefielen« (S. 89). Was ein Vaudeville eigentlich ist, ist leicht zu beschreiben. Der Unterschied zwischen einem bedeutungsträchtigen Stück und einem Vaudeville ist ungefähr folgender: In einer seriösen Inszenierung hätte man den Hamlet mit Bruno Ganz besetzen müssen, in einem Vaudeville hätte man den Hamlet mit Dieter Thomas Heck besetzen müssen.

Nun gibt es hier eine auffällige Koinzidenz: In Buchform sind Adele Schopenhauers »Haus-, Wald- und Feldmärchen« erstmals nämlich 1844 erschienen, und 1844 ist auch das Geburtsjahr von Anatolij Fjodorowitsch Koni! Anatolij Koni ist der berühmteste russische Richter überhaupt, weil er im Prozess gegen Vera Sassulitsch den Vorsitz führte. Vera Sassulitsch hatte 1878 dem St. Petersburger Stadthauptmann, weil der ein Schuft war, in den Arm geschossen. Daraufhin wurde sie angeklagt, und das Geschworenengericht fällte ein überraschendes Urteil: Vera Sassulitsch wurde freigesprochen. Huch! Warum? Na wie gesagt: Weil der Stadthauptmann ein Schuft war. Über diesen Prozess schrieb Koni später ein Buch. In dem Buch steht ein irrer Satz: »Ein Gericht ist kein Theater«. Richtig ist natürlich das Gegenteil: Jedes Gericht ist ein Theater. Ein interaktives Theater: Vorne gibt’s eine Bühne, hinten gibt’s einen Zuschauerraum, vorne kommen Leute auf die Bühne, die lustige Klamotten tragen, und sobald sie die Bühne betreten, werden die Leute im Zuschauerraum ins Spiel einbezogen und sie müssen erst aufstehen, dann müssen sie sich gleich wieder hinsetzen. Sehr lustig!

Anatolij Fjodorowitsch Koni hätte natürlich wissen können, dass das Gericht ein Theater ist, schließlich war sein Vater Fjodor Alexejewitsch Koni von Beruf Dramenautor und hat das Vaudeville in Russland sozusagen überhaupt erst eingeführt. Koni sen. hat unzählige Vaudevilles verfasst, bearbeitet und übersetzt. Es gibt darüber eine grandiose Dissertation von Monika Katz: »F. A. Koni und das russische Vaudeville – Zur Geschichte des Unterhaltungstheaters in St. Petersburg 1830–1855«.

Usw.

Länge des Buches: ca. 148.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Adele Schopenhauer: Haus-, Wald- und Feldmärchen. Herausgegeben von Karl Wolfgang Becker. Mit Scherenschnitten von Adele Schopenhauer. Berlin: Buchverlag Der Morgen 1987. S. 3–110 (= 108 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 219
Flora Nwapa / Gracy Osifo / Zaynab Alkali: »Salzlose Asche« (1981–1989)

München, 16. April 2021, 01:27 | von Josik

Dieses superste Buch enthält insgesamt sieben Storys und einen Essay. Meine Lieblingsstelle steht in der Geschichte »Das Dilemma des Jägers« von Gracy Osifo und lautet: »›Rühr mich nicht an!‹, schrie Adanma. ›Beschmutze mich nicht mit deinen profanen Händen, du uneingeweihtes altes Huhn!‹« (S. 53)

Die Vokabel ›uneingeweiht‹ eignet sich hervorragend für Beleidigungen, zumal sie nicht justiziabel ist. Wenn Ihr eine Chefin oder einen Chef habt, könntet Ihr zu ihr oder zu ihm in irgendeinem Kontext beispielsweise einfach mal sagen: »Sie uneingeweihte Führungspersönlichkeit!«

Probiert es aus!

Länge des Buches: ca. 200.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Flora Nwapa / Gracy Osifo / Zaynab Alkali: Salzlose Asche. Kurzgeschichten aus Nigeria. Herausgegeben von Lotta Suter. Zürich: Stechapfel Verlag 1989. S. 3–125 (= 123 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 218
Mahasweta Devi: »Das Brahmanenmädchen und der Sohn des Bootsmanns« (1968)

München, 29. Dezember 2020, 10:35 | von Josik

Eigentlich spielt diese Geschichte in Indien, und zwar im 18. Jahrhundert, aber dann passiert ouf of the blue folgendes: »Jemand sagte: ›Höre, Golaks Mutter, besorge einen eisernen Armreif aus dem Kalitempel in Tirol. Das hat sogar schon wild gewordene Elefanten geheilt.‹ Ishwar ging nach Tirol, brachte einen eisernen Armreif und gab ihn Golak« (S. 69f.). Also das ist doch leiwand, da geht jemand innerhalb eines einzigen Satzes zu Fuß von Indien nach Tirol und wieder zurück, und wirklich, Leute, ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gut diese Szene mir als Verhaltensösterreicher gefallen hat.

Länge des Buches: ca. 105.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Mahasweta Devi: Das Brahmanenmädchen und der Sohn des Bootsmanns. Aus dem Bengalischen übersetzt von Barbara DasGupta. Heidelberg: Draupadi Verlag 2013. S. 3–89 (= 87 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 217
Rossana Rossanda: »Vergebliche Reise oder Politik als Education sentimentale« (1981)

München, 28. Dezember 2020, 10:55 | von Josik

Anfang der 1960er.

»In jenen Jahren«, schreibt Rossana Rossanda, »ging in Rom unter Intellektuel­len ein Liedchen um: ›I hate barocco, I hate scirocco, I hate Rome!‹« (S. 74)

Ich habe ebenfalls drei Liedchen geschrieben. Sie lauten wie folgt:

– »I hate kitsch, I hate the Golden Gate Bridge, I hate San Francisco!«
– »I hate the Eiffel Tower, I hate the French seat of power, I hate Paris!«
– »I hate the Brandenburg Gate, I hate the S-Bahn being late, I hate Berlin!«

Diese Liedchen unter euresgleichen zu verbreiten, ist nun eure Aufgabe (aber das gilt natürlich nur für den Fall, dass ihr Intellektuelle seid).

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Rossana Rossanda: Vergebliche Reise oder Politik als Education sentimentale. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1982. S. 3–128 (= 126 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 216
Yasmina Reza: »Eine Verzweiflung« (1999)

München, 27. Dezember 2020, 09:40 | von Josik

In diesem Roman sagt der Ich-Erzähler über seinen Schwiegersohn, dass er ihm »alles verzeihe, weil er Apotheker ist« (S. 55). Okay, Leute, machen wir einen Test.

In ihrer 1810 veröffentlichten Biografie von Carl Ludwig Fernow berichtet Johanna Schopenhauer folgendes: Mit 14 Jahren habe Fernow in Anklam eine Apothekerlehre begonnen. »Ein benachbarter Edelmann«, schreibt sie, »schickte wöchentlich seinen Jäger in die Stadt, Arzeneien zu holen; Fernow kannte diesen Jäger sehr wohl, und hatte ihn gern als einen flinken Burschen, mit dem er oft im Scherz sich herumbalgte und schäkerte. Eines Morgens wie außer Fernow, der eben mit Kräuter-Auslesen beschäftigt war, nur noch einer seiner Mitlehrlinge sich in der Apotheke befand, kommt der Jäger wie gewöhnlich. Fernow verläßt seine Arbeit, nimmt im Scherz des Jägers Gewehr, legt auf ihn an, der Schuß geht los, und der Unglückliche sinkt ohne einen Laut, ohne eine Bewegung, auf der Stelle todt nieder, die Kugel war gerade durch’s Herz gegangen.«

Also noch einmal langsam: Der Apothekerazubi Fernow hat aus Jux und Dollerei versehentlich seinen Buddy erschossen – das ist kein Märchen, sondern das ist vor noch nicht einmal dreihundert Jahren wirklich passiert! Und nun, Leute, beantwortet bitte die Testfrage: Verzeiht ihr ihm?

Länge des Buches: ca. 190.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Yasmina Reza: Eine Verzweiflung. Roman. Aus dem Französischen von Eugen Helmlé. München / Wien: Carl Hanser Verlag 2001. S. 3–134 (= 132 Textseiten).

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