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Mit »Lettre« im »Türkenhof«

München, 6. April 2023, 09:00 | von Josik

Nach ich weiß nicht wievielen Jahren habe ich gestern mal wieder Baumanski getroffen. Er war gerade kurz in town und hatte sich ein bayerisches Essen in einem bayerischen Lokal in der Nähe der Stabi gewünscht, also rief ich im »Türkenhof« an und reservierte einen Tisch.

Wir bestellten beide den Klassiker, zwei Weißwürste, Senf, eine Breze, ein Helles. Er fragte mich sinngemäß, was es Neues gebe, ich jammerte ihn kurz voll, dass ich immer noch Probleme mit meinen Stimmbändern hätte, aber eben weil ich Probleme mit den Stimmbändern habe, jammerte ich nur kurz. Ich fragte ihn sinngemäß, was es Neues gebe, und natürlich machte er wie immer so viele Dinge gleichzeitig, dass ich schon beim bloßen Zuhören kaum folgen konnte.

Wenn ich es richtig verstanden habe, langweilen ihn inzwischen solche Bücher, die innen sehr viele Buchstaben enthalten, deswegen hatte er sich, ungefähr so wie damals Lenin, in den Lesesaal der Stabi schubkarrenweise irgendwelche Bände mit sowjetischen Plakaten liefern lassen, die er nun durchblätterte. Ein kleines Geschenk hatte ich ihm auch mitgebracht, nämlich die »Lettre« Nr. 139, ich zeigte ihm den Artikel »Stelldichein in Kiew – Revolutionsversuche in der Ukraine nach dem Ende der Belle Époque« von Philippe Videlier. Baumanski sagte höflich, er könne »die Lettre« wegen ihres albatrosartigen Formats leider nicht mitnehmen, sie habe nicht Platz in seiner Reisetasche.

Ich war etwas konsterniert, aber er löste das Problem auf eine geniale Weise: Er las den Artikel einfach sofort. Damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet, denn nachdem wir uns nun fünfzehn Jahre lang oder so nicht gesehen hatten, gab es natürlich eine Menge Fragen, die ich ihm noch stellen wollte. Baumanski sagte beruhigend: »Ich lese nur quer«, und tatsächlich wurde ich nun im Folgenden Zeuge davon, wie stark er inzwischen in die Querleser-Szene abgedriftet ist: Schon nach wenigen Sekunden hatte er in der zweiten Spalte aus dem Augenwinkel den Satz erhascht: »Trotzki führte eine edle Feder.« – »Aha«, rief er in den Saal hinein, »dieser Autor, dieser Franzose, was ist denn das für ein spinöser Trotzkist!«

Ich fragte Baumanski, ob ich ihn, während er den Artikel gerne querliest, einfach weiter zutexten könne, aber er sagte, und nun zitiere ich ihn wörtlich und in voller Länge:

»Nein.«

Einerseits freute ich mich, dass er damit auch auf meine Stimmbänder Rücksicht nahm, andererseits wusste ich, dass der Artikel 16 (sechzehn) Riesenseiten lang war, denn ich hatte ihn ja schon gelesen. Ich wusste des Weiteren, dass Baumanski einen eng getakteten Zeitplan hatte, und überschlug im Kopf, dass ich, nachdem er die Querlektüre oder Lektüre beendet haben würde, in dreifacher Sprechgeschwindigkeit würde sprechen müssen, um ihm alles das zu erzählen, was ich ihm noch erzählen wollte.

Ich aß betont langsam meine Breze auf, während er nun etwa bei dieser Stelle angekommen gewesen sein dürfte: »Kiew war eine recht angenehme Stadt mit rosafarbigen oder weißen Häusern und grünen Dächern. Man aß kandierte Früchte und Schwarze-Johannisbeer-, Reineclauden- oder Grüne-Johannisbeer-Konfitüre«. Um das zu erfahren, hatte ich neulich in irgendeiner Bahnhofsbuchhandlung beim »Lettre«-Kauf 15 Euro ausgegeben, und obwohl Baumanski als Ukraine- und Reineclaudenkonfitürenexperte das ja wahrscheinlich schon wusste, hatte ich irgendwie gedacht, dass es eine gute Idee wäre, ihm dieses Heft zu schenken.

Er hingegen gab mir zu verstehen, dass ich ihm etwas viel Besseres geschenkt hatte, nämlich nicht das Heft, sondern die Lektüre des Hefts. Konnte man jemandem eine größere Ehre erweisen! Wenn man Leuten ein Buch schenkt, weiß man ja doch nie mit letztgültiger Sicherheit, ob diese Leute das Buch auch lesen werden. Wenn man aber jemandem ein Heft schenkt und der Jemand das Heft sofort querliest, weiß man sofort, dass das Heft quergelesen wurde.

Auf Seite 37, das heißt auf der vierten Seite des Artikels, sagte Baumanski halb empört, halb belustigt: »Ich dachte, es geht um Revolutionsversuche in Kyjiw, aber jetzt ist er noch immer nicht bei seinem Thema angekommen.« Ich wollte etwas sagen, oder nein, ich wollte nichts sagen. »›Oje, oje! Die Revolution! Welch eine große Sache!‹«, rief Baumanski nun wieder in den Saal hinein, eine Stelle auf der fünften Seite rezitierend. Der Herr, der allein am Nebentisch saß und ein Wiener Schnitzel von einem bayerischen Kalb verzehrte, tat so, als ob er es nicht gehört hätte. »›Oje, oje! Die Revolution!‹«, wiederholte Baumanski, »was ist das für ein Schreibstil! Wer ist dieser Autor!« Er tätigte diese Ausrufe, wie der Name schon sagt, mit Ausrufezeichen, ich hörte es genau.

Es gab nun tatsächlich ein gravierendes Problem, wir hatten die Weißwürste und die Brezen aufgegessen, ich durfte nicht sprechen, aber Baumanski hatte noch elf unendlich lange Seiten zum Querlesen vor sich. Baumanski hatte noch elf unendlich lange Seiten zum Querlesen vor sich, deshalb bestellte er ein Schokosouffle. Ich war auch nicht satt, wollte aber, um meine Individualität zu unterstreichen, nicht schon wieder das gleiche bestellen wie er, deshalb bestellte ich Apfelkücherl.

Also es war so, Schokosouffle und Apfelkücherl waren die einzigen beiden Desserts auf der Karte, und eigentlich widerte mich das Wort Apfelkücherl an, ein entsetzlicher Ekel ergriff mich, wer denkt sich so einen scheußlichen Diminutiv aus, außerdem ist das Wort Apfelkücherl auch ziemlich schwierig auszusprechen, vor allem wenn man Probleme mit den Stimmbändern hat.

»Lenin stampfte in Zürich mit den Füßen« (Seite sechs). Die Apfelkücherl schmeckten überraschend gut, sogar mein Bier hatte ich dann endlich ausgetrunken. Man denkt, Apfelkücherl und ein Helles, das passt doch überhaupt nicht zusammen, stimmt aber nicht, man kann beides sehr gut parallel zu sich nehmen. Baumanski blätterte um, eine sonderbare Erregung bemächtigte sich seiner, »Danach erschien die Sozialdemokratische Arbeiterpartei der Ukraine, zu der Wolodymyr Wynnytschenko und sonderbarerweise auch Simon Petljura gehörten«, zitierte er, Baumanski schrie nun geradezu in den Saal hinein: »Das war überhaupt nicht sonderbar, dass Petljura der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei angehörte!!! Das war nicht sonderbar, sondern das war ganz normal!!!!«, und korrigierte dergestalt den Autor, der allerdings, wie ich in der letzten Dreiviertelstunde genau beobachten konnte, im »Türkenhof« keineswegs anwesend war.

Baumanski schlug plötzlich das Heft zu und sagte, Polizist sei in Mexiko kein angesehener Beruf, er sei neulich in Mexiko gewesen, ein Polizist habe ihm irgendwas sagen wollen, woraufhin sich sofort umstehende Einheimische um ihn, Baumanski, geschart hätten, die den Polizisten weggejagt haben. Wir mussten los, weil Baumanski eine Verabredung mit den sowjetischen Plakaten hatte. Ich begleitete ihn noch bis zur Stabi, wo wir uns verabschiedeten, und auf dem Nachhauseweg überlegte ich die ganze Zeit, wie um Himmels willen er nun von Philippe Videliers Artikel auf diese Polizistenanekdote gekommen war, bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel: Ach ja, natürlich, auch Trotzki ist ja einmal, genau wie Baumanski, nach Mexiko gereist.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 232
Christa Kożik: »Moritz in der Litfaßsäule« (1980)

Lindau-Insel, 29. August 2022, 18:50 | von Josik

In Christa Kożiks Kinderbuch »Moritz in der Litfaßsäule« heißt es über Moritz‘ drei Schwestern Suse, Salome und Sina: »Für irgendwas schwärmten sie immer, mal für Frank Schöbel, mal für einen Hosenanzug, mal für ein Häkelmuster« (S. 19). Nun wissen viele Kinder heutzutage vielleicht gar nicht mehr, dass Frank Schöbel keine erfundene Figur ist, sondern dass es sich bei Frank Schöbel, einem bedeutenden Schlagersänger, dem die meistverkaufte Platte der DDR zu verdanken ist, um eine Person der Zeitgeschichte handelt. Davon kann man sich u. a. in Frank Schöbels Autobiografie »Frank und frei« überzeugen, die 1998 im Verlag Das Neue Berlin erschienen ist (die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Buchausgabe).

Man wird in diese Autobiografie sofort hineingezogen, weil Frank Schöbel uns alle duzt. Und da er so gut wie nichts weggeschmissen hat, sondern seine sämtlichen persönlichen Dokumente, Fotos und Terminkalender sowie sämtliche Kritiken seiner Konzerte fein säuberlich aufgehoben und abgeheftet hat, kann er seine Lebensgeschichte praktisch lückenlos dokumentieren. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte Schöbel in Leipzig in der Tschaikowskistraße 23. Zur selben Zeit wohnte in diesem Haus auch der berühmte Literaturkritiker und Germanistikprofessor Hans Mayer, dem Schöbel einige Streiche spielte, »die von der Stinkbombenherstellung aus altem Film-Zelluloid bis zu dem Trick reichten, gefüllte Tonnen mit Küchenabfällen schräg an die Wohnungstür des Opfers zu lehnen und dann den Klingelknopf zu drücken« (S. 11).

Dass Schöbel Schlagerlieder nicht nur gesungen, sondern auch selber getextet hat, dürfte nicht zuletzt auf seine Lektüre des Autors Johannes R. Becher zurückzuführen sein, den er gleich eingangs zitiert. Der persönliche Zugang zu einem anderen Autor wird ihm später allerdings verwehrt: Er geht zu DDR-Offiziellen, Abteilung Kultur, um ihnen ein paar Anliegen vorzutragen, »[u]nd schließlich fragte ich noch so ganz naiv, schwejkhaft, ob sie mir ein Gespräch mit Stefan Heym ausmachen könnten. Der Mann interessierte mich kolossal. ›Würde ich Ihnen von abraten‹, meinte man leicht süffisant« (S. 399).

Klavier spielen lernt Schöbel bei Frau Jutta Grimm, zweite Pianistin an der Thomas-Kirche in Leipzig: »Dabei war Bach für sie alles, und Mozart kam ihr schon wie Jazz vor« (S. 40). Von Jazz zu Rock ist es ein kurzer Weg, daher gehört zu den ersten pfiffigen Liedern, die Schöbel schreibt, »Wipp-Wapp-Rock«, aber »[w]eil Anglizismen wie das Wort Rock nicht erlaubt waren, meinte ich den Rock mit dem Petticoat drunter, und schon ging’s« (S. 58). Seinen größten Hit überhaupt landet Schöbel später mit dem Lied »Wie ein Stern«. Bei der Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 singt er vor Hunderten Millionen Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern. Aber noch stolzer als auf diese Episode ist Schöbel auf seine mit großer Sorgfalt vorbereitete, hervorragende Platte »Komm, wir malen eine Sonne«, die erste Kinderpop-LP der DDR mit dem zeitlos gute Laune machenden Titelsong.

Frank Schöbels Karriere ist wahrhaft atemberaubend. Schon zu DDR-Zeiten trat er nicht nur in der DDR, in der Sowjetunion und in Kuba auf, sondern auch in vergleichbaren Ländern wie z. B. Irak, Libanon, Japan und Norwegen. Seine Autobiografie liest sich wie ein Who’s Who der Showbusinessbranche, er kennt oder kannte sie wirklich alle persönlich: Nina Hagen, Eva-Maria Hagen, Udo Jürgens, Abi Ofarim, Paul Dessau, Harald Juhnke, Karat, die Puhdys, Arndt Bause, Dieter Thomas Heck, Achim Menzel, Roger Willemsen, Helga Hahnemann, Silly, Thomas Gottschalk, Dagmar Frederic, Otto Waalkes, Caterina Valente, Peter Ensikat, Egon Krenz, Wolfgang Lippert, Armin Mueller-Stahl, Gerhard Schöne, Leonid Breschnew, Drafi Deutscher jr., unzählige andere sowie Frank Elstner (S. 321: »Wir hatten sofort einen Draht, unter anderem auch deswegen, weil ich in Köpenick wohnte und da seine Tante auf’m Friedhof begraben liegt«). Auf ein Personenverzeichnis am Ende des 700 Seiten langen Buches hat der Verlag sicherlich deswegen verzichtet, weil das Buch sonst wohl nochmal 700 Seiten länger geworden wäre.

Als Frank Schöbel und seine erste Frau, die Schlagersängerin Chris Doerk, sich scheiden lassen wollen, überlegen sie, wie sie das ihren Fans beibringen sollen, ohne dass für diese eine Welt zusammenbricht (was dann natürlich trotzdem passiert): »Ich dachte immerzu, wie würden die Leute reagieren, wenn die Scheidung publik wird. In Briefen standen Sätze wie: ›Die Beatles sind tot, die Stones sind krank, es leben die Fans von Chris und Frank‹« (S. 227). Und so sehr es den Fans selbstverständlich gegönnt sei, dass sie leben, so merkwürdig mutet dieser Zweizeiler aber doch an, da nicht recht ersichtlich ist, warum die Fans eben sich selbst und nicht Chris und Frank dafür feiern, dass sie leben.

Zum Glück hat Schöbel immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. Wenn er gefragt wird, wer an der Scheidung nun schuld sei, kommt die Antwort: »Na, schuld war nur der Bossanova. Das sagte ich immer, wenn es um politische Dinge ging, das mußte auch privat gehen« (S. 241). Kleine Gags, Epigramme und Aperçus verstreut Schöbel ohnehin großflächig über das ganze Buch: »Du kennst den Spruch ›Paris sehen und sterben‹ – ersteres machte ich ausgiebig« (S. 353). Die Gabe, solche Jokes zu machen, scheint in seiner Verwandtschaft verbreitet zu sein, jedenfalls wünschte sich Schöbels Onkel Theo, der von Beruf Schornsteinfeger war, für seinen Grabstein die Aufschrift: »Er kehrt nie wieder« (S. 37). Und den lieben Gott nennt Frank Schöbel nicht »Gott«, sondern »Chef«.

Zugegebenermaßen hatte Schöbel nicht nur Fans, sondern auch Neider. Er berichtet von einem Nachbarn, der eines Abends mit einer Axt vor Schöbels Wohnungstür aufgewartet habe: »Er fuchtelte mit der Axt rum […], aber er hat sie nicht geworfen, rief nur: ›Schöbel […], [w]eißte, was du bist? Du bist ein Westberliner.‹ Das war für ihn wahrscheinlich das allerschlimmste Schimpfwort« (S. 152). Schöbel sieht ganz nüchtern die Vorzüge der DDR ebenso wie ihre Nachteile. Als er einmal eine Trommel braucht, fährt er nach Weißenfels, meldet sich bei einem Werkdirektor und sagt ihm: »›Ich brauch ’ne große Trommel, die so richtig beschissen klingt.‹ Sichtlich erleichtert sprudelte es aus ihm heraus: ›Frank, ham wa. Kein Problem‹« (S. 384). Den Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen macht Schöbel ganz konkret deutlich, wenn er beschreibt, dass es für seine Einkünfte aus den Plattenverkäufen ein oberes Limit gab: »nämlich 500 Mark, minus 20 Prozent Steuern, also 400 Mark auf die Hand. Egal ob die Platte millionenmal verkauft wurde oder nur einmal. Das war natürlich nicht vorstellbar für Menschen, die aus einer Welt kamen, wo von früh bis spät Monopoly gespielt wird« (S. 191).

Schöbel ist absolut nicht unpolitisch. Die Stagnation in der DDR der späten 1970er- und 1980er-Jahre, die sinnlosen unendlichen Komiteesitzungen missfallen ihm zunehmend. Er macht sich lustig über den offiziellen Jargon, wie er etwa in einem Referat zum Ausdruck kam, das nach dem VIII. Parteitag im Komitee für Unterhaltungskunst gehalten wurde: »Um der Differenziertheit der Ansprüche und der Vielfalt der Funktionen, die Tanzmusik im Rahmen der Freizeittätigkeiten der Werktätigen erfüllt, gerecht werden zu können, benötigen wir das Stimmungs- oder Tanzlied wie den Schlager oder den Beattitel, der Alltägliches erlebbar macht, der Partei ergreift in den Klassenauseinandersetzungen unserer Zeit« (S. 297). Schöbel kommentiert: »Ich stellte mir einen Sänger vor, der singt: ›Bis zum Horizont ist alles blond‹, oder ein anderer etwa ›Alles im Eimer, Christina Marie‹, wie die Partei ergreifen in den Massenauseinandersetzungen unserer Zeit« (S. 297). Als eine Zeitung ihre Leserinnen und Leser auffordert, die Frage zu beantworten, was sie vom Schlagertext und von der Schlagermusik fordern und inwiefern ihr Lebensgefühl in einer qualitätsvollen Schlagermusik, die der sozialistischen Lebensweise würdig ist, zum Ausdruck komme, ereifert sich Schöbel: »Plötzlich war Demokratie angesagt. Jeder durfte zum Schlager seine Meinung sagen; kein Mensch ging zum Bäcker und zettelte eine Diskussion an, kleine Brötchen, große Brötchen, mehr Mehl, weniger Mehl, sozialistische Brötchen oder … beim Schlager aber konnte endlich jeder mitreden« (S. 174).

1989 schließlich, vor dem Mauerfall, singt Schöbel ein Lied mit dem anspielungsreichen Titel: »Wir brauchen keine Lügen mehr«. Einmal wird es im Radio direkt nach einer Ansprache von Margot Honecker gespielt: »Das gab Ärger« (S. 538). Großen Ärger gibt es später dann auch mit der »Bild«-Zeitung. Einmal soll Schöbel für sie an die 60 Fragen beantworten. »Eine hieß: Wen würden Sie als Bundeskanzler wählen? Ich ironisch: ›Meinen Nachbarn Siegfried Lehmann.‹ Ich habe gar keinen Nachbarn, der so heißt« (S. 638).

Hiermit möchte ich meine kleine Rezension von Christa Kożiks Buch »Moritz in der Litfaßsäule« gerne beenden.

Länge des Buches: ca. 165.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Christa Kożik: Moritz in der Litfaßsäule. Illustrationen von Günter
Wongel. Berlin: Der Kinderbuchverlag 1980. S. 3–116 (= 114 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 231
Margaret Cavendish: »Die Gleißende Welt« (1666)

München, 17. Januar 2022, 10:12 | von Josik

1666 (sechzehnhundertsechsundsechzig!) veröffentlichte Margaret Cavendish, die Herzogin von Newcastle, dieses Buch unter diesem ihrem Namen. Die das Buch verfasst habende Person war also auf den ersten Blick als Frau erkennbar, für die damalige Zeit grandios unkonventionell. »Die Gleißende Welt« ist, um es klipp und klar zu sagen, möglicherweise die beste Geschichte, die jemals geschrieben wurde. Ich fasse sie hier kurz zusammen: Ein Kaufmann reist ins Ausland und verliebt sich dort in eine junge Frau. Doch es gibt ein Problem: Sie ist absolut superst und er ist eben Kaufmann, deswegen hat er von vornherein keine Chance bei ihr. Logischerweise will er nicht aufgeben, also entführt er sie. Zusammen mit ein paar Kumpels zerrt er sie auf ein Boot und fährt auf dem Meer davon. Ein Sturm kommt und schleudert das Boot bis an den Nordpol. Dort ist es sehr kalt, also erfrieren die Männer. Die junge Frau hingegen bleibt auch »dank […] der Hitze ihrer Jugend« (S. 10) am Leben.

Das Boot befindet sich nun genau genommen nicht bloß am Nordpol, sondern an der Spitze des Nordpols, d. h. dort, wo der Nordpol auf einen Pol einer anderen Welt stößt. Es ist so: »Wenn jemand an einen dieser Pole gelangt, muß er entweder umkehren oder die andere Welt betreten« (S. 10). In diesem Fall wird der jungen Frau die Entscheidung, ob sie umkehren oder die andere Welt betreten soll, gewissermaßen abgenommen, denn es kommen Bärenmenschen, die die Dame aus dem Boot hinaustragen und dann das Boot mitsamt den toten Männern versenken. Die Bärenmenschen tragen die junge Frau bis in ihre Stadt. Die junge Frau versteht zwar kein Wort von dem, was die Bärenmenschen sagen, aber alle sind supernett zu ihr. Es ist allerdings leider immer noch viel zu kalt für die junge Frau, also bringen die Bärenmenschen die junge Frau in eine andere, wärmere Gegend, und zwar zu den Fuchsmenschen.

Die Fuchsmenschen beschließen zusammen mit den Bärenmenschen, den Gansmenschen und den Vogelmenschen, die schöne junge Frau, anstatt sie rund um die Uhr zu bewundern, dem Kaiser der Gleißenden Welt (so heißt die Welt, in der sie sich nun befindet) zu schenken. Auf dem Weg zum Kaiser fängt die junge Frau an, die Sprache zu erlernen, die in der Gleißenden Welt gesprochen wird. Es dauert noch ein bisschen, bis sie den Weg zum Kaiser zurückgelegt haben, und als sie dort ankommen, sieht sie, dass alles aus Gold ist. Der Kaiser hält die junge Frau für eine Göttin und möchte sie anbeten. Das aber lehnt sie ab und sie erklärt ihm, dass sie eine Sterbliche ist. Da freut er sich natürlich, und sie heiraten.

Die frischgebackene Kaiserin lernt nun auch die übrigen Bewohnerinnen und Bewohner der Gleißenden Welt kennen, also die Wurmmenschen, die Fischmenschen, die Fliegenmenschen, die Ameisenmenschen, die Spinnenmenschen, die Lausmenschen, die Affenmenschen, die Papageienmenschen und viele andere. Jeder Gattung ist ein bestimmter Beruf zugeordnet: So betätigen sich die Bärenmenschen als Experimentalphilosophen, die Vogelmenschen als Astronomen, die Fliegenmenschen, Wurmmenschen und Fischmenschen als Naturphilosophen, die Affenmenschen als Chemiker, die Fuchsmenschen als Politiker, die Spinnenmenschen und Lausmenschen als Mathematiker, die Dohlenmenschen, Elstermenschen und Papageienmenschen als Redner und Logiker usw.

Als nächstes lässt die Kaiserin sich über die Staatsform und die Religion der Gleißenden Welt informieren. Da sie vom Kaiser die unumschränkte Macht über die gesamte Gleißende Welt erhalten hat, gründet sie eine Reihe von neuen wissenschaftlichen Gesellschaften und beauftragt diese, Forschung zu betreiben. Manche dieser Gesellschaften müssen z. B. die Sonne erforschen und den Mond und die Luft und den Wind und Schnee und Blitz und Donner und Quellwasser und Mineralien und Pflanzen und Chemikalien und Rohstoffe und Krankheiten und Arzneien und Geometrie und Rhetorik und die Kabbala und Stubenfliegen, und im Anschluss müssen sie der Kaiserin Bericht erstatten über die Ergebnisse ihrer Beobachtungen und mit ihr über all das diskutieren. Die jeweiligen Diskussionen, die alle extrem super sind, werden bestimmt auf insgesamt vierzig oder fünfzig Seiten beschrieben, also ich fasse die komplette Geschichte hier wirklich sehr kurz und bündig zusammen. Nur drei Beispiele aus diesen Gesprächen seien herausgegriffen.

Erstes Beispiel: Die Kaiserin fragt die Wurmmenschen, ob es in der Erde keine Nicht-Wesen gebe. Die Wurmmenschen antworten, davon hätten sie noch nie etwas gehört, aber möglicherweise seien Nicht-Wesen so etwas Ähnliches wie stofflose Geister, und sie solle doch lieber die stofflosen Geister fragen.

Zweites Beispiel: Die Kaiserin fragt die Affenmenschen, wie es komme, dass das langlebige kaiserliche Geschlecht – einige Angehörige seien vierhundert Jahre alt – so jung wirkt. Die Affenmenschen antworten: Es gibt in bestimmten Gegenden der Gleißenden Welt einen Felsen, der goldenen Sand enthält. Dieser Sand ist innen hohl und bringt eine Art Gummi hervor. Man muss einfach hundert Jahre warten, dann hat der Gummi seine Vollkommenheit erreicht. Wenn man dann diesen vollkommenen Gummi in der warmen Hand hält, löst er sich auf zu einem Öl. Dieses Öl hat folgende Wirkungen: Wenn man einem altersschwachen Menschen täglich eine erbsengroße Menge davon verabreicht, muss er eine Woche lang spucken, dann wirft er Schleim aus, dann erbricht er zuerst blassgelbe, schließlich dunkelgelbe, dann grüne und schließlich schwarze Säfte. Das Erbrechen ist aber überhaupt nicht unangenehm oder so, es kommt nur immer sehr plötzlich.

Diese verschiedenfarbigen Säfte kommen zuerst aus dem Mund raus, dann aus der Nase. Schließlich wird der Körper auch noch durch den Stuhlgang, durch Urin, durch Schweiß, durch Nasenbluten und durch Hämorrhoiden gereinigt. Das alles dauert ungefähr sechs Wochen. Wenn die vorbei sind, dann bricht am ganzen Körper ein dicker Schorf aus, und die Haare, Zähne und Fingernägel fallen aus. Der Schorf öffnet sich dann am Rücken. Das dauert vier Monate. Danach wird der altersschwache Mensch in ein Wachstuch gehüllt, das aus bestimmten Wachsen und Säften zubereitet wird. Die gesamte Verjüngungskur dauert neun Monate. Während dieser Zeit ernährt der besagte Mensch sich ausschließlich von Adlereiern und Hirschkuhmilch. Dann wird die Wachsmembran entfernt, und der ursprünglich alte Mensch sieht aus wie ein zwanzigjähriger Mensch!

Drittes Beispiel: Die Kaiserin ruft ihre Logiker zu sich und möchte wissen, welche Fortschritte sie in der Disputationskunst gemacht haben. Der erste antwortet folgendes: Jeder Politiker ist weise – jeder Spitzbube ist ein Politiker – also ist jeder Spitzbube weise. Der zweite widerspricht: Kein Politiker ist weise – jeder Spitzbube ist ein Politiker – also ist kein Politiker weise. Der dritte argumentiert so: Jeder Politiker ist weise – einige Spitzbuben sind Politiker – also sind einige Spitzbuben weise. Der vierte sagt: Kein Politiker ist weise – einige Spitzbuben sind Politiker – also sind einige Spitzbuben nicht weise. Nun wählen die Logiker ein neues Themenfeld. Einer sagt: Jeder Philosoph ist weise – jedes Tier ist weise – also ist jedes Tier ein Philosoph. Ein anderer sagt, dieses Argument sei falsch, vielmehr verhalte es sich so: Jeder Philosoph ist weise – einige Tiere sind nicht weise – also sind einige Tiere keine Philosophen. Die Kaiserin unterbricht sie und sagt: »[O]bwohl ich eure Gesellschaft nicht auflösen will, werde ich mich doch nie mehr erfreuen, euch zuzuhören« (S. 38).

In der Zwischenzeit hat die Kaiserin auch den Feuerstein kennengelernt, der die Eigenschaft hat, in nassem Zustand zu brennen. Danach lernt sie ein paar stofflose Geister kennen. Sie tauscht mit ihnen Komplimente aus und unterhält sich sehr gut mit ihnen. Als die Kaiserin auf die Idee verfällt, selber eine eigene Kabbala diktieren zu wollen, braucht sie, versteht sich, eine Person, die das für sie aufschreibt. Einer der stofflosen Geister empfiehlt ihr eine ganz bestimmte Schreiberin: die Herzogin von Newcastle. Die Kaiserin nimmt diesen Rat an, woraufhin der besagte Geist die Seele der Herzogin von Newcastle zur Kaiserin schickt. Sie begrüßen sich mit einem seelischen Kuss und plaudern sehr wunderbar miteinander.

Irgendwann reisen die Seele der Kaiserin und die Seele der Herzogin u. a. nach Nottinghamshire, Sherwood und Welbeck. Der Kaiser darf selbstverständlich nicht wissen, dass die Seele seiner Frau verreist ist, deswegen nimmt vorübergehend im Leib der Kaiserin ein stoffloser Geist den Platz ihrer Seele ein. Als die beiden Seelen den Herzog von Newcastle, also die Figur des Ehemanns der Autorin, beim Fechten beobachten, macht die Seele der Herzogin von Newcastle sich Sorgen um ihn und fährt in die Seele ihres Mannes. Die Kaiserin tut es ihr nach, damit sind drei Seelen in seinem Leib und sie verlieben sich alle gegenseitig ineinander, natürlich nur platonisch. Allerdings kommt nun ein stoffloser Geist und berichtet der Seele der Kaiserin, dass der Kaiser zwar nichts von der Abwesenheit ihrer Seele weiß, dass aber der in der Gleißenden Welt zurückgebliebene Körper der Kaiserin sehr traurig und melancholisch ist, weil ihm seine eigene Seele fehlt, und dass diese Traurigkeit schon dem ganzen Hof auffällt. Daraufhin geben sich die Seele der Kaiserin und die Seele der Herzogin einen stofflosen Kuss, sie vergießen stofflose Tränen, und die Seele der Kaiserin reist in die Gleißende Welt und in ihren Körper zurück.

Zuhause angekommen, regiert die Kaiserin wieder sehr weise und geschickt, aber eines Tages erfährt sie, dass in der Welt, aus der sie stammt, praktisch alle Länder Krieg gegen ihr Heimatland England führen und dass England in Gefahr ist, zerstört zu werden. Das tut der Kaiserin sehr leid. Ihr fällt wieder ein, dass man in ihrer Heimatwelt alle Schiffe, weil sie ja aus Holz sind, mit dem Feuerstein in Brand setzen kann. Daraufhin fährt sie mit ihren Streitkräften, also den Wurmmenschen, Vogelmenschen, Fischmenschen, Bärenmenschen usw., in die andere Welt rüber, führt einen brutalen, entsetzlichen, gewaltigen, mörderischen Krieg gegen fast alle Länder dieser Welt, gewinnt ihn, weil sie alle gegnerischen Schiffe mit dem Feuerstein vernichtet hat, und führt England somit zur absoluten Weltherrschaft. Dann fährt sie wieder zurück in die Gleißende Welt und der Kaiser fragt sie, wie es ihr geht. Sie sagt, gut.

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Margaret Cavendish: Die Gleißende Welt. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Virginia Richter. München: scaneg Verlag 2020 [faksimilierte Ausgabe von 2001]. S. 5–86 (= 82 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2021

München, 11. Januar 2022, 06:00 | von Josik

Wer hätte das gedacht, nach einer langjährigen Pause verleihen wir heute zum *dreizehnten* Mal seit 2005 den Goldenen Maulwurf, für den Feuilleton­jahrgang 2021:

Der 13. Goldene Maulwurf

Wie jedes Jahr war die Konkurrenz so stark wie seit Jahren nicht. Das deutschsprachige Feuilleton des gerade abgelaufenen Jahres 2021 war wieder voller Geistesblitze und Bramarbasse, es war voller Sturm und – auch nicht zu vergessen – voller Drang und es regnete herrlichste Artikel. Apropos Feuilleton und apropos deutschsprachig – wie schrieb Diedrich Diederichsen im Septemberheft des natürlich nicht mit dem »Münchner Merkur« zu verwechselnden Berliner »Merkur«:

»Anders als in den meisten Kulturen der Welt sind es nicht soziale Medien, universitäre Debatten oder offen politisch geführte Auseinandersetzungen, die das Medium der Deutschsprachigen und ihrer Streits ausmachen. Es ist das, was nur noch in ihrer Kultur einen hohen Wert und gesellschaftlichen Einfluss hat, das Feuilleton. In diesem haben bestimmte Männer das Sagen, die gern im Genre des Machtworts etwas zurechtrücken.«

Dieser letzte Satz stimmt wahrscheinlich, obwohl wir ihn natürlich für falsch halten. Aber dass Feuilleton, wie Diederichsen schreibt, ein Medium ist, wenigstens das ist zweifellos richtig. – – –

So oder so ähnlich klangen viele Jahre lang die Vorworte zum Goldenen Maulwurf. Der Golden Mole war ein Preis für die angeblich™ besten Feuilletontexte des Jahres, der immer am zweiten Januardienstag verliehen wurde, damals, als es noch Leute gab, die (nicht als Investoren, sondern am Kiosk) Zeitungen gekauft haben. Ja, und es ist nun über ein halbes Jahrzehnt her, dass wir zum ersten Mal zum letzten Mal den Goldenen Maulwurf verliehen haben. Und tatsächlich ist der Goldene Maulwurf Geschichte. Allerdings war es unabdingbar herauszufinden, welche Schreiberlinge diesen Preis gewonnen hätten, wenn es ihn noch gäbe.

Und daher sind jetzt alle extremst herzlich eingeladen, auf die Gewinnerlinge des Goldenen Maulwurfs 2021 zu klicken:

1. Clemens Setz (SZ)
2. Marlene Streeruwitz (Standard) / Benedict Neff (NZZ)
3. Fabian Wolff (Time) / Maxim Biller (Zeit)
4. Jérôme Buske (Jungle World)
5. Mareike Nieberding (SZ-Magazin)
6. Elfriede Jelinek (junge Welt) / Peter Handke (FAZ)
7. Gregor Dotzauer (Tagesspiegel)
8. Michael Maar/Sebastian Hammelehle/Claudia Voigt (Spiegel)
9. Erik Zielke (nd)
10. Peter Richter (SZ)

Besonders interessant ist ja, dass das Feuilleton des Jahres 2021 vor allem auch ein Feuilleton der Literat*innen war. Daraus kann man schließen, dass das Feuilleton und die Literatur mittlerweile die genau gleiche gesamtgesellschaft­liche Bedeutung haben, zwar nicht unbedingt im Diederichsen’schen Sinne, aber doch in irgendeinem anderen.

Übrigens war die Auswahl dieses Mal außerordentlich schwierig, da auf der Longlist einundfünfzig (51) Texte standen: Mit anderen Worten, nie zuvor war unsere Longlist so long.

So long,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque

 

p.s. Diese ist die regulär 13. Ausgabe des Goldenen Maulwurfs. Die 12. Aus­gabe, unsere Preisverleihung für das Feuilletonjahr 2016, wurde leider Anfang Januar 2017 aus Zeitgründen gekippt. Wir haben die Ergebnisse aber (allerdings ohne Laudationes) im Oktober 2021 nachgereicht. Da die 2016er Preisverleihung nun gleichzeitig stattgefunden und nicht stattgefunden hat, wird sie von uns intern als Schrödingers Maulwurf bezeichnet. Na jedenfalls herzlichen Glückwunsch, Danilo Scholz, der demgemäß unser 12. Preisträger ist.

p.p.s. Die ausgebliebenen Preisverleihungen für die Jahre 2017 bis 2020 sind so zu erklären, dass wir eine längere Feuilletonpause eingelegt haben.

 


100-Seiten-Bücher – Teil 230
Aimée Duc: »Sind es Frauen?« (1901)

München, 22. November 2021, 13:05 | von Josik

Dieses Buch aus dem Jahr 1901 ist »einer der ältesten lesbischen Romane der Welt« (S. 7). Der Neuausgabe aus dem Jahr 2020 ist ein ausführliches Vorwort der Herausgeberinnen Nisha Kommattam und Margaret Sönser Breen beigefügt. Dort berichten sie u. a., was sie über Aimée Duc, die Autorin dieses Romans, herausgefunden haben. Und was sie herausgefunden haben, ist atemberaubend.

Aimée Duc wurde am 1. Mai 1867 unter dem Namen Hedwig Maria Mina Adelt in Breslau geboren, wuchs in Straßburg auf und übersiedelte 1890 nach Berlin, später zwischendurch nach München und Dresden. Aus ihrer ersten Ehe hatte sie eine Tochter, die nach Ducs Scheidung beim Vater aufwuchs. 1893 veröffentlichte Aimée Duc die Undercover-Reportage 3 ½ Monate Fabrikarbeiterin, »für die sie zu Recherchezwecken inkognito unter den Frauen lebte und arbeitete« (S. 16). Im selben Jahr begann ihre Herausgeberschaft der Berliner Modenkorrespondenz. 1894 wurde sie Vorsitzende von Berlins erstem Damen-Radfahr-Verein und gründete das Magazin Draisena – Organ zur Pflege und Förderung des Radfahrens der Damen.

1901 ging Aimée Duc nach England und heiratete den dort ansässigen deutschen Pastor Theodor Riebeling. 1903 zogen die beiden nach Kairo. Dort gründete Duc die Asiatisch-Orientalische Industriekorrespondenz mit Zweigniederlassungen in Birmingham, London, Damaskus, Smyrna, Alexandria, Bombay und Calcutta. Die Asiatisch-Orientalische Industriekorrespondenz belieferte deutsche Zeitschriften mit Berichten und Reisefotos. 1904 erschien Ducs Roman Des Pastors Liebe. Im selben Jahr übersiedelten Duc und ihr Mann für über zwanzig Jahre nach Indien.

Und weiter geht’s: 1909 veröffentlichte Duc einen Reiseführer für Südindien und Burma. 1914 publizierte sie ihre Indischen Novellen. Ab diesem Zeitpunkt, dem Beginn des Ersten Weltkriegs, verlieren sich Ducs Spuren weitgehend. 1926, im Alter von knapp 60 Jahren, kehrte sie aus Indien nach Deutschland zurück. Die Ehe mit Riebeling, der 1932 der NSDAP beitrat, wurde 1930 geschieden. Ducs Todesdatum ist vorläufig unbekannt.

Es gibt in diesem faszinierenden Lebenslauf noch so vieles zu entdecken. Wer immer also Lust hat, hier weiter zu recherchieren, und wer immer eine Biographie von Aimée Duc schreiben möchte: go ahead! Um die Spannung nicht zu verderben, soll über »Sind es Frauen?«, den hier zu besprechenden Roman, an dieser Stelle nicht allzu viel verraten werden, außer natürlich dass er sehr, sehr gut ist. Nur eine einzige Sache vielleicht wollen wir ausplaudern.

Auf Seite 43 sagt Berta Cohn über die Begebenheit, dass Minotschka ihr Medizinstudium abgebrochen hat, um dann Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte zu studieren: »Puh, das kommt mir immer vor, wie wenn man erst Münchner Löwenbräu und dann Himbeerlimonade trinken würde!« Auf Seite 66 bestellt Minotschka »ein Glas Löwenbräu«. Auf Seite 85 »besuchte man auch des Abends den Löwenbräu-Keller«. Und auf Seite 95 steht: »Boris begleitete Minotschka zu ihrer Wohnung, man wollte nur die Räder einstellen und dann den Abend im Löwenbräugarten verbringen.«

Also, ob nun Ihr diejenigen seid, die die umfangreiche Aimée-Duc-Biographie schreiben werdet, oder nicht: Bitte findet unbedingt heraus, was es mit dieser in der Literaturgeschichte wohl präzedenzlosen Löwenbräuobsession auf sich hat!

(im Gedenken an den am 23. 10. 2019 zusammen
mit Dique absolvierten Besuch des Löwenbräukellers)

Länge des Buches: ca. 135.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Aimée Duc: Sind es Frauen? Roman über das dritte Geschlecht. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Nisha Kommattam und Margaret Sönser Breen. Berlin: Querverlag 2020. S. 33–107 (= 75 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 229
Asja Lacis: »Revolutionär im Beruf« (1925–1971)

München, 20. November 2021, 10:50 | von Josik

Man sollte die faszinierende Schauspielerin und Regisseurin und Theaterleiterin Asja Lacis, die außerdem eine sensationell gute Autorin und Stilistin war, nicht immer im Zusammenhang mit ihrem Kompagnon Walter Benjamin erwähnen, aber da auch wir nun einmal damit angefangen haben, handeln wir das hiermit in aller Kürze ab. Walter Benjamin gilt ja als jemand, der sehr kompliziertes und schwer zu verstehendes Zeug geschrieben hat, umso deutlicher muss man mal darauf hinweisen, dass er auch ganz einfache Sachen geschrieben hat. Hier ein von Asja Lacis zitierter Walter-Benjamin-Satz: »Das Dasein von Micky-Maus ist ein […] Traum der heutigen Menschen« (S. 54). Kontext bei Interesse bitte selber recherchieren.

Aus Asja Lacis‘ hervorragend zusammengestoppelten Erinnerungen erfährt man nicht nur eine Menge Anekdoten über die Regisseure Bertolt Brecht, Meyerhold, Piscator und wie sie alle heißen, mit denen sie zusammengearbeitet hat, sondern sie schreibt auch Hochinteressantes über ihr Engagement für sowjetisches Kindertheater. Übrigens, bei der Verfilmung von Anna Seghers‘ Novelle »Aufstand der Fischer von St. Barbara« arbeitete Asja Lacis als Regieassistentin, auch hiervon berichtet sie in diesem Buch.

Eine vollwertige deutschsprachige Biographie von Asja Lacis gibt es, soweit ich sehe, bis heute nicht. Ihr solltet also schleunigst eine schreiben, zumal Asja Lacis ihre Zeit von 1938 bis 1948 in einem einzigen Satz komprimiert: »Ich wurde gezwungen, zehn Jahre in Kasachstan zu verbringen« (S. 89).

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Asja Lacis: Revolutionär im Beruf. Berichte über proletarisches Theater, über Meyerhold, Brecht, Benjamin und Piscator. Herausgegeben von Hildegard Brenner. München: Rogner und
Bernhard Verlag, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage 1976. S. 3–129 (= 127 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 228
Constanze Hallgarten: »Als Pazifistin in Deutschland« (1956)

München, 18. November 2021, 09:45 | von Josik

Es geht los mit einer Widmung: »Ich widme / dieses erinnerungsschwere kleine Buch / meinem großen personifizierten Erfolg, / meinem Sohn G. W. F. H.« Damit Constanze Hallgartens personifizierter Erfolg dieselben Initialen tragen konnte wie der Berliner Championphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, musste ihr Sohn George Wolfgang Felix Hallgarten den ersten seiner Vornamen sich allerdings selber zulegen. Der andere Sohn, Richard, wird in den Memoiren seiner Mutter leider mit keinem Wort erwähnt. Laut Wikipedia hat Richard Hallgarten einen Tag vor dem geplanten Beginn einer Reise durch Kleinasien, Persien und Russland, die u. a. Annemarie Schwarzenbach mit ihm unternehmen wollte, in einem Sommerhaus am Ammersee den Freitod gewählt und folgende Nachricht hinterlassen: »Sehr geehrter Herr Wachtmeister! Habe mich soeben erschossen. Bitte Frau Thomas Mann in München benachrichtigen. Ergebenst R. H.« Glücklicherweise sind uns Richard Hallgartens wunderbare Illustrationen in Erika Manns wunderbarem 100-Seiten-Buch »Stoffel fliegt übers Meer« erhalten.

Nach Constanze Hallgartens Widmung und Vorwort beginnen ihre eigentlichen Berichte, oder kurz gesagt: eine der außerordentlichsten Autobiographien des 20. Jahrhunderts und darüber hinaus ein eminentes Zeugnis der Frauenfriedensbewegung. Schon die ersten beiden Sätze des Buches sind grandios: »Ich gehöre zu den wenigen bürgerlichen Frauen in Deutschland, die die Gefahr des Hakenkreuzkultes, die da heraufkam, früh erkannten und bekämpften. Mein Wohnsitz München war die Wiege des Nationalsozialismus und die Stätte, da Herr Hitler seit 1920, noch verkannt und sehr gering, angetan mit einer schäbigen grauen Windjacke, meist ohne Hut, in der Hand eine Reitpeitsche – er ritt nie, hatte auch keinen Hund – in Versammlungen als Redner auftrat und fleißig hetzte« (S. 9).

Eindrucksvoll auch der Bericht, wie eine von Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann und Ellen Ammann geführte Frauendelegation aller Parteien und Richtungen, nachdem Hitler Weihnachten 1924 aus der Haft in Landsberg am Lech entlassen worden war, auf den bayerischen Justizminister Dr. Schweyer aufs dringendste einzuwirken versuchte, er solle ihn außer Landes weisen, also zurück nach Österreich abschieben: »Der Minister zuckte die Achseln, und die Unterredung endigte nach eineinhalb Stunden – ohne Erfolg. – Wie oft wird Dr. Schweyer, dem später, unter der Herrschaft Hitlers, übel mitgespielt wurde, an diese Warnung der Frauen gedacht haben …« (S. 76).

Aus der unerschöpflichen Quelle, die Constanze Hallgartens »biographische Skizze« darstellt, sei nur noch eine kleine, aber feine Begebenheit herausgegriffen: Als Alfred Hermann Fried, der Friedensnobelpreisträger des Jahres 1911, starb, gab es in Wien noch kein Krematorium, »so kam Fried’s Leiche zur Einäscherung nach München« (S. 48). Eine der Grabreden schließlich hielt Constanze Hallgarten.

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Constanze Hallgarten: Als Pazifistin in Deutschland. Biographische Skizze. Stuttgart: Conseil Verlag 1956. S. 8–112 (= 105 Textseiten).

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Die 10 wichtigsten Werke von Günter Böll

München, 12. September 2021, 10:47 | von Josik

 

  1. Gruppenbild mit Butt
  2. Wanderer, kommst du nach Telgte
  3. Blechtrommel um halb zehn
  4. Beim Häuten des Clowns
  5. Wo warst du örtlich betäubt?
  6. Irisches Tagebuch einer Schnecke
  7. Doktor Murkes gesammelte Unkenrufe
  8. Die Box war pünktlich
  9. Die verlorene Ehre der Zwiebel
  10. Und kein einziges Wort, was gesagt werden muss

 


100-Seiten-Bücher – Teil 227
Emma Herwegh: »Im Interesse der Wahrheit« (1849/1998)

München, 23. August 2021, 09:11 | von Josik

Am Ende ihres Vorwortes schreibt Emma Herwegh:

»[D]a mir’s vollkommen einerlei, ob man diese kleine Brochüre aus Interesse, Neugier, ja selbst aus Böswilligkeit kauft, ob man sie mit Gleichgültigkeit, mit Geringschätzung oder mit Befriedigung bei Seite legt, vorausgesetzt daß man sie kauft, so denk‘ ich, ich fang‘ ohne Weiteres an.« (S. 9)

Ich hingegen habe diese kleine Broschüre nicht gekauft, sondern, so wie ich es mit allen Büchern zu tun pflege, reinsten Gewissens aus der Bibliothek ausgeliehen. Sorry, Emma Herwegh!

Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Emma Herwegh: Im Interesse der Wahrheit. Zur Geschichte der deutschen demokratischen Legion aus Paris, von einer Hochverräterin. Nach dem unzensierten Handexemplar der Autorin, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Horst Brandstätter. Lengwil: Libelle Verlag 1998. S. 5–90 (= 86 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 226
Sevgi Soysal: »Tante Rosa« (1968)

München, 16. August 2021, 18:12 | von Josik

Ich möchte noch einmal kurz darauf hinweisen, dass Vergleiche zwischen literarischen Übersetzungen müßig sind. Es ist nämlich so: Die eine Übersetzung betont mehr den einen Umstand, die andere Übersetzung betont mehr den anderen Umstand. Oft hat ein Wort mehrere Bedeutungen. Und die werte Übersetzerin, der werte Übersetzer kann nicht immer jede Bedeutung eines Wortes wiedergeben, sondern muss sich halt für eine entscheiden. So kommen dann unterschiedliche Übersetzungen ein und desselben Textes zustande. Die eine Übersetzung akzentuiert dieses, die andere Übersetzung akzentuiert jenes.

Man kann das sehr schön an Sevgi Soysals Buch »Tante Rosa« sehen, von dem glücklicherweise zwei deutsche Übersetzungen vorliegen. Die eine stammt aus dem Jahr 1981, die andere aus dem Jahr 2016. In der einen steht gleich auf der ersten Seite:

»Königin Victoria, 18 Jahre alt, inspizierte die Königliche […] Kavaliereinheit.«

In der anderen steht ebenfalls gleich auf der ersten Seite:

»Die achtzehnjährige Königin Victoria inspiziert das Königliche Reiterregiment.«

Ganz offensichtlich stimmt beides: Es handelt sich hier um eine Kavallerieeinheit, die ausschließlich aus Kavalieren besteht.

Übrigens geht das Buch nach der ersten Seite natürlich noch weiter, und es ist absolut superst.

Länge des Buches: ca. 145.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Sevgi Soysal: Tante Rosa. Aus dem Türkischen: Aliye Yenen. Titelgestaltung und Zeichnungen: Selçuk Demel. Hamburg: buntbuch-Verlag 1981. S. 3–105 (= 103 Textseiten).

Sevgi Soysal: Tante Rosa. Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen. Illustration: Sasha Wels. Umschlaggestaltung: Kai Wels. Berlin: binooki 2016. S. 3–78 (= 76 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)