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Massakerminiaturen (10)

Erfurt, 23. Mai 2021, 16:39 | von John Roxton

Am Sonntag nach dem Frühstück zum Fluss. Mit Schaufeln für Kanäle im Uferkies und Korken für Boote. Lachend immer wieder wer zu lange schlief und deshalb Pfingstochse sein muss. Die Redaktion fragt nach einer Miniatur, die nicht kommen will an diesem Morgen und trotzdem hier ist, hinter der glitzernden Durchsichtigkeit des Wassers tanzen die geschnittenen Köpfe, Salgados neues Bilderbuch, Handkes Widerschreiben in Frankfurt in der Zeitung, im Radio die Handyvideos aus Karabach. In der hellgrünen Sonne. Im selben Mai. Am Sonntag nach dem Frühstück am Fluss.

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Wie immer am 23. Mai:

John Roxton: »Massakerminiaturen«

#1 (2007)#2 (2008)#3 (2009)#4 (2010)#5 (2011)
#6 (2012)#7 (2013)#8 (2014) – #9 (2015)#10 (2021)


Massakerminiaturen (9)

Leipzig, 23. Mai 2015, 12:40 | von John Roxton
 
Karstädt. Bahnlinie Berlin–Hamburg
Karstädt. Bahnlinie Berlin–Hamburg

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Jedes Jahr am 23. Mai:

John Roxton: »Massakerminiaturen«

#1 (2007)#2 (2008)#3 (2009)#4 (2010)#5 (2011)
#6 (2012)#7 (2013)#8 (2014)#9 (2015) – #10 (2021)


Massakerminiaturen (8)

Leipzig, 23. Mai 2014, 10:34 | von John Roxton

»Der Jürgen hat ja studiert und wollte deswegen drohen und den Arschlöchern erst mal Angst machen mit Zeichen von der Mafia oder irgendwas. Also mit Schweinekopf an der Tür und nem schwarzen Fleck auf ner Postkarte. Oder mit so ner Schnur aus Seide in ner Schachtel – was weiß ich, wo der das her hat. Den Jungs hat das aber alles zu lange gedauert. Die sind dann losgefahren und haben einfach mit ner Panzerfaust ins Clubhaus geschossen.«

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Jedes Jahr am 23. Mai:

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Massakerminiaturen (7)

Leipzig, 23. Mai 2013, 18:50 | von John Roxton

Der Vater war auf Urlaub gekommen und hatte uns Taschenmesser geschenkt. Am Tag darauf gingen wir hinaus, um der Mutter den großen Ameisenhaufen am Waldrand zu verbrennen. Der Vater hatte die schwarze Jacke ins Gras gelegt und stand im Unterhemd groß und hoch im Gegenlicht der Sommersonne, als er den Sprit aus einer Flasche über den Hügel aus Erde und Tannennadeln goss. Der Brandgeruch vermischte sich mit dem Duft des Waldes. Wir sollten achtgeben, dass das trockene Holz kein Feuer fängt und der Vater versprach ein Malzbier, wenn wir die Königin fangen.

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Massakerminiaturen (6)

Leipzig, 23. Mai 2012, 20:44 | von John Roxton

 

  1. Feststellung der Tagesordnung
    Genehmigung des Protokolls
  2. Bericht der Geschäftsführung
  3. Feststellung der Jahresabschlüsse
    Entlastung des Aufsichtsrates
    Entlastung der Geschäftsführung
    Bestellung des Wirtschaftsprüfers
  4. Verschiedenes

 

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Massakerminiaturen (5)

Berlin, 23. Mai 2011, 20:58 | von John Roxton

Was hatten sie diskutiert mit den Schlipsheinis von der Leitung. Die Fahrgeschäfte am Kai machen ja auch nicht dicht wegen bisschen Wind. Sie bestanden darauf: Ausschalten! Die rumänischen Schaler wollten aber vor dem Wochenende nicht unterbrechen, sondern fertig werden und dann heim zum Schnaps in die Karpaten oder gottweißwo. Kann man verstehen. Der Alte von den Rumänen bekniete ihn persönlich. Also hat er den Alimak doch noch eine halbe Stunde angelassen, damit die Bande hoch auf die Konstruktion konnte, um den letzten Beton zu machen. Jetzt hat er dieses weiche Gefühl im Steiß, das Gefühl vom frühen Morgen, wenn man die erste Platte oder den ersten Sack Gips im Rohbau die Treppe raufschafft. Weich von hinten die Beine runter und in den Magen hoch. Kreislauf. Atmen. Der Aufzug wurde von einer Bö erfasst und von hier oben sah es aus wie ein Jojo, das über die ganze Breite des Hafenpanoramas schwingt. Der Aufschlag war nicht zu hören. Oder er hörte ihn nicht. Er dachte an den Papierkram, der jetzt bis rüber nach Rumänien zu erledigen war.

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Massakerminiaturen (4)

Berlin, 23. Mai 2010, 21:24 | von John Roxton

Es ließ sich später nicht mehr feststellen, wie die Granate ins Feuer geraten konnte. Der rotglühende Ofen war explodiert wie ein kaputter Dampftopf und entfaltete in dem kleinen Schankraum die Wirkung eines Kartätschenvolltreffers. Aus den aufgelesenen Körperteilen und der hastig vorgenommenen Zuordnung der gefundenen Habseligkeiten wurde die Zahl der Toten im offiziellen Bericht mit sechs angegeben. Trotz der schützenden Theke waren der Wirt und seine Tochter von der Wucht der Explosion zerrissen worden. Drei Soldaten des Jäger­bataillons konnten anhand der Uniformstücke und der verbogenen Zinnkrüge mit dem Signet ihrer Einheit identifiziert werden. Auf einen vierten Mitspieler des Würfelspiels ließ sich nur durch die Aufzeichnung der Spielstände auf einem Bierfilz schließen. Der einzige Überlebende, ein politischer Geschäftsführer des Straßenbahnkonzerns, konnte wegen eines handtellergroßen Lochs im Gesicht bis zum Rückflug der Untersuchungskommission nicht vernommen werden.

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Massakerminiaturen (3)

Berlin, 23. Mai 2009, 21:00 | von John Roxton

Entweder Glück oder ein verdammt guter Richtschütze. Der Einschlag aus dem Nichts riss die Hügelkuppe mit einem Kreischen auseinander und die entfesselte Gischt aus Erde machte jede Orientierung, jede bewusste Unterscheidung des Raumes unmöglich. Der Tisch, auf dem eben noch der Leutnant gelegen hatte, flog zerlegt in Einzelteile durch die Luft. Platte und Beine zeigten irgendwo oben eine artistische Figur und erstarrten. Lächerlich. Sie hatten das Möbel extra aus einem der niedergebrannten Gehöfte auf die Höhe gezerrt, um ihm eine möglichst ebene Auflage für sein Gewehr zu geben. Hatte der Leutnant über­haupt gefeuert? Er konnte sich nicht erinnern. Der Scharfschütze er­schießt den Lafettenmann. Was für ein Plan. Der zweite Treffer been­dete das Taumeln und rammte ihn mit dem Kopf voran in die Erde. Es war, als hätte Antaios selbst ihn niedergerungen und ihm seine erbar­mungslosen Finger aus Dreck in Augen, Mund und Nase gestoßen.

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Massakerminiaturen (2)

Berlin, 23. Mai 2008, 23:53 | von John Roxton

Wir trafen schließlich auf sie dort, wo der Hang in die Ebene über­geht. Die Talsohle war von Bäumen bestanden. Ebenso wie sie eröffneten wir aus dem Galopp heraus im Moment des gegenseiti­gen Erkennens unverzüglich das Feuer. De Geoffroy und Hanes waren sofort tot. Ich erhielt einen Schlag in den Rücken. Noch im Fallen feuerte ich ohne Ziel das Terzerol ab und sah, wie Faucillon den Degen in der Rechten und eine Pistole in der Linken, die Zügel seines Pferdes mit den Zähnen führte.

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Hubertusweg

Berlin–Leipzig per Kurier, 3. Juli 2007, 11:49 | von John Roxton

Es ist etwas Vernünftiges geschehen. Lutz Seiler hat den Bachmannpreis gewonnen. An sich nix besonderes, weil ja jedes Jahr jemand gewinnt. Aber von Herrn Seiler stammt ein sehr gutes Gedicht, das ich vor etwa einem Jahr bei einer nächtlichen Autobahnfahrt aus Berlin heraus nach Brandenburg zum Takt der Teerrillen im Radio hörte. Seiler, der in Huchels altem Haus am Rande Berlins lebt, las selbst. Das Gedicht trägt den Namen »Hubertusweg«, wie die Straße vor Seilers Haus, und schon die ersten Zeilen gehören zum Besten, was die deutsche Poesie derzeit zu bieten hat. Zitat:

… heimleuchten, hartwuchs: der preussische wald
ist moränen-mechanik, als ob
er noch aufrücken könnte, wort

für wort, wenn kühl
im laub mit dem regen, der kommt, der wind
        anschlägt und
sein langes, langsames sprechen
beginnt jahrelang
selber wald gewesen tags
(…)

Da steckt diese ganze brandenburgische Verlassenheit drin, die Schreie der Seelower Höhen und der endlose Sommer in den kleinen geduckten Dörfern. Das Buch heißt »vierzig kilometer nacht« und ist bei Suhrkamp erschienen.