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Besuch bei Bohrer

Oxford, 13. Juni 2015, 10:12 | von Cetrois

Das Feuilleton: eine Vergangenheitsform. In Hessen, in Frankfurt sei es bis vor kurzem beheimatet gewesen, schrieb letzte Woche das »Zeit Magazin«, schrieb gestern Dirk Schümer in der »Welt«. Es gibt aber auch noch Orte, wo man das Feuilleton alive and well finden kann. Orte, an denen man unvermittelt ins Feuilleton eintreten kann wie Harry Potter auf Gleis 9 3/4:

Man schlendert in London die South Lambeth Road hinunter. Und ist sofort auf der Hut vor den berüchtigten Straßengangs von Stockwell. Von denen ist aber so früh am Morgen noch nichts zu sehen – stattdessen verfolgt mich bloß ein altes Männlein auf einem klapprigen Mountainbike mit viel zu niedrigem Sattel.

Als wolle es den provinziellen Deutschen verhöhnen, der den Interview­termin nicht durch Ärger mit der Verkehrspolizei gefährden will und deshalb pflichtschuldig an jeder roten Ampel stehen bleibt, fährt es stets quer über jede Kreuzung, bleibt dann auf halber Strecke kurz stehen, dreht sich um und reckt die Faust gen Himmel: »You see, I’m not afraid! You see that!«

So geht das einige Straßenblocks lang, mein Begleiter auf dem Fahrrad umkreist mich wie ein harmloser Hai. Schließlich biege ich um die Ecke und da steht unvermittelt der schwarze Golf IV in der Einfahrt, das deutscheste Auto der Welt, das aber durch das gelbe Nummernschild sogleich etwas unheimlich Weltläufiges, Vornehmes bekommt.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 113
Richard von Schaukal: »Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser« (1907)

Berlin, 29. Dezember 2014, 21:26 | von Cetrois

Ich war auf Wikipedia mal wieder zu lange in den Gassen des Fin-de-siécle-Wien unterwegs, und irgendwann stößt man dann immer auf Richard von Schaukals Mitteilungen über »Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser«. Und die hatte ich natürlich gelesen damals, zwar ohne Gewinn, aber es genügt ja, lehrt uns Andreas von Balthesser nach alter Dandyweisheit, seine Zeit angenehm verschwendet zu haben.

Also schnell noch mal rüber zu archive.org, wo es das von Google besorgte Retrodigitalisat der »Leben und Meinungen« gibt (Seite 3 fehlt allerdings) und noch eine Reihe weiterer Werke des Author: Richard »von« Schaukal. Großartige Anführungszeichen! Nimmt es Google in alteuropäischen Standesfragen wirklich so peinlich genau, dass man die Nobilitierung des Ministerialrats Richard Schaukal nicht anerkennt? Kaiser Karl hat den treuen Beamten im Mai 1918 tatsächlich nur gerade noch so, ganz kurz vor Untergang des kakanischen Staatsschiffes, in den Adelsstand gehoben.

Die schiefe Metapher vom ›Staatsschiff‹ deshalb, weil ich gerade an die Ausstellung »Franz is here!« denke, die im Frühjahr im Wiener Völkerkundemuseum am Heldenplatz zu sehen war. Die Ausstellung rekonstruiert anhand unglaublich vieler kitschiger Souvenirs die Weltreise, die der Thronfolger Franz Ferdinand 1892/93 auf der SMS »Kaiserin Elisabeth« unternahm. Ödipale Spekulationen verbieten sich natürlich schon rein genealogisch. Zumal Ödipus und Franz Ferdinand auch mit Blick auf den Bodycount an erledigten Viechern in ganz verschiedenen Ligen spielen – Ödipus: 1, Franz Ferdinand: 274.889 Stück Wild, laut Wikipedia. Wobei der ehemalige FAZ-Herausgeber Paul Sethe, ebenfalls auf Wikipedia, zum passionierten Jäger Franz Ferdinand anmerkt, dass ihm »die Zahl, das Massenhafte wichtiger ist als die Freude am Pirschgang …«

Die Franz Ferdinand’sche Weltreise war dann auch eine einzige Groß- und Kleinwildjagd. Er brachte aber auch interessante Aufzeichnungen mit, selbst auf der eigenen Haut: In Japan ließ der Erzherzog sich ein schönes Drachenmotiv tätowieren, was, wie er in seinem Zahlenfetischismus notierte, »nicht weniger als 52.000 Stiche erforderte«. Auch sonst ist das »Tagebuch meiner Reise um die Erde, 1892–1893« ein sehr schöner Reisebericht, und zu Recht wurde der Autor Franz Ferdinand vor zwei Wochen von einem weiteren FAZ-Herausgeber, Jürgen Kaube, im Deutschlandfunkinterview geradezu, hehe, nobilitiert: Heute müsse sich niemand mehr rechtfertigen, wenn er Franz Ferdinand und Stefan George gut finde.

Das Weltreisetagebuch ist ebenfalls schon bei archive.org gelandet, übrigens mit besonders gelungenen Aufnahmen von den kleidsam in rote Fingerkondome gehüllten Fingern, die die Seiten beim Scannen fixieren. Andrew Norman Wilson hat diese Zeugnisse menschlicher Präsenz im Googlescanprozess als fotografische Kapitalismuskritik gesammelt, ein Projekt, das Franz Ferdinand zweifelsohne unterstützt hätte (seine Notiz in New York: »wüster Tanz um das goldene Kalb«).

Wer deshalb eine Abneigung gegen die schnöde Digitalisierung bibliophiler Prachtbände der Jahrhundertwende kultivieren will, dem kann man, jetzt wieder mit Richard von Schaukal, sagen: »Ich liebe nicht Bücher um der Bücher willen, mir ist das schönste Buch gleichgültig, wenn sein Inhalt mit mir nichts zu tun hat. Ich ›sammle‹ keine Bücher. Ich interessiere mich weder für Bibliotheken noch für das Bücherwesen überhaupt.« (PDF, S. 71)

Länge des Buches: > 125.000 Zeichen. – Ausgaben:

Richard Schaukal: Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser. Zweite, verbesserte Auflage. München; Leipzig: Georg Müller 1907. S. 1–177 (= 177 Textseiten). (online)

Richard von Schaukal: Leben und Meinungen des Herrn Andreas von Balthesser. Stuttgart: Klett-Cotta 1986. (Inhalt)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 112
Italo Svevo: »Der alte Herr und das schöne Mädchen« (1926)

Berlin, 10. November 2014, 13:52 | von Cetrois

Auf der Fahrt von Berlin nach Hannover saß mir der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestags gegenüber. Er hatte sich offenbar einiges vorgenommen: Zuerst arbeitete er einen beträchtlichen Aktenstapel durch und dann die »Zeit«, Politikteil und Dossier. Ich bin nicht sicher, ob er auch mit meiner Lektüre einverstanden war. Hin und wieder ein kritischer Blick. Ich versuchte meine Hand so auf dem Buchdeckel zu positionieren, dass sie den Namen des Autors möglichst vollständig verbarg und am besten auch noch die handaufgeklebte Aktzeichnung, die natürlich einen alten Herrn und ein schönes Mädchen zeigt. Der rote Wagenbach-Einband als solcher konnte hingegen kaum der Grund für des ehemaligen Bundestags­präsidenten Missfallen sein, hatte mein Gegenüber doch bei der Feier zum vierzigsten Geburtstag des Wagenbach Verlags die Festrede gehalten. Die Feier fand am Wannsee, beim Literarischen Colloquium Berlin statt und war ein großer Erfolg. Einzig an der Bewirtung der vielen Gäste mangelte es offenbar – Jörg Magenau schrieb damals (2004) in der FAZ, dass es bei den Sommerfesten des LCB schon immer schwierig gewesen sei, auch nur »eine Wurst zu ergattern«. Ganz anders der alte Herr in Svevos Erzählung, der seiner Besucherin die köstlichsten Delikatessen offerieren kann, trotz oder vielmehr wegen des in der Ferne grollenden Weltkriegs und der allgemeinen Verarmung ringsum. Immerhin, Christian Kracht berichtete im Interview einmal von einer »Schale mit Erdnusslocken«, die das LCB den Autoren nach ihrer Lesung hinstellt: »eine einzige Schale«!

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Italo Svevo: Der alte Herr und das schöne Mädchen. Übers. von Barbara Kleiner. Berlin: Wagenbach 1998.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 13):
»Pyrenäenreise im Herbst« (1985)

Berlin, 13. Dezember 2013, 08:10 | von Cetrois

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 92)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Sehr pragmatisch findet man Fritz J. Raddatz’ »Pyrenäenreise im Herbst« im Regal der Kreuzberger Amerika-Gedenkbibliothek eingeordnet zwischen dem Vorbild von 1927, Kurt Tucholskys »Pyrenäenbuch«, und Jürgen Engels »Mit dem Wohnmobil durch die Pyrenäen«, das 2007 bereits in dritter Auflage erschienen ist. Engel verspricht im Klappentext »Burgen, Gletscher, Höhlen und Schluchten« und, etwas mysteriös, »genaue Hinweise auf Ver- und Entsorgungs­möglichkeiten«; Raddatz verspricht im Untertitel eine Reise »auf den Spuren Kurt Tucholskys«.

Indes muss er, um dieses Versprechen einzulösen, sich gleich zu Anfang ein wenig sputen, denn während Tucholsky schon zum Stierkampf in Bayonne weilt, beginnt Raddatz’ Roadtrip, spätsommer­lich elegisch, natürlich auf Sylt. Und während Tucholsky sich aus den Absurditäten des Pass- und Grenzregimes zu einer ätzenden Kritik des Nationalstaats als Ersatzreligion aufschwingt, ist Raddatz erst einmal froh, dass die »Säsong« vorbei ist, in der »die Düsseldorfer Gebrauchtwagenhändler Grillparties mit Sekkkt feiern« (S. 9).

Allein, vor den geschmacklichen Todsünden der nouveaux riches aller Epochen ist Raddatz auch im französisch-spanischen Baskenborder­land nicht gefeit. Was ihn dann immer wieder, und besonders bei der Besichtigung von Heinrichs IV. Château de Pau, schockiert: der frappante »Unterschied der ästhetischen Sensibilität« (S. 13) – zwischen seiner und der Tucholskys nämlich, dem es in Pau offenbar gar nicht schlecht gefiel. Vor allem aber plagt Raddatz »das eisern durchgehaltene Ritual« der Franzosen: »zwei Stunden Mittagessen« (S. 55) – eine Raddatz verhasste Mahlzeit, die in seinem eigenen, delikat ritualisierten Tagesablauf niemals vorkommt, ja, die er nach eigenem Bekunden (zuletzt im großen Stil-Interview in der FAZ) nicht einmal kennt.

Länge des Buches: ca. 142.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Pyrenäenreise im Herbst. Auf den Spuren Kurt Tucholskys. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985. S. 3–122 (= 120 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Pyrenäenreise im Herbst. Auf den Spuren Kurt Tucholskys. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 7–75 (= 69 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 76
Wilhelm Genazino: »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« (1996)

Berlin, 12. August 2013, 10:43 | von Cetrois

Eigentlich hätte ich gerne mit der Rezension von Paul Watzlawicks »Anleitung zum Unglücklichsein« begonnen, hätte ich doch mit der Anekdote aufwarten können, dass uns die Verfilmung dieses Werks vor unserer damals noch kölnischen Haustür einmal einen autofreien Sonntag beschert hat, dazu die gelangweilte, ponchotragende Johanna Wokalek und einen schlappohrigen Filmhund, der stundenlang an der Aufgabe scheiterte, einen Zebrastreifen zu überqueren.

Allerdings wurde Watzlawicks Ratgeber im 100-Seiten-Projekt schon die gebührende Aufmerksamkeit zuteil und außerdem habe ich weder das Buch gelesen noch den Film gesehen. Gesehen habe ich am Wochenende nach Jahren mal wieder Christopher Nolans »Memento«. Anders als Hauptdarsteller Guy Pearce tätowiert sich W. in W. Genazinos Briefroman »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« die Erinnerungen nicht mit Kugelschreibertinte auf die Brust, sondern schreibt sie, vermutlich mit Füllfederhaltertinte, an seine Freunde, die mit ihm alt geworden sind.

Genazino sind einige Inkonsistenzen anzukreiden: Zum Beispiel schildert W., wie der Kellner eines italienischen Cafés jedes Mal zusammenzuckt, wenn seine Gäste »Fleischwurst mit Cappuccino und Rippchen mit Kakao« bestellen (S. 36) – selbst dieses Mindestmaß an kulinarischem Feingefühl darf man jedoch vom Kellner eines italienischen Cafés, das allen Ernstes Fleischwurst und Rippchen führt, plausiblerweise gar nicht erst erwarten.

Davon abgesehen sind Genazino aber eine Vielzahl genauer und oft anrührender Beobachtungen gelungen: Vom Wind etwa, der unter das Leichentuch eines Eisenbahnselbstmörders fährt, der wie so viele den Tod auf der Strecke von Bonn nach Köln gefunden hat, auf der ich damals, erinnere ich mich jetzt, pendelnd zum ersten Mal »Das Licht brennt ein Loch in den Tag« las.

Länge des Buches: ca. 132.000 Zeichen. – Ausgaben:

Wilhelm Genazino: Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996. S. 5–126 (= 122 Textseiten).

Wilhelm Genazino: Das Licht brennt ein Loch in den Tag. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2000.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Kaffeehaus des Monats (Teil 79)

sine loco, 2. August 2013, 09:14 | von Cetrois

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Berlin-Prenzlauer Berg, im »Café CK« in der Marienburger Straße, künstlerisch wie stets ein äußerst unbedeutendes Foto, sry

Berlin-Prenzlauer Berg
Das »Café CK« in der Marienburger Straße.

(Die Betreiber des »Café CK« sind zweifellos glühende Anhänger jener Third Wave-Bewegung, gegen die Willy Andraschko neulich in der FAZ den Espresso und das Kaffeehaus – als demokratischen Tempel öster­reichisch-italienischen Lebensgefühls – zu verteidigen versucht hat. Folgerichtig wird im CK der sortenreine Kaffee im Dekanter und mit einem Whiskeyglas serviert, ohne Milch oder gar Zucker. Wo sie für Cappuccino und dergleichen unerlässlich ist, wird Milch hier natürlich trotzdem zu schäumender Perfektion getrieben und stammt aus dem Biosphären­reservat mit dem schönen Namen Schorfheide-Chorin. Im Allgemeinen aber scheint die Milch in diesen Kreisen einen etwas zweifelhaften Ruf zu genießen. Als ich bezahlen wollte, war der Barista noch im Gespräch mit einer fröhlichen Tresensteherin begriffen, die dankend auf Milch verzichtete, nicht nur dieses eine Mal, sondern seit Januar schon, »just for detox, you know?« – sprach’s und ging laktosefrei nach draußen, um sich eine Zigarette anzuzünden.)