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100-Seiten-Bücher – Teil 80
Ilija Trojanow: »Der überflüssige Mensch« (2013)

Solingen, 8. Oktober 2013, 17:10 | von Bonaventura

Es ist natürlich eine hübsche Sache, dass Ilija Trojanow, auf dessen Anwesenheit nach der Auffassung US-amerikanischen Sicherheitsorgane beruhigt verzichtet werden kann, kurz zuvor ein Buch mit dem Titel »Der überflüssige Mensch« veröffentlicht hat. Allerdings geht es in dem Büchlein weniger um den Autor als um die Frage, wie der Reichtum in der Welt gerechterweise zu verteilen sei.

»Gerechtigkeit«, sagt Sancho Pansa, »ist etwas so Gutes, dass sie sogar unter den Spitzbuben notwendig ist.« Kein Wunder also, dass die Verteilungsgerechtigkeit – eines der Hauptprobleme jeder Räuberbande, also auch der, deren Mitglieder wir sind – seit 2.500 Jahren auf der Agenda der kleinen und großen Philosophen zu finden ist. Eigentlich sollte dies Problem in der sogenannten christlich-abendländischen Kultur allein aufgrund der Tatsache, dass am Grunde der christlichen Ideologie eine solide Verachtung jeglichen weltlichen Besitzes zu finden ist, durch die umfassende Armut aller ihrer Mitglieder gelöst sein. Ist es aber nicht.

Da das Christentum unserer Räuberbande also nicht zur inneren und äußeren Gerechtigkeit verholfen hat, hat vor etwa 150 Jahren ein Mann aus Trier eine Theorie zur Umverteilung allen Kapitals entwickelt. Auf der Basis dieser Theorie wurde vor etwa hundert Jahren ein praktischer Versuch gestartet, der, wahrscheinlich bedingt durch anthropologische Schwächen der Theorie, musterhaft gescheitert ist. Seitdem ist der Name des Trierers zum Tabuwort und kein neuer Großversuch einer Theorie der Verteilungsgerechtigkeit bekannt geworden. Und wo es keine Lösung gibt, bleibt nur das Klagen. Das tut Trojanow denn auch.

(Ausführliche Besprechung des Buches hier.)

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ilija Trojanow: Der überflüssige Mensch. Unruhe bewahren. St. Pölten: Residenz 2013.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 77
Philip Roth: »Die Brust« (1972)

Solingen, 14. August 2013, 18:49 | von Bonaventura

In den frühen Morgenstunden des 18. Februar 1971 erleidet der New Yorker Literaturprofessor David Kepesh in seiner Wohnung einen körperlichen Zusammenbruch und wird ohnmächtig. Als er im Krankenhaus wieder erwacht, hat er sein Sehvermögen eingebüßt und kann sich nicht mehr bewegen. Ihm wird mitgeteilt, er habe sich in eine 155 Pfund schwere, weibliche Brust verwandelt. Dabei bleibt’s. Handlung in einem wesentlichen Sinn hat die Erzählung weiter keine; Kepesh verbringt seine Tage als Brust zwischen Erinnerungen, Gesprächen, Selbstbespiegelungen und erotischen Fantasien.

»Die Brust« ist einerseits ein selbstironischer und leicht satirischer Erguss über die immerwährende Präsenz der weiblichen Brust in der männlichen Psyche, andererseits ein hübsches Beispiel für Literatur aus Literatur. Die Erzählung speist sich im Wesentlichen aus drei literarischen Quellen: Franz Kafkas »Die Verwandlung«, Nikolai Gogols »Die Nase« (die Kepesh als Professor regelmäßig in seinen Kursen behandelt) und Jonathan Swifts »Gullivers Reisen« (speziell der Reise nach Brobdingnag). Damit das auch der US-amerikanische Leser begreift, hat es Roth freundlicherweise gleich mit ins Buch hineingeschrieben. Irgendjemand muss halt gebildet sein.

Die in der »Brust« erfundene Figur Kepesh hat sich dann noch als sehr fruchtbar erwiesen: Roth hat zwei weitere, deutlich umfangreichere Bücher – »Der Professor der Begierde« (1977) und »Das sterbende Tier« (2001) – aus der narzisstischen Gedankenwelt des Professors erzeugen können.

(Gesamtbesprechung der Kepesh-Trilogie hier.)

Länge des Buches: ca. 93.000 Zeichen (engl.) (?). – Ausgaben:

Philip Roth: Die Brust. Aus dem Amerikanischen von Kai Molvig. München; Wien: Hanser 1979.

Philip Roth: Die Brust. Deutsch von Kai Molvig. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2004.

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100-Seiten-Bücher – Teil 63
Stefan Zweig: »Schachnovelle« (1942)

Solingen, 30. April 2013, 19:23 | von Bonaventura

Besonders unter jenen, die den Springer gewöhnlich Pferd nennen, hält sich anscheinend hartnäckig das Gerücht, es handele sich bei Stefan Zweigs »Die Schachnovelle« um eine überzeugende literarische Gestaltung des leidenschaftlichen Schachspielers und seiner Psychologie. Geadelt wird dieses vorgebliche psychologische Kabinettstückchen durch die politische Kulisse, vor der es vorgeführt wird und dessen Opfer nicht nur jener geheimnisvolle Dr. B., sondern auch der Autor selbst war, der über der Veröffentlichung des Stücks im Exil verstorben ist.

Schaut man sich diese Kulisse auch nur für einen Moment kritisch an, so wird man sich kaum dem Urteil entziehen können, dass es sich bei diesem Hundertseiter um eine der am schlechtesten erfundenen Fabeln der sogenannten Weltliteratur handelt. Statt Dr. B. in einen Kerker zu werfen, ihn physischer Folter auszusetzen und ihn schließlich in einem KZ verkommen zu lassen, quartieren ihn die Nazis in einem Hotelzimmer ein, erlauben ihm den Diebstahl und die Lektüre einer Sammlung von Schachpartien, um ihn schließlich als Zeugen ihrer grausamen Praktiken ins Ausland reisen zu lassen.

Viel schlimmer aber ist die Küchenpsychologie des Schachspielers: Nicht nur beweist Stefan Zweig bei der Darstellung Dr. B.s, dass er keinen Schimmer hat, welche Leistung tatsächlich hinter dem Konkurrieren mit der schachlichen Weltspitze steckt, sondern er schreibt dem angeblichen Weltmeister Czentovic auch noch eine Schwäche der Vorstellungskraft zu, die es ihm faktisch unmöglich machen würde, auch nur eine einzige Variante zu berechnen, geschweige denn eine ganze Partie zu spielen.

Aber der ganze Rest ist sicherlich großartig!

(Langfassung dieses Textes hier.)

Länge des Buches: ca. 122.000 Zeichen. – Ausgaben:

Stefan Zweig: Schachnovelle. [Frankfurt/M.:] S. Fischer 1961. S. 5–95 (= 91 Textseiten).

Stefan Zweig: Schachnovelle. [Originalfassung Buenos Aires 1942 in der Reihe »Bibliothek der Erstausgaben«.] München: dtv 2013.

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100-Seiten-Bücher – Teil 36
Alan Bennett: »Die souveräne Leserin« (2007)

Solingen, 22. September 2012, 10:13 | von Bonaventura

Mit diesem Büchlein hatte der auf Kurzprosa spezialisierte englische Erfolgsautor, Schauspieler und Regisseur im Jahr 2008 seinen Durchbruch in Deutschland. Der Originaltitel »The Uncommon Reader« ist eine ironische Anspielung auf Virginia Woolfs in England sehr bekannte Essaysammlungen »The Common Reader«, deren Titel wiederum auf eine Wendung Dr. Johnsons zurückgehen.

Erzählt wird die Geschichte, wie Elizabeth II., Queen of England, eines Tages bei der Suche nach ihren Corgis auf der Rückseite von Buckingham Palace den Bücherbus der öffentlichen Bibliothek vorfindet, der dort die Bediensteten des Palastes versorgt. Volksnah, wie sie ist, betritt sie den Bus, trifft dort auf einen ihrer Küchenjungen und entleiht, weil sie sich an den Namen der Autorin erinnert, die sie in den Adelsstand erhoben hat, ein Buch von Ivy Compton-Burnett.

Das ist der Beginn ihrer Karriere als souveräne Leserin, die sich immer weniger für ihre repräsentativen Pflichten und dafür zunehmend für Bücher interessiert. Der Küchenjunge Hutchings wird königlicher Literaturreferent und die ganze Geschichte gipfelt in einer hübschen Pointe, die hier natürlich nicht verraten werden soll.

Was das Buch reizvoll macht, ist nicht nur das ironische und dennoch genaue Porträt der in sich abgeschlossenen Welt, in der die Königin mit ihrem Ehemann lebt, sondern auch, dass es ein Buch eines Lesers für Leser ist, das das Lesen als den Königsweg zur Freiheit weist.

Länge des Buches: ca. 175.000 Zeichen (engl. 144.000). – Ausgaben:

Alan Bennett: Die souveräne Leserin. Aus dem Engl. von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach 2008.

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100-Seiten-Bücher – Teil 34
Hans Blumenberg: »Schiffbruch mit Zuschauer« (1979)

Solingen, 11. September 2012, 21:18 | von Bonaventura

Seit Ende der 50er-Jahre hat Hans Blumenberg, wohl unter direktem Einfluss von Ernst Robert Curtius’ Topos-Konzept, seine Metaphoro­logie sowohl durch systematische Sammlung von Paradigmen als auch theoretisch entwickelt. Allerdings muss ihm bald vor dem sich abzeich­nenden Umfang des Projektes gegraut haben, denn Ende der 70er-Jahre plant er zusammen mit dem Suhrkamp Verlag, die Metaphoro­logie zuerst peu à peu in einzelnen Taschenbüchern erscheinen zu lassen und diese Teile erst nachträglich zusammenzuführen.

So erschien 1979 als erster Teil dieses Projekts das Bändchen »Schiffbruch mit Zuschauer«, das die von Lukrez geprägte Metapher von dem am sicheren Land stehenden stoischen Betrachter des Schiffbruchs der anderen im Meer der Welt durch diverse Wandlungen hindurch bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt. Ergänzt wird der historische Gang um einen Essay, der so etwas wie die Grundlegung einer Metaphorologie als Theorie der Unbegrifflichkeit liefert. Allein die verständige Lektüre dieser knapp 20 Seiten erspart einem die ganzer Kompendien.

»Schiffbruch mit Zuschauer« war kein Erfolg, weswegen Blumenberg den Plan einer systematischen Fortsetzung aufatmend fallen lassen konnte. Er hat dann den gesammelten Stoff zu zahlreichen Zeitungsbeiträgen verarbeitet, die Suhrkamp wiederum zu ganz wundervollen Bändchen zusammengestellt hat. Und auf diese Weise wurde Hans Blumenberg zu einem Meister des 100-Seiten-Buchs.

Länge des Buches: ca. 222.500 Zeichen. – Ausgaben:

Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979.

Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997.

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100-Seiten-Bücher – Teil 15
Arno Schmidt: »Schwarze Spiegel« (1951)

Solingen, 9. September 2011, 02:57 | von Bonaventura

Auf den ersten Blick ist Arno Schmidts erster Zukunftsroman ein Musterbeispiel für einen Hundertseiter. Doch könnte man Bedenken erheben: Zum einen hat Schmidt von seinem Roman »Das steinerne Herz« behauptet, er sei aufgrund der »Dehydrierung« des Textes eigentlich »ein Roman von 1200 Seiten« (was bei knapp 300 Druck­seiten immerhin einem Faktor größer 4 entspricht), eine Rechnung, die man getrost auch für »Schwarze Spiegel« aufmachen kann. Zum anderen könnte die Zugehörigkeit von »Schwarze Spiegel« zur Trilogie »Nobodaddy’s Kinder« zur Annahme verleiten, dass auch dieses Buch wie die beiden anderen einen dritten Teil haben müsste.

Doch halten wir uns ans Augenscheinliche: Erzählt werden die Erleb­nisse des beinahe letzten Menschen, nachdem der atomare Dritte Weltkrieg Mitte der 50er Jahre die Welt zerstört hat. Fünf Jahre nach der Katastrophe kommt der namenlose Ich-Erzähler nach Cordingen in der Lüneburger Heide und beschließt, dort eine Hütte im Wald zu bauen. Holz liefert ein nahegelegenes Sägewerk, Vorräte ein englisches Armeedepot. Über Bau und Ausstattung der Hütte vergeht der Sommer. Der zweite Teil setzt zwei Jahre später ein, als sich zum Erzähler die letzte Frau gesellt: Lisa. Die beiden verbringen einige Wochen miteinander, doch dann bricht Lisa wieder auf, da sie die Sesshaftigkeit nicht aushält. Ein dritter Teil fehlt, wie gesagt: Lisa kehrt nicht zurück, die Menschheit wird nicht fortgesetzt.

Diese idyllische Dystopie mit Anklängen an »Robinson Crusoe« und Coopers »Lederstrumpf« bietet einen hervorragenden Einstieg in Schmidts erzählerisches Frühwerk.

Länge des Buches: ca. 149.000 Zeichen. – Ausgaben:

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel. In: Brand’s Haide. Zwei Erzählungen. Reinbek: Rowohlt 1951. S. 153–259. (= 107 Textseiten)

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel. Mit einem Kommentar von Oliver Jahn. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006.

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100-Seiten-Bücher – Teil 13
Arthur Schnitzler: »Traumnovelle« (1925)

Solingen, 3. September 2011, 14:16 | von Bonaventura

Diese etwas lang geratene Erzählung von 1925 kam 1999 noch einmal zu unerwarteter Prominenz, als Stanley Kubricks »Eyes Wide Shut« in die Kinos kam. Der Film versetzt die Handlung zwar von Wien nach New York und verlegt sie vom Anfang ans Ende des Jahrhunderts, erweist sich aber sonst als eine behutsame und minutiöse Literatur­verfilmung.

Erzählt werden einige Tage aus dem Leben des 35-jährigen Wiener Arztes Fridolin, der nach dem Geständnis seiner Gattin Albertine, sie habe sich im letzten Urlaub haltlos in einen jungen Mann verliebt, mit diesem aber nicht einmal ein Wort gewechselt, aus der Bahn seiner alltäglichen Routine geworfen wird. Er stürzt sich noch in derselben Nacht in eine sich steigernde Reihe erotischer Abenteuer, die darin gipfelt, dass er sich in eine geheime Orgie einschleicht, dort aber rasch enttarnt und aus dem Haus geworfen wird. Nach Hause zurückgekehrt, verwirrt ihn die Nacherzählung eines Traums seiner Frau noch tiefer. Am nächsten Tag vollzieht Fridolin seinen Weg aus der Nacht zuvor noch einmal nach, ohne die angestrebte Erlösung von seiner inneren Anspannung finden zu können. Erst seine erneute nächtliche Heim­kunft bringt eine Wendung der Krise.

Obwohl die Erzählung beim Erscheinen von der Kritik zumeist freundlich aufgenommen wurde, war sie kein bedeutender Erfolg. Erst im Rück­blick erweist sich diese Erzählung von der Gefährdung der Ehe durch die unterminierende Macht der Sexualität als überraschend klarsichtig.

Länge des Buches: ca. 167.000 Zeichen. – Ausgaben:

Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Titelbild von Hans Meid, in Holz geschnitten von Oskar Bangemann. Berlin: S. Fischer Verlag 1926.

Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Stuttgart: Reclam 2006.

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100-Seiten-Bücher – Teil 11
Thomas Mann: »Der Tod in Venedig« (1912)

Solingen, 12. August 2011, 07:04 | von Bonaventura

Der ältliche Schriftsteller Gustav Aschenbach, nobilitierter Dichter und Urenkel der deutschen Klassik, lässt sich für einen Moment gehen und weicht einer Schreibblockade aus, indem er in Urlaub fährt. In Venedig angekommen, verliebt er sich in einen 14-jährigen polnischen Knaben. Zwar versucht er dem Wieland’schen Rezept für Verliebte zu folgen und so rasch wie möglich fortzulaufen, auch eine Sublimierung ins Geistig-Platonische wird probiert, letztlich hilft aber nichts gegen den einmal ausgebrochenen Mangel an »Zucht« und Aschenbach bleibt auf der Strecke: Mit einem letzten Blick auf das Rückenstück des göttlichen Knaben erliegt er der Cholera, die er sich im unmoralischengesunden Klima Venedigs zugezogen hat.

Das Erstaunliche an den Texten Thomas Manns ist immer wieder, dass es ihm gelingt, aus dem dünnen Fädchen seines persönlichen Erlebens und Empfindens Erzählungen von bemerkenswert artifizieller Dichte zu stricken. »Der Tod in Venedig« ist, was Ornatus, Motivik, Vorausdeu­tung, Spiegelungen und Ringstrukturen angeht, eine Perle traditionel­ler Erzählkunst. Der Wechsel von ausgewogensten Satzungeheuern und kürzesten Sentenzen verleiht dem Erzähler – bei aller inhaltlichen Schwülstigkeit und Überfrachtung des Erzählten – gerade genügend ironische Distanz, um ihn nicht unerträglich werden zu lassen. Wenn irgend ein deutscher Schriftsteller mit traumwandlerischer Sicherheit auf der Schneide eines Rasiermessers hat tanzen können, dann war es wohl Thomas Mann.

Länge des Buches: ca. 170.000 Zeichen. – Ausgaben:

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. München: Hyperion-Verlag Hans von Weber 1912.

Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Novelle. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2007.

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100-Seiten-Bücher – Teil 9
Fritz Mauthner: »Der letzte Tod des Gautama Buddha« (1913)

Solingen, 26. Juli 2011, 09:09 | von Bonaventura

Fritz Mauthner (1849–1923) dürfte sich hart an der Grenze des kultu­rellen Gedächtnisses bewegen. Während meines Studiums waren seine »Beiträge zu einer Kritik der Sprache« noch viel besprochen, wenn auch wenig gelesen. Vom Dichter Fritz Mauthner wollte man aber schon damals nichts mehr wissen. Umso mehr war ich überrascht, als mir jetzt eine Neuausgabe seiner Erzählung um den Tod Gautama Buddhas in die Hände fiel.

Der 1913 erstmals erschienene Text ist eine direkte Reaktion auf die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzende Popularisie­rung buddhistischen Gedankengutes in Europa. Erzählt werden die letzten Tage Gautama Buddhas, stofflich weitgehend orientiert an den Legenden. Inhaltlich allerdings nimmt Mauthner, ähnlich wie später auch Hermann Hesse in seinem »Siddhartha«, eine deutlich distan­zierte Haltung zu der offenbar als zu pessimistisch empfundenen Lehre ein. Mauthner lässt seinen Buddha nicht nur die Abkehr von allem Weltlichen hin zu einer Bewunderung der Schönheit der Welt und des Lebens überwinden, er erfindet auch eine letzte Lehrpredigt Buddhas hinzu, die sogenannte Schmetterlingspredigt, in der die bunten Flattermänner zum großen Paradigma einer lebensbejahenden Existenz ohne Wollen und Denken geraten.

Etwas spannender als diese religiöse Gymnastik gerät die Beschrei­bung der Jünger des Erleuchteten. Während sich Buddha um letzte Einsichten und die Überwindung des Sterbens bemüht, finden unter seinen Schülern die ersten Verteilungskämpfe um Macht und Einfluss in der zukünftigen buddhistischen Kirche statt. Hier findet sich Mauthners eigentliche Absage an den Buddhismus: Die Lehre Buddhas ist disku­tabel, der kirchlich organisierte Buddhismus ist es nicht.

Sprachlich dürfte die Erzählung ebenso wie Hesses Pendant heute als etwas schwülstig empfunden werden, ansonsten ist sie ein nettes, kleines Schmuckstück für alle, die sich ein wenig für Buddhismus oder Fritz Mauthner interessieren.

Länge des Buches: ca. 127.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. München; Leipzig: Müller 1913.

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. Leipzig: Superbia-Verlag 2005.

Fritz Mauthner: Der letzte Tod des Gautama Buddha. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ludger Lütkehaus. Lengwil-Oberhofen: Libelle 2010. S. 5–110. (= 106 Textseiten)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)