100-Seiten-Bücher – Teil 75
Martin Walser: »Ein fliehendes Pferd« (1978)

Düsseldorf, 9. August 2013, 08:12 | von Luisa

Irgendwann wollte ich mal ein Buch von Walser lesen und weil Kritiker geschworen hatten, dass »Ein fliehendes Pferd« sein bestes sei und ewig bleiben werde, kaufte ich das. Es hatte bloß 151 Seiten, ein klarer Vorzug, und nach der Lektüre habe ich dann guten Gewissens mit Walser abgeschlossen und jedes Jahr den neuen Walser an mir vorbei ziehen lassen, bis es mich jetzt zum ersten Mal an den Bodensee verschlug, nach Wasserburg. Dort hat der Arzt, mit dem ich reiste, als Kind sehr eindrucksvolle Ferien verbracht, auf dem Grundstück des berühmten Professors Felix Hoppe-Seyler, der gegen 1860 die Physiologische Chemie erfand und sich direkt am See ein großes Haus hingebaut hatte, das lange in der Familie blieb. Zu beiden Seiten des Grundstücktors pflanzte er Mammutbäume, die nach und nach so riesig wurden, wie der Name versprach.

Während der Arzt mit dem Fahrrad in Wasserburg herum fuhr, um die Bäume zu finden, habe ich »Ein springender Brunnen« zu lesen begonnen. Darin fand ich die Mammutbäume schon auf Seite 20, denn der kleine Martin Walser, der im Buch Johann heißt, trifft einen Wanderfotografen, der ihn genau vor die Hoppe-Seyler-Gartenmauer dirigiert und ein Foto von ihm und den Mammutbäumen macht. Gleich auf der nächsten Seite erscheint dann auch das alte Fräulein Hoppe-Seyler, die Tochter des Professors, die sich jedes Jahr vom Gastwirt und Kohlenhändler Walser die Briketts liefern lässt, zehn, zwölf Zentner, mit dem Handwagen herangeschoben, und der kleine Martin muss schieben helfen. Da geht er dann natürlich jedes Mal staunend zwischen den Mammutbäumen durch, von denen manche Wasserburger behaupten, sie stammen aus Kalifornien, andere dagegen, der Professor habe sie aus Sumatra mitgebracht, und der kleine Martin überlegt, wem er glauben soll.

Als ich gerade mit dem zweiten Kapitel fertig bin, kommt der Arzt zurück und hat die Bäume gefunden. Sie anzuschauen ist wunderbar, ihnen im Buch zu begegnen auch, aber noch wunderbarer ist es, von Helmer Gierers Hermine zu lesen, die »ohne sich etwas zu vergeben« bei Fräulein Hoppe-Seyler putzt. Ihrer Meinung nach stammen die Bäume aus Sumatra und fertig. Einmal ist das Fräulein Hoppe-Seyler nicht daheim, als die Briketts angefahren werden, und da kümmert sich natürlich Helmer Gierers Hermine darum. Vorsichtig, damit sie nicht brechen und es möglichst wenig staubt, müssen die Walsers sie in die Kelleröffnung schütten, deshalb ruft Hermine hofele-hofele aus dem Keller herauf, das heißt sachte-sachte.

Dieses hofele-hofele gefiel mir so gut, dass ich, wieder zuhause, »Ein fliehendes Pferd« aus dem Regal zog und ein bisschen darin blätterte, und ja, zweifellos, das Pferd mag rennen, wie es will, hinter hofele-hofele bleibt es ewig zurück.

Länge des Buches: ca. 169.000 Zeichen. – Ausgaben:

Martin Walser: Ein fliehendes Pferd. Novelle. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Einen Kommentar schreiben