Aus dem Leben der Sixtina

Leipzig, 4. November 2011, 06:56 | von Paco

In Dresden werden ja gerade die beiden berüchtigsten Raffael-Madonnen gegenübergestellt (Semperbau am Zwinger, noch bis 8. Januar 2012). Darüber gibt es einen schönen FAZ-Artikel von Andreas Platthaus, den ich mit etwas Verspätung eben erst gelesen habe.

Ich war jetzt selbst noch nicht in der Ausstellung, aber mir fiel beim Lesen sofort eine Episode aus dem Leben der einen Madonna ein, eine Episode, die Mitte der Achtzigerjahre von dem lettischen Künstler Mihails Korņeckis (1926–2005) nachträglich gemalt wurde – jetzt bitte nicht erschrecken:

Gerettete Madonna (1984-1985); (C) LNMM, Riga

Das Bild aus dem LNMM in Riga trägt den Titel »Gerettete Madon­na« (»Izglābtā Madonna«, 1984/85, 156×180 cm) und ist natürlich gemalte Kulturpolitik (siehe Matthias‘ Kommentar unten). Die Ge­schichte, die mit dieser Figurenanordnung erzählt werden soll, geht ungefähr so (mit Dank an Wolfgang Stärke):

Zunächst wird der Blick sofort auf das Bild im Bild gelenkt, auf Raffaels »Sixtinische Madonna«, die normalerweise in der Dresdner Gemälde­galerie Alte Meister hängt. Die dargestellte Szene zeigt allerdings, wie sie bei Kriegsende von der Roten Armee in sagen-wir-mal Sicherheit gebracht wird bzw. worden ist (zurück nach Dresden ging sie erst nach Stalins Tod Mitte der 50er-Jahre).

Der sowjetlettische Künstler hat den Raffael nun also auf seine eigene Leinwand kopiert, was ihm auch mehr oder weniger gut gelungen ist. Vor dieser Grundierung findet dann die eigentliche Story statt, die Raffaels Dreieckskomposition spiegelt:

Zwei russische Soldaten bewachen das sichergestellte Großgemälde samt einer (ebenfalls uniformierten, aber kittelbewehrten) Expertin, die direkt von der Heilige Barbara beschützt zu werden scheint, die aus dem Raffaelgemälde heraus direkt auf sie herabblickt. Die Kittelfrau wiederum hält eine Lupe in der Hand und scheint mit leichtem Silberblick mit dem linken Putto kommunizieren zu wollen. Die Linie von ihren Augen über die Lupe endet allerdings im Fußbereich des Papstes.

Korņeckis scheint überhaupt ein paar Probleme mit der Perspektivität zu haben: Die MP des rechten Soldaten (eine PPSch-41) ist recht kühn verzogen, das ist dann fast sozialistischer Unrealismus oder, bei wohlwollender Interpretation, eine Art Reprise des Manierismus.

Der linke Soldat, ein am Kopf verletzter und überhaupt etwas ramponiert aussehender Muschik, stützt sich auf ein mit einem Bajonett versehenes Mosin-Nagant, die Standardwaffe der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Der abwesende Blick des abgekämpften Kriegers lässt vermuten, dass er klischeemäßig eher weniger an Renaissancekunst interessiert ist, während sein jüngerer Kamerad neugierig zur Sixtusfigur auf Raffaels Gemälde aufschaut.

Das vielgestaltige Blickekonzert, mit dem das sowjetlettische Gemälde seine Geschichte erzählt, ist überhaupt sicher der interessanteste Aspekt hier. Und ansonsten ist es erst mal beruhigend zu wissen, dass im Moment wahrscheinlich erst mal keine schussbereiten Kriegsmänner mehr vor Raffaels Madonna stehen.

(Image © LNMM. Thanks to Gundega Cēbere!)
 

4 Reaktionen zu “Aus dem Leben der Sixtina”

  1. Matthias

    Ohne das Gemälde selbst in natura gesehen zu haben, halte ich es für sicher, zu behaupten, daß ihr eine Auseinandersetzung mit der deutsch-sowjetischen Kulturpolitik zugrunde liegt, die mit der Rückgabe einiger bedeutsamer Gemälde – darunter auch Raffaels Sistina – an Dresden 1955 internationales Aufsehen erregte. Die Sowjets hatten während des Krieges etliche Kulturgüter aus dem zerbombten Dresden mitgenommen, bis nach Stalins Tod entschieden wurde, sie den Deutschen zurückzugeben. Die warfen ihnen vor, der Sixtinischen Madonna schwere Schäden beigeführt zu haben; die Sowjets bestritten dies vehement. Schließlich habe man das Gemälde aus feuchten und kalten Lagerstollen im untergegangenen Reich gerettet (das war der tatsächliche Begriff). Die diplomatischen Bemühungen der UdSSR waren damit im Falle der Sistina fehlgeschlagen.

    Jahrzehnte später gibt die Forschung allerdings den Deutschen recht und favorisiert ein Gutachten, das die schlechten Lagerbedingungen bei Kriegsende bestreitet und somit indirekt von Kunstraub spricht.

  2. pollo

    Offenbar wollte Maler K. Raffaels Trio nicht nur spiegeln, sondern in einer zeitgemäßen Fassung darbieten: der struppige alte Soldat entspricht dem Papst, der junge ist fast so schön wie Barbara, die moderne Sowjetfrau jedoch ist keine schwebende Jungfrau, sondern eine fähige Kantinenchefin? Kunstwissenschaftlerin? mit Kistenhaftung, und sie trägt auch nicht das Kind auf dem Arm, sondern betrachtet den Putto kühl aus der Distanz. Mit den Blickrichtungen hat es nicht geklappt, aber da das Bild sowieso scheußlich ist, macht es nix.

  3. jeeves

    Nee, das sind drei russische Kunststudenten, die versuchen mit den Mitteln, die Ihnen zur Verfügung stehen, das Bild nachzustellen. Vom Papa oder Opa haben sie noch die Kriegsklamotten, reichlich Getränke gibt’s auch, weil das Mädel (vorn in der Mitte) ’nen SChwippschwager mit ’nem Schnappskiosk hat, und los geht’s. Ich finde, den Umständen gemäß hat der Maler die Sache but gemacht: Der Bärtige entspricht dem anderen Bärtigen, der glattrasierte Jüngling rechts der Dame rechts auf dem Bild und in der Mitte haben beide Mädels was in der Hand. Na, ist DAS nicht toll geglückt? DAS nenn‘ ich Kunst mit Bedeutung! DAS wischt so schnell keine Putzfrau weg. DAS versteht man. DAS ist noch Handwerk! War nicht „Kunst“ einst simples aber gutes Handwerk? Und haben nicht erst neuere geldgeile imperialistische Händler das Vollmalen von viereckigen Leinwänden zum Handelsobjekt erniedrigt? Ganz zu schweigen von den simplen lustigen Geistesblitzen heutiger „Künstler“. Nee, DAS da oben ist noch RICHTIG gemalt. Mit der Hand. Mit Sinn & Verstand. Man muss nicht seiten- ach was: broschürenlang erklären, „was der Künstler uns damit sagen will“. Nein, Bazon Brock, bleiben Sie sitzen, es muss nicht sein, neinm sehr nett, aber nein, danke.
    .

  4. Ron

    Interessant !

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